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connection Spirit ist eine Zeitschrift für reife Spiritualität. Sie verbindet die Aufklärung mit der Mystik, die Spiritualität mit der Ökologie, die Erotik und die Wissenschaft mit der Religion und den Humor mit der Weisheit, denn alles steht miteinander in Verbindung. connection wurde 1985 gegründet und ist heute die älteste spirituelle Zeitschrift auf deutsch.

Rettende Umarmung

Details

Mutter mit Kind

Die Kunst der Babymassage

Zwei Frühchen in einem Krankenhaus, in zwei separaten Brutkästen. Das eine war schwach – zu schwach, um zu überleben, so schien es. Gegen alle Regeln setzte die Krankenschwester die beiden zusammen. Dann legte das stärkere Baby seinen Arm um das schwächere, woraufhin dessen Herzschlag sich stabilisierte und es überlebte. Diese lebensrettende Kraft der liebevollen Berührung lehrt Martina Hügli Boon in ihren Baby-Massagekursen. Es geht ihr dabei um eine Berührung, die weniger Technik ist als Seinsweise. Auch Erwachsenen tut eine solche absichtslose Berührung gut

Kyrie und Brielle Jackson kamen 1995 in Worcester (USA) zur Welt. Die zu früh geborenen Zwillinge lagen erst in separaten Brutkästen. Das eine Baby war schwächer als das andere, und man dachte, dass es nicht überleben würde. Eine Krankenschwester setzte gegen die Regeln des Krankenhauses durch, dass die beiden Kinder zusammen in einen Brutkasten gelegt wurden. Daraufhin schlang das stärkere der beiden Mädchen einen Arm um sein Geschwisterchen. Innerhalb kurzer Zeit stabilisierte sich der Herzschlag und Wärmehaushalt des kleineren Babys. Beide Kinder überlebten und gediehen gut.

Für ein kleines Kind ist es die Liebe der Eltern, was den Unterschied zwischen Leben und Überleben ausmacht

Als ich das Bild zum ersten Mal sah, war ich erschüttert von dem Bild des Frühgeborenen, das seinen kleinen Arm in einer solch gerichteten Bewegung um die Schultern seines Geschwisterchens legen kann. Ich habe dieses Bild inzwischen in Kursen mit jungen Müttern verwendet und bin vielfach seiner enormen emotionalen Wirkung begegnet. Was ist es, das uns so berühren kann an diesem Foto? In Gesprächen mit Kursteilnehmerinnen kam zum Ausdruck, dass sie hier der gewaltigen und unfassbaren Liebe begegnen, mit der Kinder auf die Erde kommen. Sie spürten beim Anschauen des Bildes auch, dass es Liebe ist, die Leben von Überleben scheidet. Außerdem begegneten sie angesichts dieser Kraft und Zärtlichkeit ihren eigenen frühen Verletzungen und Blockaden, die den Strom der Liebe in ihnen selbst behindern und begrenzen.

Beziehung und Versorgung

Die Geburt eines Kindes kann Mütter auf heftige Weise mit ihren Emotionen konfrontieren. Die Gegenwart eines Neugeborenen, seine Würde, seine Verletzlichkeit und auch das Vertrauen, das in seinem aus der Ferne schauenden Blick liegt, dies alles lässt ein tiefes Verlangen wach werden nach Nähe und dem freien Ausdruck der Liebe für dieses Kind. Auch die eigenen Beschränkungen und Verhinderungen werden hierbei gleichsam unter einem Vergrößerungsglas wahrgenommen. Oft verstecken junge Mütter diese emotionalen Stürme notdürftig hinter der Versorgungspflicht für das hilfsbedürftige kleine Wesen in ihrer Obhut. Die Pflege eines Babys ist anspruchsvoll und zeitraubend. Viele Frauen tun ihr Bestes, um eine gute, sorgsame Mutter zu sein und sich in dieser Rolle vor sich selbst und der Welt zu beweisen. Dabei folgen sie einem tief eingeprägten, mehr oder weniger klischeehaften Bild, wie eine Mutter zu sein und wie sie sich zu verhalten hat. Befreiend kann es hier sein, die eigenen Motivationen und Vorstellungen rund um die Pflege zu erkennen – das Gefühl etwa, nicht gut genug zu sein, verbunden mit einem gewissen Perfektionismus, oder die Idee, als Mutter stets fröhlich, geduldig und offen für das Kind sein zu müssen. Diese Vorstellungen sind auf Dauer zermürbend, weil kein Mensch sie erfüllen kann.

Mutter mit Kind

Mutter sein

Entwickelt sich die Mütterlichkeit einseitig in eine funktionelle Richtung, ist ein tiefes Gefühl von Mangel und Verlassenheit beim Kind auch bei bester Pflege leider schon angelegt: Ich entnehme dem Kind die Beziehung zu mir, zu dem, wie und wer ich bin. Aus Angst, durch meine eigenen Verletzungen als Mutter nicht tauglich zu sein, verschütte ich den Liebesstrom von Mensch zu Mensch, von Ich zu Ich, der eigentlich immer schon da ist. Wenn ich mich nicht sehen lasse, kann ich jedoch auch mein Kind nicht mit freiem Blick sehen, und der Eindruck von Ungeliebt-Sein entsteht bei dem Kind. Die Einheit zwischen Mutter und Kind ist in der Schwangerschaft noch selbstverständlich. Nach der Geburt wird sie jedoch durch eine Funktionalisierung der Verbindung begrenzt, und mangelnde Geborgenheit ist die Folge.

Hilfreich kann es sein, sich bewusst zu werden, dass von keiner Mutter übermenschliche Qualitäten verlangt werden. Es reicht vollkommen aus, einfach Mensch zu sein und damit in die Wechselwirkung mit dem Kind zu gehen. Schon wenn ich wage, vor mir selbst und meinem Kind zuzugeben, dass ich mich fürchte vor der Gewalt der Emotionen, denen ich hier begegne, ist die Beziehung wieder im Fluss.

Babymassage – mehr Seinsweise als Technik

Babymassage sollte nicht eine weitere Technik sein, die Mütter pflichtgetreu anwenden müssen, damit ihr Kind gut gedeiht. Es geht hier vielmehr darum, dass sich Mütter immer wieder und vielleicht auch stets vollständiger erlauben, mit dem Kind einen Raum zu betreten, wo sie zusammen sein dürfen, ohne irgendetwas erfüllen zu müssen. Einen Zustand zuzulassen, wo die Frauen langsam und bedächtig sein dürfen und doch völlig wach. Die alltägliche Hast ein paar Gänge zurückzuschalten und sich so dem inneren Tempo des Kindes anzunähern. Die Berührung hat zunächst kein weiteres Ziel, als einander zu spüren, sich aneinander zu freuen, sich in einem gemeinsamen Seinsraum zu befinden. Diese gegenseitige Begrüßung ist Nahrung für das Kind und auch für die Mutter. Die Heiligkeit des Lebens in einem Körper und das ursprüngliche Heil-Sein der gemeinsamen Verbindung kann hier fühlbar werden. Dies könnte auch eine Heilung der frühen Verletzungen der Mutter bedeuten.

Mutter mit Kind

Indische und europäische Massage

Bei der traditionellen indischen Massage bekommt das Kind täglich eine systematische Massage des ganzen Körpers, ein Durchgang, der die Chance des Kindes, zu überleben, massiv erhöht. Hier im Westen ist die physische Existenz der Säuglinge nicht mehr auf diese Weise bedroht. So geht es in der europäisch geprägten Babymassage eher um das, was uns hier oft fehlt – die Beziehung. Es geht weniger darum, die Massage vollständig auszuführen, als darum, in der Wechselwirkung zu bleiben. Die Mutter nimmt die Reaktionen des Kindes möglichst genau wahr und antwortet auf sie mit dem, was das Kind an diesem Tag, zu diesem Zeitpunkt will. Sie ist darauf ausgerichtet, die wirklichen Bedürfnisse ihres Babys zu spüren, um geistesgegenwärtig handeln zu können. Die Frau lässt dabei auch sich selbst mit ihrer eigenen Befindlichkeit nicht aus. Zu Beginn des Kurses gehen wir in kurzer Besinnung und Selbstwahrnehmung erst einen Moment zu uns »nach Hause«, bevor wir beginnen, das Baby zu massieren. Wir beobachten unseren körperlichen, emotionalen und geistigen Zustand im Hier und Jetzt, unsere Müdigkeit und Wachheit, Offenheit und Verschlossenheit für das, was ist. Dieses Innehalten erlaubt es, den Zustand des Kindes von dem eigenen zu unterscheiden und vermindert so Projektionen. Ohne diesen Schritt bleibt die Wahrnehmung des Kindes auf eingespielte Vorstellungen fixiert: Das Kind kann sich nicht wirklich »bemerkbar« machen.

Tasterfahrung – Trennung und Verbindung

Die Massage hat neben diesem Zulassen eines gemeinsamen Seins-Raumes natürlich auch noch andere Wirkungen: So entwickelt das Kind durch die Tasterfahrung die Wahrnehmung seiner eigenen Körpergrenzen. Albert Soesman schreibt in seinem Buch über die zwölf Sinne, dass ein Kind sich erst hundert Mal an seiner Wiege stoßen muss, bevor es begreift, wo die Wiege aufhört und wo es selber beginnt. Die Nähe und Aufmerksamkeit der Mutter fügt dieser Tasterfahrung etwas Wesentliches hinzu: Das Kind lernt nicht nur, dass es einen von anderen Körpern abgetrennten Körper hat, was eine Erfahrung von Alleinsein, manchmal auch von Einsamkeit nach sich zieht. Das Baby nimmt in der lebendigen Nähe zu seiner Mutter auch wahr, dass diese Trennung nicht absolut ist – wir können uns wieder miteinander verbinden. Es fühlt die Wärme und die liebevollen Bewegungen der Mutter, ist eingebunden in ihren ätherischen Fluss, was Geborgenheit vermittelt. Und es spürt ihre Geistesgegenwart, ihre Ich-Präsenz, wodurch es sich sicher, gesehen und gewürdigt fühlen kann.

Vertrauen in die eigenen Handlungen

Babys können bei der Massage in eine Art Seligkeitszustand geraten

Fast alle Babys zeigen positive Reaktionen auf einen solchen Kontakt, ja sie können bei der Massage in eine Art Seligkeitszustand geraten. Nimmt die Mutter dies wahr, so bestärkt sie das in dem Gefühl, gut genug zu sein, ihrem Kind etwas Gutes geben zu können. Dies festigt ihr Vertrauen in die eigenen Handlungen und Entscheidungen. Was bedeutet, dass Mütter weniger in den Büchern nachschlagen müssen, wie eine Situation gehandhabt werden muss, und mehr ihrer eigenen Wahrnehmung trauen können. Die Grenze zwischen Erziehung auf Basis des Verstandes und Erziehung, die aus dem Herzen gespeist wird, ist haarscharf. Sie ist im Alltagstrubel manchmal schwer zu erkennen, allenfalls an einem Gefühl von leiser Traurigkeit und Farblosigkeit, die einen überkommt, wenn man dem Verstand den Vorrang gibt. Kontakterfahrungen wie die Babymassage mit einem festen Rahmen, wo es vor allem um die gegenseitige Wahrnehmung und Wechselwirkung geht, lassen wieder deutlicher werden, wann das Herz wirklich offen steht.

Die Aufmerksamkeit, die eine Frau der Art und Weise der Berührung ihres Kindes während der Babymassage zukommen lässt, hat also nicht nur eine Auswirkung auf die zehn bis zwanzig Minuten, die eine Babymassage täglich dauern kann. Das zeigt sich auch daran, dass sich ihr Gefühl für die Qualität von Berührungen, für die verschiedenen Arten von Berührung, durch die Erfahrung der Massage verändert. Dies kann dann einfließen in die ungezählten Pflegemomente des Tages, die Sorge für ein Baby, die, wie Emmi Pikler geschrieben hat, dieses wie ein »beständiges warmes Bad« umhüllen kann. Nicht zuletzt bekommen dadurch Mutter und Kind auch tiefere Freude an der Körperpflege, und diese wird von ihrem rein funktionellen Aspekt erlöst.

Berührung und Loslassen

Manchmal sind Frauen eher auf das Geistige ausgerichtet – sie nehmen ihr Kind als geistiges Wesen wohl wahr, haben aber Mühe mit der nach der Geburt auf einmal zu versorgenden Leiblichkeit des Kindes. Ihnen hilft die Babymassage, ihre Liebe mehr zu erden. Müttern, die eher auf den irdischen Aspekt des Daseins ausgerichtet sind, kann die Massage ein Gefühl geben für das Geheimnis des Lebens. In jedem Fall ist die Babymassage eine Seinsweise mit dem Kind, die uns jenseits der Dualität von »irdisch« und »geistig« führen möchte, hin zu der Einheit allen Lebens.

Die Erfahrung tiefen Kontaktes gibt uns auch Kraft, um die – so sehe ich es – tiefste und schwerste Aufgabe der Elternschaft in kleinsten und manchmal gewaltigen Schritten zu vollbringen: das Loslassen des Kindes in sein eigenes Leben. Eine östliche Weisheit legt nahe: »Wenn du dein Kind einmal ganz und gar festgehalten hast, kannst du es auch loslassen.«

— Martina Hügli Boon

Photo

This email address is being protected from spambots. You need JavaScript enabled to view it., geb. 1969 in der Schweiz ist Schriftstellerin und Kursleiterin. Studium der Slavistik, Germanistik und Philosophie. Eurythmieausbildung. Gedichtbände »Nicht gegen uns selbst immun« (1998) und »am ohrenäquator« (2000). Martina arbeitete als Lektorin, Übersetzerin, Journalistin und Eurythmielehrerin und lebt heute mit ihrer fünfköpfigen Familie in Tiel, Holland.
 


Titelseite connection spirit 11/08

Aus dem Heft connection spirit November 2008

connection spirit 12/08–01/09

Details

Titelblatt 12/08

connection spirit

Nr. 12/08

Ethik

Was ist gut, was schlecht? Sind diese ethischen Fragen egal, weil die Wahrheit jenseits von Gut und Böse liegt? Sechs Menschen versuchen sich mit einer Antwort

  • Transreligiöse Spiritualität

    Der Schweizer Unternehmer Hans Jecklin plädiert für eine friedliche, in der Mystik begründete Spiritualität
  • Die Geschichte des Wahnsinns

    Im Umgang mit Geisteskranken zeigt eine Gesellschaft die eigene Gespaltenheit. Auch hier herrscht der Glaube vor, sich durch Ausgrenzung eines Problems entledigen zu können

Heft 12/08 im Shop bestellen
 

Inhaltsverzeichnis

 

Schwerpunkt: Ethik

  • Glücksoptimierung
    Wolf Schneider hält Einsicht statt Ermahnung für den besseren Weg
  • Der Geist der Weite
    Roland Rottenfußer sinniert über den Begriff der Gnade
  • Hat Tantra eine Antwort?
    fragt sich die Tantralehrerin Advaita Maria Bach
  • »Es ist Irrsinn, aber jemand profitiert davon«
    Volker Freystedt kommentiert anlässlich des Films »Let's make money« unser irres Geldsystem
  • Jenseits der Beliebigkeit
    findet Ronald Engert seinen Weg zu einer individuellen Moral
Dossier Ethik als PDF (5,7 MB)
  • Transreligiöse Spiritualität
    Hans Jecklin plädiert für eine Spiritualität, die Grenzen überschreitet
  • Die Biodanza-Seite
  • Die Geschichte des Wahnsinns
    in Europa im Lauf der Jahrhunderte schildert Tina Wiegand
  • WerWasWo
  • Indianische Impressionen aus der Eifel
    Elfriede Werninger besuchte das Seminarhaus Beuerhof
  • Kriya Yoga
    Harald Reiske über das »Yoga der Tat«
  • Im Kino: Ein Geheimnis
  • DVD-Rezension: Der Weg zur Erleuchtung
  • Bücher
  • Seminartests
  • Leserbriefe
  • Marktplatz
  • Innenansicht
  • Veranstaltungskalender
  • Inserentenverzeichnis
  • Vorschau/Impressum

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Editorial connection spirit 12/08

Details

Photo
Wolf Schneider
Photo: Aniela Adams

Mystik und Ethik
Die Essenz von Religion und Politik

Zwei Thesen haben mich schon immer begleitet, vor allem als Herausgeber dieser Zeitschrift: Mystik ist die Essenz der Religion, Ethik die Essenz der Politik. So ist es im Grunde, und – so sei es.

Doch der Reihe nach. Zunächst zur Essenz der Religionen. Buddha und Jesus waren sicherlich Mystiker. Sie erlebten sich in untrennbarer Einheit mit dem (je nachdem) Göttlichen oder Ganzen. Aus diesem Wesenskern ihres Daseins heraus lebten und handelten sie. Andere Religionsgründer, wie Moses oder Mohammed, waren mehr Gestalter von Gemeinschaft, Gesetzgeber, Richter. Im Hinduismus, im Schamanismus und sonstwo in der religiösen Landschaft ist es meist noch viel komplizierter. Aber da Buddha und Jesus bei uns die populärsten Religionsgründergestalten sind, fällt es hierzulande leicht zu behaupten: Mystik ist die Essenz von Religion! Dass Jesus nicht freiwillig zum Religionsgründer wurde (er sah sich als Prophet und Erlöser innerhalb einer alten Religion, nicht als Gründer einer neuen) fällt in diesem Kontext dann kaum mehr auf.

So soll es auch sein, meine ich: Die sich in der Mystik kompetent fühlen, in der religiösen Erfahrung der Verbundenheit mit allem, sie sollten nicht per se als Gesetzgeber, Richter oder karitativ Tätige auftreten. Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit sind in areligiösen Händen meist besser aufgehoben; oft gilt das auch für die sozialen und karitativ tätigen Institutionen, denn zum Geben und Helfen braucht es keine religiösen Überzeugungen, manchmal hindern sie dabei sogar eher. Mutter Teresa wäre wahrscheinlich eine noch bessere Helferin gewesen, wenn sie nicht so katholisch gewesen wäre.

Ethik als Grundlage der Politik

Ethik als Essenz der Politik, das mag schon eher befremden. Ich meine jedoch, dass nichts anderes das politische Handeln bestimmen sollte als ethische Motive im Licht ihrer Realisierbarkeit. Bevor die Realpolitiker mich mit dieser These nun verspotten, eine Klärung: Ich meine mit Ethik nicht das ewige und meist fast fruchtlose Ermahnen doch bitte Güte walten zu lassen (und entsprechend den inneren Schweinehund zu unterdrücken), sondern schlicht, das dem Mensch und Tier eigene Streben nach Glück und das Vermeiden von Leid intelligenter zu betreiben als das üblicherweise geschieht, und mit mehr Einsicht in die Zusammenhänge.

Die Aufgabe der Politik sollte es sein, das Glücksstreben der Menschen (in der Verfassung der USA heißt es: the pursuit of happiness) so zu organisieren, dass die von den Gesetzen und politischen Handlungen Betroffenen möglichst viel Glück, Lust und Freude erleben und möglichst wenig Leid und Schmerz. Insofern ist die Realpolitik eines Bismarck, Kissinger oder Genscher durchaus in diesem Sinne ethisch. Diese Politiker vertraten die Ansprüche von Nationen oder Interessengruppen und versuchten diese mit anderen Interessengruppen auszugleichen, damit es möglichst nicht zu einem beide Seiten schädigenden offenen Konflikt kommen möge. Allerdings gehen solche Unterhändler von Interessen meist davon aus, dass das eine Menschenleben weniger Wert ist als das andere, künftige Jahre weniger berücksichtigt werden müssten als die aktuelle Legislaturperiode oder die kommende Zeit des Wahlkampfs und andere ethische Fehler.

Ethik ist einfach die Kunst das Richtige zu tun, mit dem Ziel, für die vom jeweiligen Handeln Betroffenen das Glück zu maximieren und das Leid zu minimieren. Genau das sollte auch das Ziel der Politik sein, denn die dortigen Entscheidungen beeinflussen die Chancen auf Glück oder Unglück sehr vieler in hohem Maße.

Was ist und was sein soll

Die Mystik entspricht dem: Sie lehrt die Verschmelzung mit dem Ganzen, in der das Streben nach Glück und die Leidvermeidung aufgehoben, also irrelevant, sind.

Die Mystik zeigt, was ist; die Ethik sagt, was sein soll. Keine der beiden Disziplinen sollte Vorrang vor der anderen beanspruchen. Sie passen optimal zusammen.

Titelseite connection spirit 12/08

Aus dem Heft connection spirit Dezember 2008

Glücksoptimierung

Details

Viele Glückskäfer
Photo: pixelio

Wir Menschentiere wollen alle dasselbe

Ethik, die Wissenschaft vom richtigen Handeln, hat sich bisher vor allem mit moralischen Regeln befasst, an deren Befolgung wir Menschen doch notorisch scheitern. Die folgende Analyse des menschlichen Verhaltens versucht etwas anderes: Sie versucht Einsicht zu vermitteln in Zusammenhänge und behauptet, dass solche Einsicht ausreicht, um gutes Handeln zu bewirken. Ermahnungen sind dann nicht mehr nötig

Ich war ungefähr 17, saß im Chemieunterricht und langweilte mich. Warum sollte ich hier eine weitere kostbare Stunde meines Lebens mit dem Periodensystem der Elemente verbringen? Das hatte ich längst verstanden, und es gab doch Wichtigeres: Liebe, Lust, Schmerz, Ethik. Ich zeichnete auf, wie ich glaubte, dass man vorgehen müsse, damit Menschen nicht einander Schmerz zufügen, sondern einander Lust bereiten und glücklich machen. Ethik ist das Wichtigste! Davon war ich schon damals überzeugt. Ethik und Darstellungstheorie (Wie kann ein Teil der Wirklichkeit einen anderen darstellen?), so nannte ich damals meine beiden wichtigsten Interessensgebiete. Sie sind es bis heute geblieben. Wenn ich mich für nur eines dieser Gebiete hätte entscheiden müssen, ich hätte wahrscheinlich Ethik gewählt.

Das Minenfeld

Ethik ist aber nicht nur spannend, es ist auch ein Minenfeld. Fast immer, wenn ich in den Jahren zwischen damals und heute versucht habe, mit anderen Menschen darüber zu sprechen, bin ich auf diese Minen getreten. Eine davon ist Moral. Wenn ich von Ethik spreche, denken die meisten Menschen, ich wolle ihnen ein schlechtes Gewissen machen. Eine andere Mine, die mit der ersten zusammenhängt, ist Strafe: Das Thema Ethik erinnert uns daran, welchen Ansprüchen wir nicht gerecht geworden sind; nun haben wir Angst, dafür bestraft zu werden. Ethik bedeutet für die meisten Menschen außerdem Freiheitsbeschränkung und Verzicht. Wir sind gemaßregelt worden, man hat uns mit erhobenem Zeigefinger gepredigt und ermahnt. Dabei ist Unwahres und Unsinniges angedroht worden (wie etwa die christliche Hölle), und man hat diese Drohungen für Zwecke benutzt, die keine guten waren. Wer über Ethik spricht, betritt unvermeidlich dieses Minenfeld.

Am Anfang waren: die Lust und der Schmerz

Die Basis der Ethik ist sehr einfach: Ich wähle das leckere Essen und vermeide, was weh tut

Ich wage trotzdem, diesen Acker zu betreten, denn Ethik ist zu wichtig, um sie den Angstmachern und Moralinsauren zu überlassen, den Aposteln, Missionaren und sonstigen Besserwissern. Es ist zwar im Detail ein unendlich komplexes Gebiet, aber im Grunde sehr einfach. Ethik ist die Lehre vom richtigen Handeln, und sie geht davon aus, dass wir einerseits Schmerz empfinden können und leiden, andererseits auch Lust und Glück. Und dass dieser Unterschied eine Rolle spielt, und zwar nicht nur eine Nebenrolle, sondern, was die Ausrichtung unseres Verhaltens anbelangt, die entscheidende. Jedes Verhalten von jedem empfindenden, das heißt Lust und Schmerz unterscheidenden Lebewesen ist von diesen Gefühlen oder Empfindungen gesteuert, und zwar auf eindeutige Weise: die eine Art wird bevorzugt, die andere gemieden. In seiner einfachsten Formulierung ist das Gute das, was Lust oder Glück erzeugt, und das Schlechte das, was Schmerz oder Leiden erzeugt. Erst wenn der Zeitfaktor eine Rolle spielt (sowas wie: jetzt Leiden in Kauf nehmen, um dann später Lust zu empfinden) oder mehrere Wesen aufeinander einwirken (do ut des; gib, damit dir gegeben werde), wird es komplizierter. Die Basis aber ist sehr einfach: Ich wähle das leckere Essen und vermeide das, was weh tut.

Negative und positive Empfindungen

Zugunsten der Einfachheit meiner grundlegenden Argumentation unterscheide ich hier nicht zwischen Lust und Glück, sondern meine mit beidem das, was empfindende Menschen erstreben. Ob es nun mehr geistig ist (Glück) oder mehr sinnlich (Lust), ist hier zweitrangig. Sollen die Menschen selbst entscheiden, ob ihnen ein Teller Essen (Lust) oder ein gutes Buch (Glück) wichtiger ist. Wenn ich im Folgenden von Glück spreche, sei damit die Lust impliziert, und wenn ich von Lust spreche das Glück. Ebenso mit Leiden und Schmerzen. Zahnschmerz oder Liebeskummer, was ist schlimmer? Für die folgende Argumentation ist das egal. Mit Leiden meine ich hier Zahnschmerzen ebenso wie Liebeskummer oder Weltschmerz und nenne alles das die negativen (das heißt: im Normalfall vermiedenen) Empfindungen oder Gefühle – gegenüber den positiven (das heißt, die im Normalfall bevorzugten) wie Lust, Glück oder Freude.

Tierisches

Wir Menschen glauben ja gerne, den Tieren überlegen zu sein. In mancher Hinsicht sind wir das auch, aber in sehr vielem doch überhaupt nicht. Worin wir uns nicht von den Tieren unterscheiden, ist unser Streben nach Lust und die Vermeidung von Schmerz. Vermutlich tun das alle Säugetiere, vielleicht alle Wirbeltiere, vielleicht noch weitere Tiere. Können auch Ameisen Schmerz empfinden und meiden deshalb Unfallstellen? Für eine Ethik unseres Verhaltens gegenüber Tieren ist das wichtig, aber nicht für den Kernpunkt: unser Verhalten uns selbst und unseren Mitmenschen gegenüber. Lust und Schmerz sind jedenfalls die Mittel, mit denen unser Verhalten zu biologisch Sinnvollem gesteuert werden soll. Wenn wir erst nachdenken müssten, bevor wir essen, Sex haben, Wärme suchen und körperliche Verletzungen vermeiden, würden wir vermutlich verhungern, keine Kinder haben, erfrieren und verbluten. Lust und Schmerz steuern uns, das biologisch Richtige zu tun. So sind diese Gefühle im Lauf der Evolution entstanden, und so haben sie über Jahrmillionen unter den damaligen Umweltbedingungen immerhin so gut funktioniert, dass es heute noch Menschen gibt. So wie die Affen, Hunde und Mäuse sind wir alle lust- und schmerzgesteuert, ob das unserem Selbstbild nun behagt oder nicht.

Zeiträume

Ist es schon eine ethische Überlegung, wenn ich nur meine eigene Suche nach Lust und mein Vermeiden von Schmerz betrachte? Das ist wohl Definitionssache. Jedenfalls braucht es durchaus einige Intelligenz und Vorausschau, jetzt auf ein kleines Glück zu verzichten, um später ein noch größeres (oder länger anhaltendes) Glück zu erzielen. Ebenso jetzt eine kleine Unlust in Kauf zu nehmen (das bittere Medikament, die schmerzhafte Spritze), um später dauerhaft weniger zu leiden (Heilung zu erreichen, gesund zu sein). Auch Tiere sind fähig, solche Entscheidungen zu treffen, das haben ausreichend viele Beobachtungen der Ethologie (vergleichende Verhaltensforschung an Mensch und Tieren) gezeigt. Wir Menschen sind in dieser Vorausschau und dem gegeneinander Abwägen diverser Güter nur etwas komplexer. Wir sind ein bisschen planendere Wesen als die Tiere, und wir berücksichtigen dabei ein bisschen mehr eigene Erfahrungen und sind ein bisschen weniger den instinktiven Programmen ausgeliefert.

Altruismus

Altruistisches Verhalten ist kein Verzicht, sondern es wird auf der Stelle mit einem Glücksgefühl belohnt

Noch komplexer wird es, wenn bei ethischen Entscheidungen nicht nur der Zeitfaktor reinspielt (jetzt auf das kleinere Gut verzichten, um später das größere zu erreichen), sondern auch andere Wesen. Wenn wir etwa einem anderen etwas »zugute« kommen lassen: das altruistische Verhalten. Auch das gibt es ja schon bei sozialen Tieren, nicht erst beim Menschen. Die einfachste Art der biologischen Steuerung eines solchen Verhaltens ist, dem so Handelnden gute Gefühle zu bescheren: etwa das Glücksgefühl, ein Baby zu hätscheln und es lachen zu sehen, es zu säugen oder vor Gefahr zu retten, das wohl jeder Mensch empfindet, ebenso wie alle Eltern bei den so genannten »höheren« Tieren (bei Ameisen wiederum weiß ich es nicht; auch ihre Sozietäten sind ja sehr komplex). Wer ein Baby pflegt oder rettet, bekommt damit nicht ohne weiteres von diesem eine Gegenleistung (auch wenn Eltern das in der Regel für später erwarten oder erhoffen). Die Belohnung für solch ein Verhalten erfolgt auf der Stelle: Es fühlt sich gut an!

Vogel beim Füttern
Photo: pixelio

Das Gute wird belohnt

Eine ähnliche sofortige Gratifikation kann es auch geben, wenn man einem anderen Menschen hilft, ohne dafür das Lächeln eines Babys geschenkt zu bekommen. Wenn man etwa einem mürrischen Alten hilft oder Geld spendet für Notleidende in Afrika (ein Verhalten, das die meisten Religionen und andere ethische Regelsysteme gutheißen), dann erfüllt man damit ein Ziel, das die Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt, gutheißt oder – die modernere Variante – das man sich selbst gesetzt hat, und diese Erfüllung des Ziels gibt einem ein Gefühl der Genugtuung. Das ist kein so tierisch-sinnlicher Genuss wie der, ein Baby zu stillen (für die Mutter) oder es vor dem Straßenverkehr zu retten (für Vater oder Mutter), es kann den so Handelnden aber doch mit einem tiefen Glücksgefühl belohnen. Das ethisch Gute hat hier also nicht den Verzicht (eine Einbuße an Glück oder Lust) des Handelnden zur Voraussetzung, sondern es belohnt ihn mit einem sofortigen sinnlichen oder geistigen Glück.

Der Handel des Spenders

Falls ein Verzicht bei einem solchen altruistischen Verhalten eine Rolle spielt, kann man es auch als einen Handel ansehen zwischen einem geringeren Gut (das Geld oder den Gegenstand zu behalten) und einem größeren (das Geld oder den Gegenstand zu verschenken). Ein Spender spendet nur dann, wenn das Spenden für ihn ein größeres Glück bedeutet als das Behalten.

Ein intelligenter Egoist weiß um unsere Verbundenheit untereinander – unsere connection. Er weiß, dass ich und alle miteinander zusammenhängen Ein »ethischer« Irrtum ist auch, unter zwei Sexualpartnern den attraktiveren zu wählen, um dann festzustellen, dass er den ganzen Tag nervt

Insofern ist ein Spender immer »eigennützig«: Er optimiert das eigene Glück. Die Frage ist für ihn nicht, ob er eigenes Unglück in Kauf nimmt, um das Glück eines anderen zu erzielen, sondern ob das eigene Glücksgefühl beim Erzielen des Glücks eines anderen größer ist, als wenn er nur auf das eigene Glück abzielen würde. Bei sozialen Tieren (Hunden, Pferden, Ratten, Menschen) gibt es immer ein gewisses Maß an Belohnung mit Glücksgefühlen für den altruistischen Spender. Beim Menschen, der sich ja auch geistige Ziele setzt, und das nicht nur kollektiv, sondern sogar individuell, ist das in noch viel höherem Maß der Fall. Bei diesem »höheren Maß« aber darf nicht vergessen werden, dass der Mensch auch dabei immer noch Tier bleibt. Dem »tierischen« Prinzip der Verhaltenssteuerung durch Glücksoptimierung widerspricht auch eine komplexe und subtile altruistische Ethik nicht. Der Altruist ist dabei immer noch Egoist in der Hinsicht, dass er sein eigenes Glück zu optimieren sucht, dabei aber (biologisch oder sozial) so konditioniert – oder auch so einsichtig – ist, dass das Glück der anderen ihm dafür eine gute Voraussetzung zu sein scheint.

Irrtümer

Man kann sich allerdings irren, und das in sehr vieler Hinsicht. Tier wie Mensch können zwischen zwei Nahrungsangeboten das leckerere wählen, dann aber feststellen, dass es vergiftet ist. Zwischen zwei Sexualpartnern den attraktiveren wählen, dann aber feststellen, er ist unfruchtbar, impotent, untreu, dumm, krank, arm oder nervt den ganzen Tag. Oder man baut sich eine Hütte, und dann kommt die Flut oder ein Erdbeben, oder man kann die Raten an die Bank dafür nicht mehr bezahlen (und löst damit eine Weltwirtschaftskrise aus …). Ich will jetzt mal versuchen, die Vielfalt solcher Irrtümer ethischen Handelns ein bisschen zu ordnen.

Eine Art des Irrtums ist die falsche Einschätzung der gegenwärtigen Wirklichkeit, also eine Wahrnehmungstäuschung. Das Geräusch, das man für das eines Einbrechers hält, aber es ist nur der Wind oder eine Maus. Die Mogelpackung im Supermarkt, die ein gesundes Essen suggeriert. Das Parfüm eines Vorübergehenden, das einen an den Ex erinnert, und dessen Eigenschaften man dann dem Fremden andichtet.

Die zweite Art sind die falschen Prognosen. Man kauft eine Aktie, die aber dann im Wert sinkt. Man probiert ein Medikament aus, das aber nicht heilt, sondern noch mehr krank macht. Man investiert in eine Beziehung, die einen gegenwärtig beglückt, aber da die charakterliche Prognose falsch ist, bringt sie langfristig Unglück.

Erkenntnistheoretisch interessanter, wenn auch noch sehr viel komplexer aber sind die Irrtümer, die ethisch-moralische Annahmen implizieren.

Ab ins Paradies …

Nehmen wir einen Extremfall: Der Selbstmordattentäter schnallt sich den Gürtel mit Sprengstoff um und zündet ihn mitten auf dem Marktplatz, den auch amerikanische Touristen frequentieren. Auch dieser Mensch handelt glücksbilanzoptimierend, aber er irrt sich in vieler Hinsicht. Der gravierendste Irrtum ist wohl, dass er glaubt, nach seinem schmerzhaften Tod sofort ins ewig glückbringende Paradies transportiert zu werden. Gegenüber der Ewigkeit fallen alle zeitlich begrenzten Leiden nicht wirklich ins Gewicht, auch dann, wenn andere Menschen dabei mit verletzt werden. Schließlich mag hier noch der Irrtum reinspielen, dass der kleine Attentäter meint, damit der Supermacht einen vorn Latz knallen zu können, indem er ein paar ihrer Touristen tötet, mit vermeintlich positiven Folgen für die Weltpolitik oder das Land mit der sich den Amis anbiedernden Regierung.

Fundamentalismus

Die größten Irrtümer ethischen Verhaltens stammen aus dem politischen oder religiösen Fundamentalismus. Stalins Irrtum: Man könne nur durch ein Aushungern der Kulaken die glückbringende kommunistische Gesellschaft herbeiführen. Der Irrtum der Conquistadores: Einen getauften Indio sterben zu lassen, sei ethisch besser als einen Ungläubigen, der die Botschaft Christi zurückgewiesen hat, weiter leben zu lassen, weil das Leiden in der Welt nichts ist im Vergleich mit der Ewigkeit von Himmel oder Hölle.

Allein schon der Glaube, die Bibel oder der Koran seien nicht etwa eine menschliche, religiöse Dichtung, die nur mehr oder weniger Weisheit enthält, sondern das Wort Gottes, ist ein solcher Irrtum mit üblen Folgen für das Glück der von solchem Glauben direkt oder indirekt Betroffenen. »Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen« steht im Alten Testament. Ist das Gottes Wort, das Wort des Allmächtigen? Dann müssen wir ihm wohl folgen. Oder maßt sich hier jemand an, es besser zu wissen als »der Allmächtige«?

Aufklärung

Es beruhigt mich allerdings, zu verstehen, dass auch Selbstmordattentäter und Bibelgläubige sich im Grunde glücksbilanzoptimierend verhalten. Sie haben nur ein anderes Bild von der Welt als ich, und sie stellen andere Prognosen an über das, was in Zukunft der Fall sein wird.

Altruismus ist nur die intelligentere Variante des Egoismus, eine Variante, die unsere Verbundenheit untereinander (unsere connection) stärker betont als der Egoismus des sich isoliert Wähnenden. Beide sind Glücksoptimierer, und auch die Fundamentalisten sind es. Sie täuschen sich nur in ihrer Wahrnehmung der Welt – meine ich (Sie selbst denken natürlich, dass ich mich täusche). Vor allem was unsere Vermutungen über den jenseitigen Einfluss auf das Diesseits anbelangt, haben wir Menschen sehr verschiedene Weltbilder. Wenn man sich aber auf das Ziel der Glücksoptimierung einigen kann, dann geht es »nur noch« um die Richtigkeit oder Falschheit der »Anschauungen« von der Welt, also um die Frage, was tatsächlich der Fall ist. Ist meine Anschauung eine Täuschung? Täuschungen kann man aufklären. Kein leichtes Unterfangen, ich weiß, aber immerhin ist es prinzipiell möglich, während ein moralischer Disput zwischen dem Guten und dem Bösen prinzipiell unlösbar ist. Auch ein Sieg des Guten über das Böse kann diesen Disput nicht lösen, denn das besiegte Böse wird wahrscheinlich irgendwann wieder auferstehen, und dann geht der Kampf weiter.

Himmel und Hölle

Leid
Photo: photocase

Weil wir als Menschentiere alle, ausnahmslos alle, Leiden vermeiden und Glück erzielen wollen, haben wir hierin etwas gemeinsam. Wir brauchen niemand als den Bösen und auch nichts als das Böse von uns abzutrennen, sondern wir können gemeinsam den Wunsch der Glücksoptimierung verfolgen, denn gemeinsam ist es viel leichter. So wie diese alte Geschichte es erzählt: Ein Mensch wurde nach seinem Tod ins Jenseits geführt. Dort wurde ihm der Raum der Hölle gezeigt und auch der Raum des Himmels. In beiden Räumen saßen Menschen vor gedeckten Tafeln. Im einen aber sahen sie glücklich aus, da schmausten sie nach Herzenslust, während sie im anderen hungerten, obwohl vor ihnen die leckersten Speisen ausgebreitet waren. »Was ist der Unterschied?«, fragte der Besucher. »Die Menschen können ihre Arme nicht anwinkeln«, sagte der Führer durch die Räume des Himmels und der Hölle. »So können sie die Speisen nicht zum Mund führen und leiden unter der Fülle, obwohl sie doch so appetitlich vor ihnen liegt. Im dem anderen Raum aber haben sie entdeckt, dass sie sich gegenseitig füttern können.«

Was nützen Ermahnungen?

Ermahnungen und Appelle ans Gewissen werden seit Jahrtausenden von den Weisen und Heiligen an die Menschheit gerichtet. Haben wir uns seitdem gebessert? Ich glaube nicht. Das 20. Jahrhundert war das mörderischste der Menschengeschichte. Der erste und der zweite Weltkrieg, die Genozide, Revolutionen und Umstürze, die Diktatoren Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot und ihre Millionen so leicht verführbarer Mitläufer. Hat es den Ermordeten etwas gebracht, dass die Kulturen dieser Länder sehr wohl alle ethisch hochwertige, anspruchsvolle Grundsätze ihr Eigen nannten? In China der Grundsatz des Ausgleichs und der Balance – er verpuffte im Zuge der Umwälzungen, in denen zig Millionen von Menschenhand getötet wurden oder ihr Siechtum und Hungertod bewusst in Kauf genommen wurden. Ähnlich in Russland und Deutschland. Die dortigen Kulturen sind im Christentum verwurzelt, das die Nächstenliebe, sogar Feindesliebe predigt und in dem »Du sollst nicht töten« ein zentrales Gebot ist. Hat es geholfen? Der Gulag und der Holocaust sprechen dagegen. Manchmal scheint es sogar, als seien die im Christentum verwurzelten Kulturen (»Selig sind die Sanftmütigen«) noch grausamer und ethisch rücksichtsloser gewesen als andere.

Hätte nicht das ganze christliche Deutschland, das sich einer »Religion der Nächstenliebe« verpflichtet glaubt, gegen die Naziideologie aufbegehren müssen?

Das Gewissen

Ist unser moralisches Gewissen bei alledem eine Hilfe? Sophie Scholl, Dietrich von Bonhoeffer, Graf Stauffenberg, sie haben sich aus Gewissensgründen der Nazi-Ideologie verweigert. Auch in Russland gab es solche Märtyrer unter Stalin und in Kambodscha unter Pol Pot. Gut, dass es sie gab. Aber das Gewissen ist so eine Sache: Den einen sagt es dies, den anderen das. Hatten denn in Deutschland zur Nazizeit nur einige der Pfarrer und Bischöfe ein Gewissen? Manche von ihnen unterstützten Hitlers Rassismus mit Begeisterung, ging hier doch endlich jemand mit Tatkraft gegen die Juden vor! Anderen war das Nazitum peinlich, viele schwiegen, nur wenige wagten ein gewisses Maß an Widerstand. Einen Aufstand gab es nicht. Hätte nicht das ganze christliche Deutschland, das sich einer »Religion der Nächstenliebe« verpflichtet glaubt, gegen die Naziideologie aufbegehren müssen? Alles verpufft, die ganze Liebe des Heilands umsonst. Rassismus und nationale Arroganz waren stärker als alle Moral, die vermeintlich Schwachen (Juden, Zigeuner, Behinderte) wurden vernichtet.

Die Wirkung moralischer Appelle

Deshalb meine ich: Moralische Appelle und Verbote nützen nicht viel. Das Verbot des Tötens, der Folter, der Gewalt, ja, es muss diese Verbote geben. Auch das Verbot des Lügens und des Stehlens und noch einige andere, je nach den Umständen, aber man sollte sich davon nicht allzu viel erwarten. Einsicht in die Zusammenhänge ist eine viel, viel bessere Voraussetzung für gute Taten als Angst vor Strafe oder Verurteilung durch einen moralischen Kodex.

Wobei auch ein moralischer Kodex mächtig wirken kann. Man denke nur an die Berichte von Menschen, die ein Tabu ihrer Gemeinschaft verletzt hatten und glaubten, damit ihr Recht auf Leben verwirkt zu haben – und daraufhin »aus Überzeugung« starben, ohne dass jemand sie tötete. Aber das sind Ausnahmen. Normalerweise hat bei Verletzung einer sozialen Regel oder einer moralischen Regel der sie Übertretende ein schlechtes Gewissen. Helden werden gelobt und fühlen sich gut, Regelverletzer werden diffamiert und leiden folglich. So ist es »normalerweise«, und so funktioniert die Steuerung durch diese Regeln: Sie erzeugt beim sie Übertretenden das Gefühl versagt zu haben und beim sie im Übermaß Erfüllenden den Stolz des Helden. Mehr nicht. Tötungen, Lügen und Diebstähle verhindern können diese Regeln nur in dem Maße, wie solches Unglück und solcher Stolz für die Glücksbilanz des Angesprochenen eine Rolle spielen. Auch die Erhöhung der Eindringlichkeit des Appells bringt meist keine Verbesserung, sondern riskiert, dass das Pathos des Appells ins Gegenteil kippt, schrill wirkt und sich so der Lächerlichkeit preisgibt.

Das Trolley-Problem

Neuerdings gibt es eine empirische Sozialforschung auch in Sachen Ethik und Moral. Da befragt man zum Beispiel eine Anzahl von Menschen, wie sie mit folgendem Dilemma umgehen würden, das als »Trolley-Problem« in die Wissenschaft einging:

Stell dir vor, du bist der Lokführer eines Güterzugs, und vor dir ist eine Weiche, die du von der Lok aus betätigen kannst. Hinter der Weiche sitzen fünf Menschen auf dem Gleis, die dort nicht weg können. Auf dem anderen Gleis sitzt nur ein Mensch, der dort auch nicht weg kann. Bremsen kannst du nicht, der Güterzug ist zu schwer. Was tust du? Die meisten Menschen würden die Weiche betätigen, obwohl sie damit zum Mörder dieses einen Menschen werden. Andererseits aber haben sie damit fünf Menschen gerettet. Wenn jedes Menschenleben gleich zählt, ist die moralisch-ethische Bilanz eines solchen Verhaltens positiv: Einer getötet, fünf gerettet, die Bilanz ist plus vier!

Man kann hier nun Alte und Junge befragen, Gewissenhafte und Gewissenlose, alle Kulturen und Ethnien und stellt immer wieder fest: Die meisten Menschen entscheiden sich für die Rettung der fünf. Weiter kann man auf das linke Gleis das eigene Kind setzen, da wird es schon schwieriger. Und dann mit vier zu eins, drei zu eins, zwei zu eins testen, wo die Grenze ist, an der man für das eigene Kind oder den eigenen Lebensgefährten den Tod x anderer in Kauf nimmt. Schrecklich, diese Fragen, aber sehr aufschlussreich, was die eigenen ethischen Werte anbelangt.

Gefühl und Vernunft

Man kann auch die Situation simulieren, wo vor dir ein Dicker auf der Brücke steht. Nimm an, du bist imstande, ihn runterzuschubsen, so dass er aufs Gleis fällt und so den Güterzug zum Stehen bringt. Dabei wird er getötet, aber die fünf weiter vorne sind gerettet. Es hat sich bei den Tests herausgestellt, dass kulturübergreifend sowie alters- und bildungsunabhängig die Mehrheit der Befragten hier nicht den Dicken runterschubsen würde, obwohl das doch von der ethischen Bilanz her vernünftig wäre. So konkret aber, mit den eigenen Händen einen Menschen in den Tod stoßen, das bringen die meisten dann doch nicht fertig. So wenig wir als homo oeconomicus immer oder auch nur meistens rationale Entscheidungen treffen (das wird angesichts der Weltwirtschaftskrise gerade überall diskutiert), so wenig treffen wir als homo moralis ethisch betrachtet immer – oder auch nur meistens – vernünftige Entscheidungen.

Dennoch oder gerade deshalb: Wir müssen herausfinden, was uns wirklich ticken macht. In Bezug auf Ethik ist noch sehr viel zu erforschen. Dann, von diesem Wissen ausgehend, sollten wir neue ethische Regeln aufstellen, die auf unsere Globalkultur einwirken. Und dabei das Glücksprodukt im Auge halten: Wie können wir das Glück optimieren für alle von unserem Handeln Betroffenen? Wie können wir das Leiden minimieren? Das Wissen um unsere Interdependenz, unsere Abhängigkeit voneinander, kann uns dabei helfen.

— Wolf Schneider

»Es ist Irrsinn, aber jemand profitiert davon«

Details

Filmposter

Neoliberalismus im ethikfreien Raum

Der Film »Let's Make Money« von Erwin Wagenhofer stößt zur Zeit auf starke, überwiegend begeisterte Resonanz im Publikum, weil das Bewusstsein dafr, dass an unserem Geldsystem etwas zutiefst falsch ist, stärker ist denn je. Volker Freystedt, Autor und Grafiker aus dem Gründerteam von connection, engagiert sich schon seit längerem für die Geldreform und hat sich nun diesen Film angesehen

In seinem neuen Film bleibt Erwin Wagenhofer seinem aus We feed the world bewährten Arbeitsprinzip treu: Als Laie traut er sich, Kinderfragen zu stellen, ganz so, wie Peter Kafka es vorgemacht hat: »Es gibt sehr viel Geld, aber es ist nicht da – doch wo ist es dann? Diesem unschuldig fragenden Kind (das in Bild und Ton selbst nicht in Erscheinung tritt) erzählen die großen Männer der Hochfinanz dann in erstaunlicher Offenheit Dinge, die sowohl das System Stück für Stück entlarven, als auch ihre eigene Verstrickung dokumentieren. Man erkennt: Die wissen, was sie tun! In We feed the world hört man immer fassungsloser dem Vertreter des Saatgut-Multis Pioneer zu, der den Spagat versucht, zwischen seiner Überzeugung und seinem Tun (die Natur-Auberginen schmecken besser, aber mit Hybridsaatgut ist viel zu verdienen; also nimmt man in Kauf, dass die Qualität und letztlich die gesamte Landwirtschaft auf der Strecke bleiben).

Es gibt keine Moral. Der Profit für die Investoren ist die einzige Handlungsmaxime

»Der Wettbewerb zwingt uns«

Auch zum Thema Geld erhielt Wagenhofer O-Töne von Fondsmanagern und Unternehmern, also den »Playern« im globalen Monopoly, die niemand recht glauben würde, kämen sie von den Gegnern der Globalisierung. Der zuschauende Laie versteht durch die Verdichtung ähnlicher Aussagen von unterschiedlichen Akteuren: Erst wurde der Moloch »Globalisierung« bzw. »Neoliberalismus« erschaffen, dann versteckt man hinter seinem Rücken die eigene Verantwortung: Der »Wettbewerb« oder der »Druck der Globalisierung« zwinge zu Rücksichtslosigkeit gegenüber allen und allem. Es gibt keine Moral, der Profit fr die Investoren ist die einzige Handlungsmaxime: »Ich glaube nicht, dass ein Investor verantwortlich ist für die Ethik … oder das, was eine Firma verursacht, in die er investiert«. Der »Emerging-Markets-Guru«, der dies äußert, kreiert auch gleich eine neue Form von Heroismus: »Es hieß früher, man müsse kaufen, wenn noch Blut auf den Straßen klebt. Ich füge hinzu: auch wenn es das eigene ist!« Der Mensch ist nichts, die Rendite alles.

Neoliberalismus kurz & bündig

Ein Londoner Finanzökonom erklärt kurz und prägnant die vier Grundschritte des Neoliberalismus, wie er unter Reagan und Thatcher und mit tatkräftigem Einsatz von Weltbank und IWF über die Welt kam:

  1. Deregulierung, d.h. Freiheit für das Kapital.
  2. Liberalisierung der Handelsströme, d.h. Abbau der Schutzbarrieren der Entwicklungsländer.
  3. Abschaffung des Staatseinflusses, indem man seine Steuerbasis erodiert.
  4. Privatisierung der staatlichen Industrien.

So wird es möglich, immer neue Spielräume für das Kapital im Bereich der Realwirtschaft zu finden. Darauf aufbauend wurden noch größere Spielwiesen im virtuellen Sektor erfunden, wo es nicht mehr um greifbare (und begreifbare) Dinge geht, sondern um immer verzwicktere Finanzwetten. Durch die so genannte Finanzkrise (die eigentlich die vorhersehbare Krise des Geldsystems ist) kam heraus, dass fast niemand wirklich verstanden hatte, mit was er handelte – mit dem geschickt gewählten euphemistischen Adjektiv »innovativ« gelang es offenbar, allzu neugierige Fragen zu den »Finanzprodukten« abzublocken, die über den Globus schwappten. Einzig die hohen Gewinnchancen waren Thema – und die so geweckte Gier verschleierte den Blick auf das Kleingedruckte mit den ebenso hohen Risiken und die »Kollateralschäden« solcher Maßosigkeit.

Gelddruckmaschine

Die Macher, ihre Opfer und die Steuerparadiese

Der Film zeigt die Macher der Globalisierung, aber auch die Opfer an verschiedenen Schauplätzen der Welt. Die Armen bleiben arm, weil sie nur die Rohstoffe liefern dürfen, und das meist zu Preisen, die die reichen Abnehmerländer diktieren, in denen dann die eigentliche Wertschöpfung erfolgt. Ob Goldgewinnung in Ghana, wo die Natur zerstört wird und letztlich nur 3% des Verkaufspreises hängen bleibt; ob Baumwoll-Monokulturen in Burkina Faso, die den Bauern nicht aus der Armut geholfen haben, aber ausgelaugte Böden hinterlassen; ob Billiglöhner in Indien, die westlichen Firmen Höchstgewinne ermöglichen und selbst in Slums hausen (über denen wie zum Hohn riesige Plakatwände westliche Luxusgüter anpreisen); ob die Bauwut an Spaniens Küsten, wo drei Millionen leerstehende Häuser und 800 unnnötige (und kostbares Wasser verbrauchende) Golfplätze rein zur Spekulation entstanden – immer wird klar: Es ist Irrsinn, aber jemand profitiert von diesem Irrsinn. Nur möchte offenbar keiner der Globalisierungsgewinner, dass man die Herkunft seines Vermögens erkennt. Diesen Wunsch erfüllen die Steuerparadiese, deren meiste eine Art gesetzesfreier Vorhöfe der Londoner Finanzinstitute darstellen und den Finanzplatz London zum bedeutendsten der Welt machten. Der Film zeigt das Beispiel Jersey, wo jährlich circa 500 Milliarden Dollar Privatvermögen »verdunkelt« werden. Dieses Geld kommt ja nicht wirklich hier an; es werden hier nur die Privatvermögen von Frau Schmidt und Mister Miller im Computer in einen Trust umgewandelt, der z. B. eine Firma in Luxemburg besitzt mit einem Konto in London. So ist die Spur zum Eigentümer verwischt, so funktioniert Kapital- und Steuerflucht.

Die Erpressung der Rohstofflieferanten

Das wohl erstaunlichste Kapitel im Film ist das Bekenntnis des ehemaligen »Economic Hit Man« John Perkins, der erklärt, wie Länder, die über wichtige Ressourcen verfügen, von Geheimdienstspezialisten gefügig gemacht werden. Erst wird den Machthabern ein Großkredit für riesige Infrastrukturmaßnahmen aufgedrängt; dann geht das Geld direkt an die US-Firmen, die die Projekte ausführen. Im Land profitieren nur wenige Reiche. Die arme Bevölkerung aber muss nun jahrzehntelang die hohen Zinsen erwirtschaften, was oft genug nicht möglich ist. So wird das Land er- und auspressbar: neben Ressourcen werden auch mal Soldaten zur Unterstützung im Irak erbeten, und solidarisches Abstimmungsverhalten in der UNO wird ebenfalls gerne gesehen. Widersteht ein Herrscher der Bestechung, werden Killer auf ihn angesetzt. Kommen auch die nicht zum Zuge (wie bei Saddam Hussein), wird das Militär geschickt.

Letztlich bleibt nur die Migration

Wenn das Aussaugen der Armen allerdings zu weit geht, bleibt diesen als letzte Konsequenz nur noch die Flucht – hinter den Ressourcen her, in die wohlhabenden Staaten. »Sie können ruhig 10 Meter hohe Mauern bauen – wir werden bei euch einfallen, wir haben keine andere Wahl«, sagt ein Afrikaner im Film. Doch wie ist das mit den offenen Grenzen, die der Liberalismus fordert? Gelten die für Menschen nicht? Der leitende Wirtschaftsredakteur der NZZ denkt laut darüber nach und kommt zu dem Vorschlag, »eine Art Eintrittspreis« zu verlangen, »wie man eben in einem Club auch Eintrittspreise verlangt« – schließlich käme der Neuling ja in eine Struktur, die andere aufgebaut und zu dem der Neue »nichts beigetragen hat«. Ob das gerade im Falle der Afrikaner, die nach Europa drängen, auch so gesehen werden kann, darf hinterfragt werden…

Radikales Kurzzeitdenken

Dass auch in Europa noch etwas zu holen ist, haben die »Private Equity Fonds« gezeigt: Gemeinden verkaufen Verkehrsbetriebe oder Stadtwerke an US-Fonds; die Gemeinden bekommen dafür heute Geld und leasen in Zukunft ihr ehemaliges Eigentum – Kommentar von Hermann Scheer (der in diesem Film die reflektierende Rolle übernimmt, die Jean Ziegler in We feed the world inne hatte): »Privatisierung … ist eine Beraubung der Gemeinschaft. … Dieses radikale Kurzzeitdenken … ist typisch für das gesamte Neoliberale Zeitalter. … Alles ist verkürzt auf die aktuelle Erzielung einer höchstmöglichen Rendite, koste es was es wolle«.

Den Zuschauer kostet dieser Film allerdings auch einiges – selbst als jemand, der seit längerem mit dem Thema intensiv befasst ist (siehe www.equilibrismus.de) musste ich mich beim Anblick von so viel selbstzerstörerischem Fehlverhalten auf eine Meta-Ebene flüchten: Ich betrachtete diesen geballten Wahnsinn aus der Perspektive eines Außerirdischen und konnte nur zu einem Lösungsvorschlag kommen: Die Menschheit gehört für einige Jahrzehnte weggesperrt!

Da das aber nicht möglich ist, benötigen wir dringend Alternativen, die sich an der Begrenztheit dieses Globus orientieren; die das Ideal von Gleichheit und Gerechtigkeit wenigstens anstreben; die die Werteskala wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Solche alternativen Konzepte gibt es – sie wachsen leider bisher nur im Verborgenen.

Deshalb braucht es als nächsten Schritt nach dem Zeigen dessen, was verkehrt läuft, einen Film, der genauso engagiert und pointiert die Mechanismen aufzeigt, die den Wachstumswahnsinn in unserer heutigen Geld- und Wirtschaftsordnung erzwingen, und der vor allem System-Alternativen vorstellt – Erwin Wagenhofer, übernehmen Sie!

— Volker Freystedt

Filmposter

Let's Make Money ist ein Dokumentarfilm von Erwin Wagenhofer, der auch We feed the world drehte. Österreich 2008, 110 Min., mehrsprachig mit dt. Untertiteln. Kinostart: 30.10.2008. Delphi-Filmverleih, Berlin.
 


Titelseite connection spirit 12/08

Aus dem Heft connection spirit Dezember 2008

Transreligiöse Spiritualität

Details

Auge

Identitätsbildung jenseits religiöser Engführungen

Für die Calumed-Konferenz »Globalisierung und Identität« hatte der heute 70-jährige Schweizer Unternehmer Hans Jecklin eine Rede vorbereitet, die wir hier in verkürzter Form bringen. Jecklin tastet sich hierin vor zu einer Spiritualität, die Religions- und Kulturgrenzen überschreitet und auch den Atheismus einbezieht. Im Kern eine mystische Philosophie, integriert sie therapeutische und ökologische Aspekte und ruft zu einer globalen Kultur des Friedens auf

Zahlreiche Studien haben sich in den vergangenen Jahren weltweit mit den Auswirkungen von »altruistischer Liebe«, Empathie und Hilfsbereitschaft beschäftigt. »Geben, sei es in Form von Geld, Zeit, Energie oder Zuwendung, wirkt sich positiv auf die physische und psychische Gesundheit aus« sagt Professor Stephen Post, Bioethiker an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio. »Sich regelmäßig für andere einzusetzen« so die Schlussfolgerung seiner Untersuchungen »ist mindestens ebenso wichtig für die eigene Gesundheit im Alter, wie täglich eine halbe Stunde zu joggen«. Dabei gehe es jedoch nicht um die persönliche, romantische Liebe. Vielmehr habe man sich auf jene Art von »uneigennütziger, bedingungsloser Liebe« konzentriert, die prinzipiell niemanden ausschließe, mit anderen Worten: auf eine »von Herzen kommende Großzügigkeit, die dem anderen etwas Gutes tun möchte, ohne selbst etwas dafür zu erwarten.«

Eine kürzlich in der Fachzeitschrift Nature erschienene Studie zeigt, dass bereits sechs Monate alte Kleinkinder Ansätze einer Vorstellung von Gut und Böse besitzen. Für ihre Arbeit hatten Psychologen der Yale-Universität sechs und zehn Monate alten Kindern auf einem Bildschirm eine Art Puppentheater präsentiert, in welchem ein mit Augen versehenes Objekt, etwa ein roter Ball, vergeblich versuchte, auf einen Hügel zu gelangen. Danach kam dem »Kletterer« entweder ein gutmütiges Objekt zu Hilfe, welches den Ball auf den Hügel stieß, oder aber es erschien ein böswilliges, welches den Ball daran hinderte, die Anhöhe zu erreichen. Farbe und Form der drei Objekte wechselten von Kind zu Kind – so dass eine visuelle Präferenz für eines der Objekte ausgeschlossen werden kann. Nach der Vorstellung wurde den Kindern Spielzeug in Form von Helfer und Verhinderer zur Auswahl gegeben. Es zeigte sich, dass praktisch alle Kinder nach dem Helfer griffen, also guten gegenüber schlechten Absichten den Vorzug gaben, obwohl sie selbst davon gar nicht betroffen waren.

Die Annahme der Gegenwart

Die Betrachtung der Welt nicht als Entweder-Oder, sondern als Entscheidung für die Zusammenführung der in der Trennung blockierten Teile, gelingt nur durch unvoreingenommene Annahme der Gegenwart; so wie sie sich eben jetzt darbietet, ohne Wenn und Aber, mit offenem Herzen. Emotionale Widerstände verändern nichts; sie verschleiern den Blick auf die Struktur des Augenblicks und seine Herausforderung an mitfühlendes Empfinden, Denken und Handeln. Unterschätzen wir die Wirkung dieses emotionalen Schleiers nicht: Bewusstseinsforscher sagen uns, dass 95-98% der Gedankentätigkeit vom Unbewussten generiert wird; von Impulsen also, die mit der Gegenwart nicht mehr zu tun haben, als dass sie möglicherweise früheren individuellen oder kollektiven Erfahrungen ähnlich sind.

»Wie soll ein Mensch gegenwartsbezogen empfinden, denken und handeln können, solange seine Identität in einer Religion der Gottesfurcht verankert ist?«

Wie also soll ein Mensch gegenwartsbezogen empfinden, denken und handeln können, solange seine Identität in einer Religion der Gottesfurcht verankert ist? Oder, wenn er als autonomes Individuum – genauer: als in seinem Egoismus Verlorener – in den Sog des Erfolgs gelangt und seine Identität in den Errungenschaften gründet, die ihn für andere bewundernswürdig, liebenswert machen? Beide dieser Identitäten – die traditionelle, ebenso wie die des modernen Menschen – sind von Angst regiert: nicht zu genügen und nicht mehr dazu zu gehören; aus der Aufgehobenheit in der Gesellschaft zu fallen, aus der Liebe der Nächsten und aus dem Geliebtsein durch das Leben. Kein Wunder also, dass die Manipulation mit der Angst das ganze Weltgeschehen anzutreiben scheint: Kampf um Macht und Privilegien, Krieg und Terrorismus, Erfolgsdruck und Gier, Überlebensangst und Sicherheitsbedürfnis sind ihre Masken, mit denen sie uns entgegen tritt.

Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe

Dennoch kennen wir keine größere Sehnsucht, als uns geliebt zu wissen, so wie wir sind, bedingungs- und grenzenlos, ewig und unverlierbar. Es ist diese eine, große Sehnsucht, die uns in die Welt hinaus treibt, um dort zu suchen, was seit jeher schon in uns wartet. Sie treibt uns in Surrogate, die uns früher oder später durch ihre Bedingtheit und Vergänglichkeit auf das Unbedingte und Ewige verweisen.

Viele von uns haben weite Wege gemacht, um schließlich diesen Urgrund in sich selbst zu finden. Hinaus aus religiösen Institutionen, die diesen Weg verstellten, weil sie die Ermächtigung der Einzelnen fürchteten; über jene spirituellen Lehrer hinaus, welche den Zugang zur Erfahrung mit einer persönlichen Bindung verknüpften, auch über Konzepte, Praktiken und Gottesbilder hinaus, die der nackten Erfahrung des Urgrundes im Wege standen.

Der Geschmack des Urgrundes liegt ganz nah. Viele haben ihn schon erfahren und gleich weggegeben, indem sie die Erfahrung der äußeren Situation zuschrieben, statt sie als ein Aufleuchten des eigenen Innern zu sich zu nehmen. Denken wir an jene Momente, wo wir – vielleicht nur während Sekunden – mit dem Augenblick derart im Einklang waren, dass nichts Anderes dazwischen zu treten vermochte: beim Ankommen auf einem Berggipfel, im Arm eines geliebten Menschen, im Einklang mit der Natur.

Zengarten
Bild: photocase

Mystik

Aus der Perspektive des Absoluten zeigen sich die vielen Wege – die Vielfalt der Religionen und spirituellen Traditionen – ebenso wie die Nichtwege als relativ; sie alle sind letztlich Zubringer zur mystischen Erfahrung, die ich als einem jeden Menschen zustehendes Grundrecht sehe. Im Sinne von Karl Rahners Feststellung: »Der Fromme von Morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.« Unter dem Frommen verstehe ich den in seinen Frieden gekommenen Menschen, der um seine Aufgehobenheit im Einen ebenso weiß wie um seine Verbundenheit mit allem. Aber es gibt noch eine dritte Bedeutung, die im so unzeitgemässen »Frommen« steckt: Die Hingabe an das allumfassende Eine. Diese Haltung der Bescheidenheit bewahrt uns vor der Maßlosigkeit des Ich; nur zu gerne ist es bereit, das neu gewonnene Selbstvertrauen und die Begeisterung für die Vielfalt der Schöpfung als seine Errungenschaft in Besitz zu nehmen. Dann berauschen wir uns am Hochgefühl des archetypischen Helden, wie er kraftvoll in die Welt hinaus zieht, und verlieren dabei die neue Verbindung zur Quelle unserer Kraft.

In der dreifaltigen Beziehung zum Einen – als innerster Urgrund des Seins, als Vielfalt in der Schöpfung sowie als umfassendes Du – sehe ich die erste Grundlage für eine trans-religiöse, alle Glaubens- und Denkweisen – auch die der Atheisten – mit einschließenden Spiritualität.

Die ersten Erfahrungen dieser unbedingten Aufgehobenheit waren für mich von tiefem Glück und dem Gefühl des Angekommenseins begleitet. Ich habe sie als Geschenke erlebt, als Erfüllung der großen Sehnsucht, die mir in Augenblicken absichtsloser Hingabe zuteil wurde; in Zuständen äußerster Selbstvergessenheit etwa, oder auch im Schlaf.

Die ursprüngliche Hoffnung, dass ich mit diesen beglückenden Erfahrungen auch vom Spiel der Emotionen – den zwingenden Wünschen und Ängsten – befreit sei und als von allen Sorgen um weltliche Dinge Befreiter in den Alltag zurückkehren würde, erwiesen sich jedoch als Irrtum. Die Erfahrung der Aufgehobenheit im Einen ist kostbar, aber eben doch nicht mehr als ein Vorgeschmack, der Wiederholung sucht.

»Die Vielfalt der in jedem Menschen wirkenden Schattenaspekte scheint unerschöpflich zu sein«

Der Alltag

Bei der Rückkehr in den Alltag werden wir rasch mit unserer menschlichen Natur konfrontiert; es scheint eine innere Weisheit des Lebens zu sein, die uns immer wieder in Situationen führt, wo der Zeigefinger des Geschehens jene Prägungen antippt, die jetzt angesehen und integriert sein wollen. Dabei stellen wir fest, dass die in jedem Menschen wirkenden Schattenaspekte anscheinend unerschöpflich sind. Immer wieder lernen wir durch uns begegnende Herausforderungen neue, bisher unentdeckte Facetten unserer Persönlichkeit kennen; wenden wir uns ihnen zu und erlösen wir sie am Herzen, machen sie uns freier und reicher. Mehr noch: Das wachsende Vertrauen in die Kraft des Herzens und die sich verfeinernde Unterscheidungsfähigkeit für die Qualität der inneren Stimmen und ihre Quelle fördern unsere zunehmende Verankerung im Einen. Wir werden hellhörig dafür, was die uns herausfordernden Situationen von uns brauchen, was der Lebensstrom durch uns in der Welt gestalten will. Die derart offene Haltung gegenüber dem uns meinenden Geschehen führt in eine von innen wie außen genährte Spiralbewegung: in wachsenden Kreisen zu immer reicherer Lebensfülle.

Leere und Fülle

Davon, wie ich dies selbst erlebe, will ich anhand von zwei kürzlich erfahrenen Episoden berichten: »Und wenn es doch jemanden gäbe, der dir jetzt zuschaut?« sprach während einer frühmorgendlichen Yogaübung eine mahnende innere Stimme. Wie, um sie auf die Probe zu stellen, begann ich ein imaginäres Gottesbild zu entpersönlichen, zu entkleiden, aufzulösen – bis zur letzten Faser. Ein dumpfes Gefühl befiel mich oberhalb des Magens. »Wenn denn da doch jemand wäre? Wird er mir verzeihen? Schließlich geht es mir doch nur um die Erfahrung seiner universellen Essenz?« Ich wende mich den inneren Stimmen zu, den unheimlich dräuenden Emotionen, bis sie sich beruhigen; fahre dann fort mit dem radikalen Auflösen aller Vorstellungen über Gott und alle überirdischen Wesen: von den Engeln bis zu den Teufeln. So stehe ich schließlich vor dem reinen Nichts. »Ist jemand da?« rufe ich in die Leere hinein – und fühle mich bereits von einer weiten, tiefen und starken Stille umfangen. Wie oft hatte ich die Worte »die Leere ist die Fülle« auf billige Weise gedankenlos dahingesagt? Jetzt ist es anders: wirklich. Die Analogie vom Physiker taucht auf, der auf der Suche nach den kleinsten Bausteinen der Materie seinen Tisch mit der Axt entzwei schlägt und erst einmal keinen Tisch mehr hat, und wie er dann die Bruchstücke immer weiter zerkleinert, im materiellen Nichts landet: Potenziale, Tendenzen, Wahrscheinlichkeiten, mehr nicht.

Schatten
Bild: pixelio

In einer meiner so fruchtbaren, schlaflosen Nächte packt es mich unvermittelt und reißt mich aus dem Schlaf. Im Herzen pulsieren Wellen von Wärme und Liebe. »Wenn zwischen dir und den religiösen Bildern keine magischen Bindungen mehr bestehen«, höre ich, »kannst du dich ganz auf die Essenz einlassen, die ihnen Gestalt verlieh«. Erinnerungen ziehen vorbei: die Kathedrale von Chartres, die mir im Lauf einer Woche vertraut wurde und ihre Geheimnisse offenbarte; den kühnen, himmelstrebenden Geist, der ihre äußere Gestalt bestimmte, und eine warme, raumfüllende Zärtlichkeit, die auch im Licht der kostbaren Fenster strahlt und die steinernen Skulpturen belebt.

Würdigung der dunklen Kräfte

Ganz anders jetzt, Mark und Bein durchdringend, das indische Tempelritual für die Inkarnation des Gottes Vishnu in seiner furchterregenden Löwengestalt: das anhaltende Läuten der hellen Tempelglocke, die Rezitation der Mantren, die streng ritualisierten Gesten des Brahmanen. Dies alles, umgeben von betörenden Räucherdüften und inmitten einer dicht gedrängten Menge Gläubiger, wirkt noch immer wie ein Sog in einen anderen Körper- und Gefühlszustand. Dort, hinter dem uralten mythischen Gewebe, erfahre ich zum Greifen nah die Evokation der Schattenkräfte sowie ihre Annahme und Würdigung durch die verschwenderischen Güsse von Milch, Ghee und Honig. Ein weiser und hygienischer Umgang, so scheint mir, mit einer bedrohlichen Gottesgestalt, stellvertretend für die gefürchteten, in den Einzelnen wie in der Gesellschaft wirkenden Potenzialen des Unbewussten. Ein die dunkeln Kräfte integrierendes und sie transzendierendes Heilungsgeschehen; ganz anders als die Verteufelung des Bösen, wie sie nicht nur in der christlichen Tradition geschieht.

Einheit in der Vielfalt

Die lange Nacht hat mir die Gegenwart des Einen in allen Manifestationen der Schöpfung vor Augen geführt. Durch die Schönheit erst, als Aufleuchten des Wirklichen in der äußeren Erscheinung und dessen Resonanz in der Essenz meines Wesens: ein gegenseitiges Wiedererkennen. »Das Wiedererkennen des Herzens« heißt eine der ältesten Schriften des (tantrischen) Schiwaismus von Kaschmir. Dieses wieder Erkennen der »Einheit in der Vielfalt« führt uns in eine neue, wissende Begegnung mit der Außenwelt. Wissend, dass sich die Vielfalt der Schöpfung bei weitem nicht auf das Schöne und Erbauliche beschränkt.

Die nächtliche Erfahrung führte weiter: hinein in die Welt der invertierten oder gar pervertierten Gestalten. Nur dem oberflächlichen Betrachter erscheinen sie als von ihrem Ursprung getrennt: als Menschen, beispielsweise, die den Blick für die Anderen und ihre Umwelt verloren haben; die sich zusammen mit anderen Blinden gegen gemeinsame Feinde verbünden: Wer ihre Interessen nicht teilt, wer sich ihnen entgegenstellt, wird zum Gegner. Hass und Gewalt sind ihre Weggenossen. Es ist ein vertrautes Bild der Welt in ihrer gegenwärtigen Verstrickung, das sich mir jetzt zeigt, ein Bild der Selbstzerstörung.

Ex: »Die Kraft der männlichen Liebe, die wohl nichts und niemanden ausschließt, aber den hinter Worten und Taten wirkenden Ungeist zu erkennen vermag und sich nicht fürchtet …«

Ich weiß, dass ich auch dafür mein Herz öffnen muss; nicht für die Unbezogenheit und Rücksichtslosigkeit der destruktiven Denk- und Handlungsweisen, aber für die verborgene Essenz, die vielleicht gerade durch das Schleifen der trüben Oberfläche freigelegt werden will. Was immer das Wunder des Wiedererkennens in einer nährenden Liebe hier zu bewirken vermag, so ist gegenüber dem Leid erzeugenden Denken und Handeln auch die Kraft der männlichen Liebe gefragt. Eine Liebe, die wohl nichts und niemanden ausschließt, aber den hinter Worten und Taten wirkenden Ungeist zu erkennen vermag und sich nicht fürchtet, das scharfe Schwert der Unterscheidung zu führen, zu trennen und Grenzen zu setzen. Dieses Schwert will ohne jede Spur von Hass geführt sein; denn jegliche Selbstgerechtigkeit wird sich selbst verletzen. Das Schwert zu führen, ohne dafür Beifall zu erwarten, ist höchste Liebeskunst!

Tod und Auferstehung

Eine alte Erfahrung kommt zurück. Es ist der Osternsonntag 1989 im Stadttheater Heidelberg, ich befinde mich in einem Intensiv-Seminar mit unserer damaligen indischen Lehrerin. Eben habe ich meinen Frieden in der Meditation gefunden. Da taucht ein Totenschädel vor mir auf. Weg mit dieser Störung, ist mein erster Impuls. Gleich vervielfacht sich das unerwünschte Bild. Aus dem einen Schädel werden immer mehr: eine ganze Wiese voll, und wie sie mich hämisch angrinsen! Ein Impuls – woher auch immer – will, dass ich mein Herz für sie öffne. Sie haben wohl noch nicht bemerkt, dass Karfreitag längst vorbei ist? Wie ich, meiner Eingebung folgend, aus dem Herzen zur Schädelstätte hin ausatme, verwandelt sie sich in eine leuchtend gelbe Blumenwiese. Wunderbar, geschafft! Doch, oh Schreck, am Ende des Ausatmens werden die Blumen wieder zu Totenschädeln. Hin und her geht es nun, mit jedem Atemzug, von der Blumenwiese zur Schädelstätte und wieder zurück. Natürlich ist mir damals die Nähe zum Kreislauf von Tod und Auferstehung aufgegangen, vor allem fühlte ich mich durch die Öffnung zum Wesentlichen hin tief beschenkt und beglückt. Jetzt, im Augenblick des Schreibens, ist es mehr: Ich spüre meine Teilhabe am Puls der Schöpfung, am ewigen Entstehen und Vergehen, hier ist auch mein Ort im großen Weltgeschehen, als pulsierendes Herz im Zentrum des unwiderstehlichen Orkans, den wir Evolution nennen.

Eine Spiritualität für alle

Hier liegt meine religiöse Identität, immer tiefer verwurzelt im Wissen um eine Urkraft, für die ich keinen Namen habe. Mit zunehmender Bereitschaft, mich den Stürmen der Evolution zu stellen – noch immer, ein wenig ängstlich, darum bittend, dass ich den zu erwartenden Windstärken gewachsen sein werde.

Ich stelle mir eine Spiritualität vor, die das Licht in jedem Menschen würdigt, wo immer dieser auf seinem Erkenntnisweg auch stehen mag. Eine trans-konfessionelle Spiritualität, die um das Absolute als Essenz jeder Religion oder Konfession weiß. Eine kosmopolitische Spiritualität, die um den Zusammenhang der verschiedenen Gottesbilder mit den unterschiedlichen Spuren weiß, auf denen die Menschheit aus dem Herzen Afrikas den ganzen Erdball besiedelte. Eine trans-religiöse Spiritualität, die auch jenen Heimat bietet, die ihre Religionen und Konfessionen auf der Suche nach dem eigenen Gott oder als Atheisten verlassen haben. Eine globale Spiritualität, die aus der Einheit lebt und die Verschiedenheit der zu ihr führenden Wege würdigt.

Ein Herz, das um seinen Ursprung im Einen weiß, das in der Verschiedenheit – auch in ihren furchterregenden Gesichtern – die Gegenwart des Einen erkennt und das um die Geste der Hingabe an die unendliche Weisheit und Liebe weiß.

— Hans Jecklin

Bücher von Hans Jecklin:
  • Eine Welt oder keine , Kamphausen 2007, 17,80 €
  • Wirtschaft wozu? Abschied vom Mangel (zs. mit Martina Köhler), Edition Spuren 2003, 22,— €

This email address is being protected from spambots. You need JavaScript enabled to view it. wurde 1938 in eine Unternehmerfamilie hinein geboren und entwickelte, zusammen mit seinem Vetter, das von seinem Großvater gegründete Familienunternehmen, das schließlich bis zu 180 Mitarbeiter hatte. Heute begleitet er einzelne und Gruppen zur Entdeckung ihres Wesenskerns und setzt sich für eine »Declaration of Global Spirituality« ein.
www.hansjecklin.ch


Titelseite connection spirit 12/08

Aus dem Heft connection spirit Dezember 2008

connection spirit 03/09

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Nr. 03/09: ab 27.2. im Handel

Eros und Tanz

Seit es Menschen gibt, tanzen sie: Wir berichten von der sakralen Funktion des Tanzes, von seiner Erotik und Heilkraft, seiner Symbolik und Magie.

    • Ibn Arabi

      Vor 800 Jahren lebte der sufische Mystiker Ibn Arabi. Er gilt noch heute als einer der großen Weisen und Vorkämpfer der religiösen Toleranz.
    • Eli und Gangaji

      Welchen Ansprüchen muss das Privatleben eines spirituellen Lehrers genügen? Solche Fragen stellten sich die Fans des Satsanglehrerpaars Eli und Gangaji, als herauskam, dass Eli eine Affäre mit einer Schülerin hatte. Wolfgang Schmidt-Reinecke hat die beiden interviewt

 

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Editorial connection spirit 03/09

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Wolf Schneider
Photo: Aniela Adams

Naivität

Die meisten Menschen sind naiv. Ist das schlimm? Nicht unbedingt. Als Erholung von der Rationalität, vom Voreingenommenen und Berechnenden macht Naivität einen Menschen doch sympathisch. Diese so sympathische Eigenschaft kann aber bös enden, für die Naiven selbst ebenso wie für die von ihrer so gut gemeinten Dusseligkeit Betroffenen. Was die Religionen und die Esoterik anbelangt, scheint unser menschlicher Hang zur Naivität besonders stark ausgeprägt zu sein. In Bezug auf die großen Fragen wie Liebe, Tod und das Jenseits sind wir für Leichtgläubigkeit offenbar sehr anfällig.

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Unterstützung in spirituellen Krisen

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Psychotherapeuten haben seit je – und vielleicht heute mehr denn je – nicht nur mit psychischen Krisen und Krankheiten zu tun, sondern gelegentlich auch mit spirituellen Krisen. Sind sie dem gewachsen? Häufig nicht, meint die Psychologin und Psychotherapeutin Maria-Anne Gallen. Denn dafür braucht es besondere Kenntnisse, Achtsamkeit, und eigentlich auch die spirituelle Reife und Demut der Therapeutin selbst

Meine Beschäftigung mit diesem Thema begann 1993 mit den ersten Anzeichen einer eigenen transformatorischen Krise. Diese kam Anfang des Jahres 1994 heftig zum Ausbruch und führte ab da zu einschneidenden Veränderungen in meinen Denkgewohnheiten und meiner Lebensweise, die bis heute andauern. Für mich war das eine Art Initiation in die weiten Bereiche mystischer Erfahrungswelten. Seitdem fühle ich mich auf einem bewussten spirituellen Weg, mit zwischendrin sehr stürmischen Phasen, die immer wieder von ruhigeren Etappen abgelöst wurden. Angekommen bin ich dabei auf sehr viel tiefere Weise in mir selbst. Gleichzeitig scheint mir das Auf-dem-Weg-Bleiben letztlich meine (Entwicklungs)Aufgabe und der Sinn dieses Lebens zu sein. Da ich (approbierte) psychologische Psychotherapeutin mit humanistischem Schwerpunkt (Focusing) bin, habe ich meinen eigenen Prozess natürlich auch ständig mit fachlichen Augen begleitet.

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Der Tanz der Gegensätze

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In seinem Tanz verkörpert
Gott Shiva Werden und
Vergehen, Schöpfung
und Zerstörung
Ausstellung im Rietberg Museum
Zürich: »Shiva Nataraj – Der
kosmische Tänzer« noch bis
1. März 2009

In der Mitte ist es still, aber zwischen den Polen, da tanzt der Bär

Das erste mal so richtig ekstatisch getanzt habe ich, als ich, ungefähr 17 Jahre alt, nachts im Haus meiner Eltern Eric Burdon and the Animals auflegte. Die Eltern waren verreist, das Haus war leer, die Nachbarn konnten mich nicht hören und auch sonst niemand, und ich hatte es im Wohnzimmer so dunkel gemacht, dass ich gerade noch die Möbel sah, um nicht anzustoßen. Seitdem weiß ich, dass nichts über den Tanz geht – ausgelassenen Tanz, bei dem es einem egal ist, wie man aussieht. Wo man nur dem Rhythmus der Musik folgt, sich in die Klänge hineinstürzt und mit den Melodien fliegt bis ans Ende der Welt. In solchen Momenten passiert mit mir so etwas wie ein innerer Schwur, ein Gelübde, auch wenn dabei keine Worte ausgesprochen werden, nicht mal innerliche: Das ist es! Das werde ich nie wieder vergessen. Dafür lohnt es sich, am Leben zu sein.

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Die Unvollkommenheit des Durchlaufbehälters

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Porträt eines Interviews mit den Satsanglehrern Gangaji und Eli Jaxon-Bear

Der Konflikt um die persönlichen Verfehlungen von Eli Jaxon-Bear hatte im vergangenen Jahr die Satsang-Szene erschüttert. Viele der Fans hatten sich daraufhin von dem Vorzeigegurupaar Eli und Gangaji abgewandt. Im Interview mit connection-Autor Wolfgang Schmidt-Reineke stellt Eli nun die rhetorische Gegenfrage: »Willst du wirklich den Nektar der Unsterblichkeit verweigern wegen einer Unvollkommenheit des Durchlaufbehälters?« Er erweist sich damit der traditionellen Linie seines indischen Gurus Papaji treu, die das Absolute (Gott, die Erleuchtung, die Wahrheit) und das Relative (die Persönlichkeit mit ihrer Schuld und ihren Verstrickungen) nicht miteinander vermanschen will. Treu bleibt er auch der amerikanischen Sexualmoral: »Der größte Fehler meines Lebens war, dass ich mir erlaubte, in zwei Frauen zur gleichen Zeit verliebt zu sein«. Wolfgang Schmidt-Reineke hatte die beiden an ihrem Wohnsitz in Oregon besucht und sie nach den Folgen von Elis Affäre befragt

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