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Subkultursprache
Jede Subkultur hat ihre eigene Sprache. Sie ist Ausdruck und Funktion dessen, was vermittelt werden soll. In der Satsang- und Advaita-Szene gibt es manchmal interessante neue Sprachformen. Zu Zeiten arten diese aber auch in abstrakte Worthülsen aus. Dann haben sie nur noch wenig mit der unmittelbaren Erfahrung zu tun, sondern führen in neue Starre und Unechtheit.
In Veranstaltungen, bei denen ich in der Rolle eines spirituellen Lehrers zur Verfügung stehe, werde ich von Teilnehmern manchmal gefragt: „Wie ist es denn bei Dir: Hast Du noch Gedanken?“ oder „Denkst Du überhaupt noch?“ Hinter solchen Fragen stecken oft vorgefertigte Modelle darüber, was Erwachen oder Erleuchtung für einen Menschen bedeuten würde. Eine sich hartnäckig haltende Vorstellung besteht darin zu glauben, dass ein Mensch, der zu seiner wahren Natur erwacht ist, überhaupt nicht mehr denken würde. Hier wird „Freiheit vom Denken“ mit „Abwesenheit von Gedanken“ verwechselt.

Spirituell korrekt
In meiner Anfangszeit in der Rolle eines Satsang-Lehrers habe ich solche Fragen oft in einer typischen und damals für mich stimmigen Weise „spirituell korrekt“ beantwortet. Tatsächlich entsprachen diese Antworten damals meiner direkten Erfahrung. Und auch heute gibt es verschiedene Ebenen auf der ich die Frage „Denke ich noch?“ für mich selbst – und dann auch für andere – beantworte. Auf einer tieferen Ebene würde ich mein Erleben so beschreiben: Denken findet manchmal statt. Oder: Gedanken tauchen zeitweise auf, ohne dass ich das Gefühl hätte, dass sie von einem Ich oder gar „meinem Ich“ erzeugt werden würden. Doch jetzt gerade taucht beim Schreiben dieser Antworten auch das Gefühl auf, dass solche Formulierungen für mich im Kontext der heutigen Satsang-Szene oft schon abgegriffen erscheinen.
Besonders deutlich wurden mir diese Merkwürdigkeiten einer „spirituelle Sprache“ als ich zufällig ein Youtube-Video von einem recht bekannten Advaita-Lehrer sah. Dieser Lehrer gehört zu denjenigen, die sehr die absolute Ebene des Unpersönlichen betonen - mit Botschaften wie „Es gibt kein Ich“ oder „Niemand handelt“ usw.
Der Interviewer stellte im Video eine Reihe von ähnlichen Fragen. Sie wurden vom Lehrer auf ähnliche Weise beantwortet. Das lief in etwa so:

Interviewer: „Wie ist es denn jetzt für Dich: Hast Du noch Ängste?“
Lehrer: „Angst taucht auf. Aber es gibt kein Ich, das diese Angst hat?“
Interviewer: „Hmmmh, und wie ist es mit Wut: Wirst Du manchmal so richtig wütend?“
Lehrer: „Wut taucht auf. Aber es gibt niemanden, der sie hat.“
In der Art ging es noch etwas weiter. Dann machte der Interviewer irgendeinen Scherz. Die Atmosphäre lockerte sich. Beide begannen öfters zu lachen. So drehte sich das Gespräch zunächst in eine andere Richtung. Doch plötzlich viel dem Interviewer wieder eine Frage ein: „Was ich eigentlich auch noch wissen wollte: Träumst Du eigentlich noch?“ Der Lehrer antwortete im heiteren Gesprächsfluss spontan: „Ja natürlich träume ic…“ Dann spürte man förmlich, wie sich der Lehrer innerlich auf die Zunge biss. Mitten in der Formulierung von „ich“ rief er sich selbst zur Ordnung und stoppte. Dann antwortete er ernst: „Träume tauchen auf, aber es ist keiner da, der träumt“.
An dieser Stelle musste ich herzlich lachen. Mir wurde noch mal um einiges deutlicher, wie ich selbst in der Vergangenheit wohl auch einer ähnlichen Künstlichkeit - getreu dem Advaitasprech - verfallen war. Bloß nicht von der absoluten Wahrheit abweichen! Bloß dem Ich-Gedanken kein Gewicht geben! Immer sofort auf das transzendente Sein schauen! Das war die damalige Maxime.

Sprache ohne Ich-Gedanken?
Ich erinnere mich daran, wie ich damals dachte: „Wir sollten eigentlich eine ganz andere Sprache sprechen, in der der Ich-Gedanke nicht mehr gebraucht wird.“ Diese Intention hatte eine gute Absicht und auch eine hilfreiche Funktion. Es ist offensichtlich, wie stark die Fehl-Identifikation mit unserer Person Leiden erschafft. Auf der gedanklichen Ebene wird dieses Leiden durch den Ich-Gedanken eingeleitet.  Die Begrenzungen und Einschränkungen, die ihm oft folgen, verlocken uns in eine Leidens-Trance: „Ich bin… nicht gut genug …hässlich …dumm … traurig“ „Ich… schaffe es nicht“ „Ich …muss das tun, obwohl ich es eigentlich nicht will …brauche, dass Andere mich lieben.“ All diese Leidensmuster beginnen mit und knüpfen sich an den Gedanken „Ich“. Deshalb ist es tatsächlich äußerst hilfreich – und ich würde sagen ein „Muss“ echter Selbsterforschung –, wachsam für den Ich-Gedanken zu sein. Erst wenn wir ihn als Gedanken entlarven, wird uns klar, dass wir ihm und seinen Anhängseln nicht zwanghaft folgen müssen. Dann werden wir darauf neugierig zu erforschen, was das eigentliche Seinsempfinden des ICH BIN ist, bevor sich unsere Aufmerksamkeit in der Fehl-Identifikation mit „Ich bin…“-Gedanken verliert.
Insofern ist es ein spannendes Experiment, wenn wir uns vorstellen, vielleicht einen ganzen Tag konsequent auf den Ich-Gedanken zu verzichten. Natürlich wird er trotzdem auftauchen. Aber wie wäre es, wenn wir jeden Gedanken in dem „ich“ vorkommt nutzen um zur reinen Präsenz aufzuwachen. Wie ein Meditationsgong der uns zum Innehalten einlädt: „Ich…“ –Goooooonnnnng – Stille.

Lass Zwergnase denken
Wem das zu radikal erscheint könnte einen lustigen Zwischenschritt ausprobieren: Wie wäre es, den Ich-Gedanken durch einen anderen Gedanken zu ersetzen. Anstatt „Ich“ könnten wir den Namen einer netten Märchen- oder Fabelgestalt einsetzen. Die Auswahl ist groß: Zwerg Nase. Hans im Glück. Die Prinzessin auf der Erbse. Puh der Bär. Auch Gestalten aus Fernsehserien eignen sich: Graf Zahl, Biene Maja oder der rosarote Panther. Das mag sich albern anhören, bis wir es tatsächlich ausprobieren. Ein stressiger Gedanken am Morgen wie „Jetzt muss ich schon wieder so früh aufstehen!“ fühlt sich ganz anders an, wenn wir ihn mit „Jetzt muss Zwergnase schon wieder so früh aufstehen!“ ersetzen. Im Badezimmer schauen wir in den Spiegel und denken: „Biene Maja sieht ja ganz verquollen aus.“ Am Frühstückstisch macht es uns wenig aus, wenn bloß die Prinzessin auf der Erbse so morgenmuffelig dreinschaut, während wir schon über diese Idee schmunzeln. Und unser Kontostand macht – Gott sei Dank - nur Graf Zahl sorgen. Solches „Gedanken-Ersetzen“ ist kein Allheilmittel. Doch es macht deutlich, wie leicht und spielerisch wir die Muster von Fehlidentifikation aufbrechen können.
Auch eher abstrakte Advaita-Sprache erfüllt diesen Zweck:  „Hier wird gerade Wut erlebt“ kann sich sehr viel leichter anfühlen als „Ich bin wütend“. „Nachdenken geschieht“ ist auf eine Art wahrer und müheloser als „Ich denke nach“. Allerdings sollten wir auch wachsam dafür sein, wenn solche Sprachmuster zu einer neuen starren Gewohnheit werden. Dann enden sie manchmal in einer kaum zu überbietenden Künstlichkeit. „Hier ist niemand da, der jemals etwas getan oder gelassen hat“. Stimmt! Aber dieser Niemand könnte das doch besser in edlem Schweigen kommunizieren. Und meist ist der Einzige, der andere von seinem Niemand-Sein überzeugen muss, ein fetter Jemand.

Wieder normal werden
Nachdem ich selbst solch eine Phase des Advaitasprechs durchlaufen habe, bin ich langsam wieder auf den Geschmack des Normalen gekommen. Ich finde es mittlerweile viel spannender eine Sprache zu benutzen, die sich natürlicher anfühlt. Das spricht vielleicht auch an, die noch nicht in Kontakt mit Advaita- und Satsangideen gekommen sind, aber sich sehr wohl nach Freiheit sehnen und reif für ein tiefes Verständnis sind.
Dabei gönne ich mir immer mal wieder ein wenig Advaitasprech, eben weil es auch so gut  Wahrheit ausdrückt. Aber wer die Keiner-ist-hier-Sprache nicht versteht kann bei mir gerne nachfragen. Im Gegensatz zu dem oben erwähnten Lehrer. Von ihm habe ich noch eine vielsagende Geschichte gehört: Eine Teilnehmerin einer seiner Vorträge rief den Lehrer am Tag nach der Veranstaltung an. Ihr hatte der Vortrag gut gefallen, sie hatte allerdings noch eine dringende Frage. Der Lehrer ging ans Telefon. Die Frau begann: „Also ich habe da noch ein Frage…“ Weiter kam sie nicht. Sie hörte aus der Leitung nur noch ein genervtes „Es gibt kein Ich!“ und schon hatte der Lehrer schon aufgelegt. Das mag man „radikale Lehre“ oder „absolute Arroganz“ nennen.

Denke ich noch?
Zurück zur Frage „Denke ich noch?“. Heutzutage neige ich oft zu einer verdammt normalen Antwort: „Ja klar denke ich noch! Ich bin doch nicht zu einem hirnlosen Deppen geworden.“ Und während diese Antwort gedacht, gesagt oder geschrieben wird, ist im Hintergrund trotzdem die Gewissheit da, dass es tatsächlich kein Ich gibt, welches diesen Gedanken eigenständig hervorbringt; dass nichts anderes als das allumfassende SEIN genau diesen Gedanken gerade jetzt denkt; und dass auf einer noch tieferen Ebene selbst der Gedanke „Gedanke“ ein substanzloses Phänomen ist, das niemals existiert hat - im Sinne von „aus sich selbst heraus bestehend“.
Und hier fällt mir banaler Weise der alte Schlager von Juliane Werding ein: „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst…“. Wenn wir das erkennen, haben wir ein leichtes Spiel – mit oder ohne Advaitasprech.

Torsten Brügge, Hamburg 3.12.2013



 


 

 
 




 



 





 

 

 

 

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Posted by on in Torsten Brügge

Lasst uns Rettungsflugzeugträger bauen!

Die schreckliche Naturkatastrophe auf den Philippinen zeigt wie verletzlich die Menschheit ist und offenbart Abgründe von Hilflosigkeit, Schmerz und Leid. Das bricht mir manchmal das Herz - noch weiter auf.

Zugleich finde ich es berührend, welche Betroffenheit sich in großen Teilen der Weltbevölkerung und auch auf der Ebene der nationalen Regierungen zeigt und dass daraus auch echte Hilfshandlung folgen. Ermutigend ist für mich, dass die USA ihren Flugzeugträger "USS George Washington" mit 5000 Marinesoldaten und 80 Flugzeugen an Bord zu humanitären Hilfsarbeiten in das Katastrophengebiet schickt. War das früher schon so, dass nationale Katastrophen weltweit so viel und "so schnell" breite Betroffenheit und konkrete Hilfsangebote auslösten? Ich möchte hoffen: Globale Anteilnahme und Mitgefühl haben zugenommen und finden zunehmend auch Ausdruck in politischer und ganz praktischer Handlung.

Heute Nacht um 3:30 Uhr kam mir die naive Idee: "Lasst uns Rettungsflugzeugträger bauen!" Ein moderner Flugzeugträger kostet einen Anschaffungspreis zwischen 2 und 12 Milliarden Euro. Der Unterhalt schlägt mit ca. 800 Millionen Euro pro Jahr zu Buche. Das kann sich eine Weltgemeinschaft locker leisten!

Flugzeugträger stellen heute mit die Spitze der militärischen Machtinstrumente dar. Sie können auf dem ganzen Planeten flexibel und autonom operieren. Es gibt weltweit ca. 40 aktive Flugzeugträger. Doch was bringen Flugzeugträger bisher in die entlegendsten Ecken der Welt? Militär, Waffen, Bomben, Gewalt und Tod.

Man stelle sich vor, ein globaler Verbund von Nationen unter Leitung einer internationalen Organisation würden nur einen oder zwei Flugzeugträger bauen oder umrüsten, die nicht für den militärischen Einsatz, sondern für rein humanitäre Zwecke der Unterstützung bei Naturkatastrophen und ähnlichen globalen Wunden der Menschheit auf Mutter Erde dienen.  Was würden diese Schiffe dorthin bringen? Nahrung, Wasser, medizinische Versorgung, Aufbau von Infrastruktur, Mitgefühl, Linderung von Leiden, Dankbarkeit. Man stelle sich vor, welche Motivation die vielleicht 3000-5000 Besatzungsmitgliedern dieses Rettungsgiganten beflügeln würde: Ein sprudeln von Energie und Engagement im Dienst einer höchst sinnvollen Aufgabe.

Vielleicht können die Amerikaner damit anfangen - immerhin tun sie es ja schon ein wenig mit ihrer jetzigen Hilfsaktion. Wie würde sich der Ruf der Amerikaner als "Weltpolizist" ändern, wenn sie vielleicht die Initiative für ein solches Projekt übernehmen wollen. Wie begeistert wären die Bürger anderer wohlhabenden und armen Staaten, sich an einem solchen Projekt beteiligen zu können.

Ist eine solche Idee wirklich naiv? Mag sein. Auch 10 oder 100 solcher Schiffe wären nur ein Tropfen auf den heißen Stein des menschlichen Leides und es gibt viele Ebenen von Leiden, die wir auf andere Art und Weise, durch die Erforschung unseres Bewusstseins durchdringen und lösen müssen.

Aber verdammt nochmal: Es ist auch an der Zeit, Rettungsflugzeugträger zu bauen!

 in stillem Mitgefühl für die leidenden Menschen auf den Philippinen

 Torsten Brügge, 13.11.2013

 

 

 

 

 

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Anmerkung vorweg: Ich hätte mir gewünscht, den Inhalt dieses Blogbeitrages kürzer fassen zu können. Doch nach vielfacher Überarbeitung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Komplexität dieses Thema auch einen entsprechenden Raum braucht. Ich mute dem Leser hier eine gewisse Überlänge zu. Aber auch manch guter Kinofilm wäre ohne Überlänge nur ein Flop geworden. Wer trotzdem gerne ohne genauere Vorerklärungen zu dem Kernpunkt diese Beitrages "Die Wichtigkeit relativer Wahrheiten“ springen will, kann auch ab der Überschrift „Spirituelle Bezeichner" anfangen zu lesen.

 

 

Der Dreisatz des Advaita

 

Im Folgenden möchte ich meinen letzten Blog-Beitrag „Der Erdbeergeschmack des Absoluten“ um eine weitere Perspektive ergänzen. Im Beitrag hatte ich ausgeführt, wie ein differenziertes Verständnis einer absoluten und einer relativen Seinsebene bei der Reflektion spiritueller Selbst- und Welterkenntnis hilfreich sein kann. Dabei ist es wichtig, ein paradoxes Nebeneinander dieser beiden Dimensionen zuzulassen, anstatt in eine einseitige Überbetonung eine der beiden Dimensionen zu verfallen. Ein solches Verständnis kommt übrigens auch in dem klassischen „Dreisatz des Advaita-Vedanta“ zum Ausdruck:

 

1. Die Welt ist unwirklich
2. Nur Brahman allein ist wirklich
3. Brahman ist die Welt

 

Formulieren wir diese Sätze einmal als eine Abfolge von Einladungen zur Selbsterkenntnis, könnte sich das so anhören:

 

  1. Durchschaue, dass unsere herkömmliche, relative Sichtweise der Wellt eine Täuschung ist
  2. Erkenne das unveränderliche, ewig bestehende, absolute Sein
  3. Erfahre, dass die relative Ebene vom absoluten Sein nicht getrennt ist, sondern eine Spielart des Absoluten darstellt und wertschätze so alles Relative auf neue Weise

 

Ich möchte dem Verständnis von relativer und absoluter Ebene eine kleine aber wichtige Variation hinzufügen. Wie so oft habe ich diese ergänzende Sichtweise in großer Klarheit zum ersten Mal in den Texten Ken Wilbers entdeckt. Wilber findet häufig treffende Begrifflichkeiten von „Wahrheiten“, die ich in meiner eigenen Erfahrung selbst intuitiv oft schon erahnt habe, für die mir aber klare Worte fehlten. Ich bin Wilber immer wieder sehr dankbar dafür, dass er für so Vieles einleuchtenden und erleuchtende Begrifflichkeiten findet.

 

Alles illusorische Wahrgebung

 

Auf der relativen Seinsebene – die ich hier auch „Erscheinungswelt“ nennen möchte – nehmen wir voneinander getrennte Objekte und Wesen, Schwankungen von Zuständen, den Fluss von Zeit und die Vielfalt von Phänomen war. Aus der absoluten Perspektive - der Dimension unveränderlichen Gewahrseins – können wir alles Relative als reine Illusion betrachten. Ich werde die Aussage des letzten Satzes später selbst wieder relativieren, möchte aber zunächst begründen, warum sie einen plausiblen Wahrheitsanspruch hat: Die Hirnforschung hat mittlerweile klar festgestellt, dass uns die Erscheinungswelt immer durch den Filter neuronaler Verarbeitung vermittelt wird.

 

Die Welt „da draußen“ ist ein Konstrukt unseres Geistes. Unsere meist unwillkürlichen Denkprozesse bündeln das Chaos unfassbar vieler Sinneseindrücke und deren Assoziationen mit vergangenen Erfahrungen zu Informationen mit Bedeutung..

 

Diese Verarbeitungsprozesse sind dabei von einem derartig umfangreichen Ausmaß, dass zum Beispiel der Hypnotherapeut Dr. Gunther Schmidt die Auffassung vertritt, wir sollten anstelle des Begriffs „Wahrnehmung“ lieber das Wort „Wahrgebung“ verwenden. In seinen Vortragen scherzt er mit seinen Zuhörern: „Wie Sie für mich aussehen, bestimme immer noch ich - beziehungsweise die Verarbeitungsprozesse in meinem Gehirn. Sie können noch so schön sein, wenn mein Gehirn es will, sehe ich Sie hässlich. Oder Sie können noch so hässlich sein, mein Gehirn kann Sie locker schönsehen.“

 

Das macht deutlich, dass der Sinngehalt, den wir unseren Wahrnehmungen zuschreiben, nicht als etwas von vornherein Bestehendes erkannt, sondern immer durch unser Denken als Deutung zugeschrieben wird.

 

Nur scheinbar beständig

 

Dabei vermittelt uns unser gewöhnlicher Gedankenprozess zunächst, dass die Objekte der Welt als scheinbar voneinander getrennte und aus sich selbst bestehende, feste Objekte bestehen würden. Uns erscheinen Objekte der äußeren Welt (Gegenstände, Wesen, Stoffe) und Objekte der inneren Welt (Körperzustände, Gefühlszustände, Geisteszustände) als „echt echt wirklich wirklich“ (ebenfalls ein Zitat von Dr. G. Schmidt). Gedanken wie „Dies ist ein Tisch“ oder „Ich erlebe Angst“ vermitteln uns den Eindruck, dass es einen Tisch oder Angst tatsächlich so gibt, wie es uns erscheint. Auch die Benennung „Ich" und die Ideen „Ich bin dieser Körper“ und „Ich bin diese Person“ sind Teil der vom Denken vorgegebenen Täuschung.

 

Erforschen wir genauer, was die Natur dieser Gedanken ist, dann finden wir in unserer direkten Erfahrung heraus, dass es sich nur um subtanzlose und höchst vergängliche Erscheinungen handelt. Gedanken kommen und gehen. Sinneseindrücke kommen und gehen. Gefühle kommen und gehen. Sowohl durch innere (kontemplative) als auch durch äußere (objektiv wissenschaftliche) Erforschung entdecken wir, dass sowohl jedes innerlichen Erleben als auch jedes äußerlich beobachtbare Phänomen durch Vergänglichkeit gekennzeichnet ist. Der Buddha nannte deshalb „vergänglich“ (sanskrit: annica) als eine der drei Wesensmerkmale aller Erscheinungen. Unsere Gedanken erwecken zwar den Anschein, die Erfahrungsobjekte besäßen Beständigkeit, doch dabei handelt es sich um eine Täuschung.

 

Und gerade diese Gedankenwelt, die uns Festigkeit vorgaukelt, ist das am meisten unfassbare Phänomen. Sobald wir einen Gedanken wirklich innerlich betrachten, löst er sich auf oder wird von anderen abgelöst. Mit meditativem Gewahrsein können wir uns davon jederzeit selbst überzeugen. Diese mysteriöse „geistige Energie“, die unsere Wahrnehmungswelt erschafft, beschreiben manche spirituellen Ausrichtungen als „Licht“ oder „Ton“. Das hat insofern seine Berechtigung, als dass die meisten Menschen gedankliches Geschehen als innere Stimme hören oder als Abfolge von Bildern, Symbolen oder Schriftzeichen vor ihrem inneren Auge sehen. Doch sollten wir dabei nicht vergessen, dass auch die Begrifflichkeiten „Ton“ und „Licht“ wiederum nur konzeptuelle Metaphern sind und keineswegs gegebene, absolute Begrifflichkeiten darstellen. Das werde ich später noch im Zusammenhang mit dem von Wilber als so wichtig erachteteten „Mythos des Gegebenen“ genauer erläutern.

 

Keine Bedeutung ohne Kontext

 

Unser begriffliches Denken versucht eine Vielfalt von Sinneseindrücken zu bündeln und zu einer greifbaren, nutzbaren Vorstellung zu verdichten. Hinzukommt, dass Begriffe nie für sich alleine Bedeutung haben. Ihr Sinngehalt wird erst durch ein Assoziationsnetzwerk mit einer Vielzahl anderer Gedankenkonstrukten erschaffen. Kurz gesagt: Bedeutung ist immer auch kontextabhängig: Ein „Auflauf“ kann etwas vollkommen anderes bedeuten, je nachdem, ob wir damit eine leckere Mahlzeit oder eine Ansammlung von Menschen verknüpfen. Eine „Lösung“ könnte die hilfreiche Antwort auf eine Fragestellung, die Mischung einer Substanz in einer Flüssigkeit oder die Beendigung einer zwischenmenschlichen Beziehung bedeuten. Für sich genommen - ohne Sinnzusammenhang - ist „L ö s u n g“ nur die Kombination von sinnlosen Lauten oder Symbole aus Strichen, Kurven und Punkten. Das ist es, was der Buddha mit „anatta“ (sanskrit: ohne eigenständiges Selbst), dem zweiten Wesensmerkmal aller Erscheinungen, meinte. Damit nahm er die Ansätze modernen systemischen Denkens vorweg: Jedwede Escheinung und die Bedeutung, die sie für uns hat, kann nur als eine Wechselwirkung von miteinander in Beziehung stehenden Elementen verstanden werden. Die Bedeutung eines Begriffes - und damit die Interpretation der Erscheinungswelt - ist immer nur in einem Kontext von anderen Sinnzusammenhängen denkbar. Für sich genommen ist jedes Wort nichts als bedeutungsloser Schall und Rauch – und nicht mal das, denn auch „Schall“ und „Rauch“ gibt es nicht als eigenständige Begrifflichkeiten.

 

Jenseits von Deutungsfiltern

 

Der Kontext von Bedeutung ist nicht etwas fest vorgegebenes, sondern vermittelt sich über ein hochkomplexes Entwicklungsnetzwerk menschlicher Evolution von Kultur und Sprache. Erst dadurch, dass „Begriffswelten“ über viele Menschengenerationen hinweg weitergegeben und verändert wurden entstand genau das Interpretationssystem, durch dessen Filter wir unser Erfahrungen hier und jetzt wahrnehmen und beschreiben. Kurz: Das erste „Ugaahh ugaahh happa happa ugahh“ vor 6 Millionen Jahren brauchte einige Zeit bis es sich zu einem wohlformulierten: „Kommt doch bitte zu Tisch, unser veganer Tofubraten samt grünem Smoothie ist fertig und wir können jetzt essen“.

 

Die Tatsache, dass in diesem Moment die Sätze dieses komplexen Textes durch meinen Kopf gehen und aufgeschrieben werden können, baut auf unzähligen Entwicklungsleistungen der Evolution auf. Der frühscholastische Philosoph Bernard von Chartres hat dazu ein schönes Bild: „Wir sind gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können - freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns zu Hilfe kommt und uns emporhebt.“ Ich könnte auch sagen,  dieser Haufen Sternenstaub hier hat in 14 Milliarden Jahren langsam aber sicher über sich selbst nachdenken und sprechen gelernt.

 

Natürlich könnten auch solche Beschreibungen aus einer absoluten Perspektive in Frage gestellt werden: Gibt es überhaupt Zeit? Gibt es Raum? Gibt es ein Universum? Gibt es Begriffe? Gibt es einen Geist? All das sind wichtige Fragen. Und wir ahnen vermutlich wortlos, dass wir diese aus den tiefsten Ebenen unseres Seins sogar mit einem entschiedenen "Nein" beantworten könnten. Das ist jedenfalls die mystische Schau, die zum Beispiel auch Sri Ramana Maharshi zu Teil wurde und die er mit dem Satz „Nichts ist jemals geschehen“ auf den Punkt brachte.

 

GLEICHZEITIG können wir dieses "Nein" nur Denken und aussprechen, weil wir mit einem bestimmten Aspekt unseres Seins eben doch als ein Mensch in Raum und Zeit erscheinen – auch wenn es statt einer „Raumzeit“ eher eine „Traumzeit“ sein mag. Dieser Mensch lernte als Säugling im Schneckentempo "jjjj...aaaaa“ und "nnnnnn.....ei … ei …ei.....nnnnn" schlicht dadurch, dass er seinen Eltern zunächst sinnlos erscheinende Laute nachplapperte und davon diejenigen auswählte, die eine emotionale Resonanz bei ihnen hervorriefen. Daraus folgt, dass jeder Mensch diesem Konditionierungsprozess von Sprache, die seine Art der Wahrnehmungsfilterung prägt, ausgesetzt ist. Dieser Wahrnehmungsfilterung der konditionierten Denk- und Sprachbildung können wir nicht entgehen! Selbst wenn wir über tiefste philosophische oder spirituelle Erkenntnisse sprechen und zum Beispiel unsere gedanklichen Deutungen als „Ton“, „Licht“ oder „Energie“ bezeichnen, geschieht dies immer im Rahmen unserer sprachlichen Prägung und hat schon deshalb keinen absoluten Wahrheitsanspruch.

 

Der Mythos des Gegebenen

 

In dieser Beziehung weist Wilber auf den „Mythos des Gegebenen“ hin, der bei einigen spirituellen Lehrern und Lehren nicht einbezogen wird. Hier wird manchmal davon ausgegangen, dass bestimmte Begrifflichkeiten und deren assoziatives Netzwerk so etwas wie festgeschriebene, nicht weiter-hinterfragbare Wissen und Wahrheiten darstellen würden. Doch das ist ein Irrtum höchsten Ranges! Er wurde in der westlichen Kultur durch den postmodernen Konstruktivismus aufgedeckt: Kein Verständnis ist einfach nur „so da“, sondern immer nur im konstruierten Kontext unserer geprägten Sprachkultur gedeutet. Dies gilt auch für die Begriffe „Licht“, „Ton“, „Zeit“, „Realität“ und „Illusion“ – und „überhaupt Alles“. Wenn wir über sie so sprechen, als wüssten wir, was sie „wirklich wirklich echt echt“ bedeuten, übergehen wir die Tatsache, dass sie für jeden Menschen, zu jeder Zeit, unter verschiedenen Umständen etwas sehr Anderes bedeuten können und häufig auch tun.

 

Illusion der Illusion

 

Das aber wirft uns zurück auf einen merkwürdigen inneren Widerspruch, der gerade die vermeintlich tiefsten Aussagen über absolute Dimension und Erscheinungswelt des Seins nicht verschont. Denn wenn wir Aussagen machen wie „Die Welt ist nicht real. Alles ist Illusion“ klingt das zunächst verlockend schön nach einer absoluten Wahrheit, an der sich unsichere Seelen endlich festhalten können. „Hurra jetzt weiß ich es: Die Welt ist nicht real. Alles ist Illusion. Das ist es!“. Doch dabei übersehen wir leicht, dass auch „Welt“, „real“ und „Illusion“ genau denselben illusorischen und relativen – weil vergänglichen und kontext-bezogenen – Charakter haben, wie alle anderen Begrifflichkeiten. Insofern ist die Aussage „Die Welt ist Illusion“ selbst pure Illusion und erweist sich als genauso falsch oder richtig wie die Aussage „Die Welt ist real“ oder „Die Welt ist ein halbverbrannter Apfelkuchen“.

 

Solche Betrachtungen machen deutlich, was alle Mystiker in direkter Innenschau entdeckt haben und sich im Tao de King in einem Satz verdichtet findet: „Das Tao, das du benennen kannst, ist nicht das wahre Tao.“ Diese Einsicht ermuntert uns zu einer wunderbaren Achtsamkeit: Egal was sich als vermeintlich absolute Wahrheit in unserem Geist formuliert, es ist letztlich nur ein substanzloses Konzept.

 

Dabei können Wort und Vorstellungen sehr wohl einen Hinweis-Charakter auf die absolute Seinsdimension haben – ob wir diese nun Tao, Buddha-Natur, GEIST, Allah oder Gott nennen. Dann deuten Worte über sich selbst hinaus auf ein WISSEN, das unmittelbarer und vor der begrifflichen Festlegung besteht. Doch sollten wir äußerste Vorsicht walten lassen, dass wir die Worte, die wir für die Beschreibung der direkten Schau benutzen, nicht wieder als „die Wahrheit selbst“ missverstehen. Nach meinem Empfinden gilt das für absolut JEDEN Satz, der uns über irgendeine Art spiritueller Wahrheit im Gehirn aufleuchtet, seinen Weg auf die Zunge, auf ein Blatt Papier oder in den Cyberspace auf einen Blog findet. Lassen wir dies außer Acht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir Wahrheitseinblicke wieder zu neuen Wahrheitskonzepten zementieren und uns und Anderen diesen Kunststeine auf den Kopfhauen.

 

Unfassbares Wissen

 

Dabei dürfen und sollten wir es Wert schätzen, dass Sprachbildung und die Erweiterung begrifflichen Denkens in der Evolution überhaupt stattgefunden haben. Erst dadurch können wir über Realität und Illusion überhaupt begrifflich reflektieren. Jedes intelligente In-Frage-Stellen findet in diesem Sinne also mit Begrifflichkeiten statt, die wir zunächst unhinterfragt angenommen haben. Im Falle tieferer philosophisch-spiritueller Erkenntnisse stellen sich die Begrifflichkeiten dann wieder selbst in Frage, bzw. weisen über sich hinaus auf eine andere Dimension des VERSTEHENS. Ist das nicht ein Wunder in sich selbst? In Entwicklungsmodellen nennt man dies das „Prinzip der Emergenz“ (Emergenz=Emporsteigen). Das besagt, dass auf einer höheren Ebene das Neue immer mehr ist, als die Summe seiner alten Teile. Die alte Ebene wird transzendiert, weil das Neue mehr Weite und umfassendere Freiheitsgrade offenbart. So überschreitet die Ratio sich selbst und emergiert in transrationale Reflektion. Begriffe stellen ihre eigne begriffliche Wahrheit in Frage und die Reflektion weitet sich in mystische Bereiche unfassbaren und doch klaren Wissens.

 

Aber nochmal zurück und weil es etwas komplex ist, hier eine kleine Wiederholung: Wie wir etwas interpretieren und damit wie wir auf der Ebene der Erscheinungswelt „unsere Welt“ sehen, hängt von den Interpretationsfiltern unseres begrifflichen Denkens ab. Diese schaffen die Perspektive. Wenn wir sowohl die Kontextabhängigkeit als auch die Substanzlosigkeit von gedanklichen Phänomenen tiefgreifend erkennen, dann kommen wir zu dem Schluss, dass letztlich jeder Gedanke und das, was er als Wirklichkeit zu erkennen vorgibt, einen illusorischen Charakter hat. Anders gesagt: Ein Gedanke konstatiert nie eine unveränderlich, aus sich-selbst heraus bestehende Wirklichkeit, sondern stellt bloß eine relative Perspektive dar, die vom Subjekt und dessen kulturell-konditionierter Eingebundenheit geformt wird. In diesem Sinne hat eine gedankliche Erkenntnis, wie der Buddha sagt, auch immer einen unbefriedigenden Charakter (das 3. Wesensmerkmal von dukkha = „leidvoll/unbefriedigend“) – zumindest dann, wenn wir von ihr erwarten, dass sie uns eine verlässlichen universale Wahrheit widerspiegeln sollte. Sorry liebe absolute Wahrheit, du hast keine Chance! Dich gibt es nicht!

 

Wahrheit ist kein Gedanke

 

Erstaunlicherweise weist genau die Erkenntnis, dass wir das Absolute nicht gedanklich fassen können, auf die absolute Dimension reinen Gewahrseins hin. Dazu reicht es allerdings nicht aus, sich nur mental an den Rand des rationalen Verstehens zu begeben. Wir müssen uns auch in die lebendige innere Erfahrung und das kontemplative Erkunden meditativer Bewusstseinszuständen fallen lassen. Wenn ich erkenne und spüre, dass alles, was gedacht wird, nicht absolute Wahrheit sein kann, bin ich eher bereit, die Wahrheit „meiner Identität“ und „meiner Welt“ nicht mehr an Gedanken fest zu machen. Dann lasse ich mich ganz von alleine auf eine radikal andere Weise der Wahrnehmung ein. Die spirituelle Lehrerin Byron Katie weist auf diese Öffnung hin, wenn sie fragt „Wer wärest Du ohne Deine Gedanken?“ Hier eröffnet sich uns eine innere Stille, die das Auftauchen von Gedanken nicht mit dem Sehen von Wirklichkeit verwechselt, sondern sich als ein Ruhen in reiner nicht-begrifflicher Bewusstheit offenbart. Natürlich sind auch die Begriffe „innere Stille“ und „reine Bewusstheit“ wieder nur gedankliche „Zeichen“ für eine Wahrheit jenseits vom Denken.

 

Zeichen und Bezeichnetes

 

Die Semiotik, die wissenschaftliche Betrachtung von Zeichensystemen aller Art (zum Beispiel Bilderschrift, Gestik, Sprache), beschreibt es sehr gut. Sie macht einen Unterschied zwischen Signifikant (Bezeichnendes) und Signifikat (Bezeichnetes). Die gedanklichen Zeichen, also zum Beispiel der formulierte Gedanke „Erdbeere“ verweist auf die komplexe Erfahrungsbedeutung, die wir mit diesen Zeichen verknüpfen. Natürlich ist das Wort „Erdbeere“ nicht die Erfahrung der Erdbeere selbst. Diese „Bedeutung“ erschließt sich uns erst, wenn wir uns irgendwann mal auf die direkte Erfahrung einer Erdebeere eingelassen haben und ein komplexes Netzwerk weiterer Erfahrungselemente, wie zum Beispiel die sinnliche Repräsentation von deren Aussehen, Geruch, Geschmack, Konsistenz, usw., geknüpft wurde.

 

Der Sinngehalt eines Zeichens lässt sich also nur aus dem Zusammenhang mit anderen verknüpften Repräsentationen ableiten (Kontextabhänigigkeit, siehe oben). Das nennt man dann Semantik. Und diese lässt sich nur durch ein Regelwerk von Zeichenstrukturen (Syntax), welche die jeweilige Signifikate miteinander verbinden und strukturieren, beschreiben. Das hört sich kompliziert an und ist es - verdammt noch mal - auch. Dennoch hilft uns ein Verständnis dieser Sprachelemente, den Glauben an die Festigkeit unserer gewohnheitsmäßigen Wahrnehmungskonstruktion aufzubrechen und macht deutlich wie grundlegend alles "Wahrgebung" statt "Wahrnehmung" ist.

 

Spirituelle Bezeichner

 

Außerdem kann uns das Wissen um diese Grundlagen der Semiotik deutlich machen, dass spirituelle Begriffe immer nur „Bezeichner“ für Erfahrungen sind, deren direktes Erleben jeweils im Bedeutungsnetzwerk eines jeden Menschen und bezüglich seiner kulturellen Eingebetetheit sehr unterschiedlich sein können. Das ist vermutlich auch der Grund dafür, dass alle authentischen Mystiker und spirituellen Meister ihre direkte Schau von Wahrheit einerseits in ihrer eigenen Sprache mit Nachdruck bezeugen, andererseits aber gleich wieder mit der Ergänzung versehen: „Bitte glaubt meinen Worten nicht! Macht Eure eigene Erfahrung!“ Sie sind sich dessen bewusst, dass ihre Worte nur Hinweiszeichen sind. So sehr diese aus als hilfreiche Inspiration wirken mögen, nur die selben Worte des Lehrers nachzuplappern hilft dem Schüler nicht! Denn Jeder und Jede "muss" ihre ganz eigene Erfahrung selbst machen.

 

Die knifflige Rolle spiritueller Bezeichner bringt Sri Nisargadatta auf den Punkt. Seine vielfältigen Erläuterungen über die absolute und mystische Dimension von Wirklichkeit begann er manchmal mit dem Satz: „Ich versichere Ihnen: Alles was ich sage ist eine Lüge, aber das, worüber ich spreche, ist die Wahrheit.“

 

Offenes Nicht-Verstehen

 

Es gibt vielfältige Zugänge und unterstützende Selbsterforschungen, die das direkte Erfahren der absoluten, nicht-begrifflichen Seinsebene bahnen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass unser Geist loslässt und in seine stille Quelle zurücksinkt. (Man verzeihe mir die Eigenwerbung, aber in meinem Buch „Besser als Glück“ beschreibe ich eine ganze Menge von ihnen). Aus dieser absoluten Ebene heraus können wir mit Fug und Recht sagen: Jede begriffliche Aussage, die eine unumstößliche Wahrheit festlegen will, ist bloße Illusion. Dies gilt übrigens auch für die vermeintlich unumstößliche Aussage des vorherigen Satzes. Und da haben wir es wieder: Den Geschmack des Paradoxen! Ist es wahr, dass nichts wahr ist? Und wenn das wahr wäre, wäre es dann nicht zugleich unwahr, weil dann eben auch nicht wahr sein könnte, dass nichts wahr ist? Sind solche Reflektionen verrückt? Nein. Sie bringen unseren Verstand nicht an den Rand des Wahnsinns, sondern an die Grenzen rationalen Denkens. Und von dort aus darf sich unser Geist gerne in den unfassbaren Raum nicht-zu-verstehender Stille werfen – einfach nur mal eben so. Gerade jetzt. Wer mag, nehme hier also einen tiefen Atemzug und genieße den Wandel kurzer Verwirrung in die Hingabe ans Nicht-Wissen. Sollte da gerade die Ahnung aufleuchten „Dann kann und brauche ich ja gar nichts verstehen!" dann ermuntere ich: Ja, richtig. Wir können und brauchen nichts verstehen! Das ist doch ungeheuer entlastend oder nicht !?

 

Der Wert relativer Wahrheiten

 

Und dann geht’s wieder weiter in die Welt des Verstehens: Bisher haben wir die Ebene vermeintlich fester Wahrheiten als illusorisch durchleuchtet. Es hat sich herausgestellt, wie sehr Bedeutungsgebung und Konstruktion von Sinngehalt unsere Sichtweise bestimmen. Die Dinge sind nicht, wie sie sind, sondern werden von uns mit Bedeutung versehen, je nachdem aus welcher Perspektive wir sie betrachten und deuten. Wir haben vielleicht auch schon eine Ahnung oder sogar ein gespürtes Wissen, um die absolute Ebene reinen formlosen und nicht-begrifflichen Gewahrseins. Doch dazwischen gibt es noch eine andere Ebene, die wir ebenfalls beachten sollten: Die Ebenen der relativen Wahrheiten.

 

Dazu eine kleine Geschichte. Stellen wir uns vor, zwei Personen gehen im Dunkeln durch den Wald. Plötzlich glaubt eine Person, dass vor ihr ein großer Mann mit einem langen Messer steht. Sie bekommt schreckliche Angst, dreht sich schon halb um und will weglaufen.

 

Die andere Person hat eine Taschenlampe. Ihre Reaktion stellen wir uns mal auf zwei Arten vor. Sie könnte anfangen den Anderen spirituell zu belehren: „Pass mal auf. Alles was Du wahrnimmst ist in Wirklichkeit gar nicht real. Das hat schon mein spiritueller Lehrer gesagt. In Wahrheit gibt es Dein Ich, das Angst hat gar nicht. Und es gibt auch nichts, was Dich bedrohen könnte. Deine Angst ist eine eingebildete Illusion. Sehe einfach all Deine Gedanken als nicht-real an und Du wirst Dich beruhigen. Und Du kannst auch nicht sterben, denn Du bist das ewige Bewusstsein hinter den Dingen... Was, das hilft Dir nicht?.... Warte ich erläutere Dir das noch mal anders: Also alles ist nur Energie…“ Es mag sein, dass eine solche Aussage bei dem Anderen ankommt und ihn erreicht, doch die Wahrscheinlichkeit ist eher gering.

 

Die andere Person könnte aber auch einfach ihre Taschenlampe einschalten und in die Richtung des vermeintlichen Angreifer leuchten. Sie erkennt, dass da nur ein Bäumchen steht, welches im Mondlicht ein wenig wie die Silhouette eines Menschen mit einem Messer in erhobenen Hand aussieht. Sie ruft „Warte mal! Da ist gar kein Angreifer, sondern nur ein Bäumchen. Du hast gerade Angst, weil Du glaubst etwas Bedrohliches gesehen zu haben. Doch ich habe hingeleuchtet. Guck doch auch mal hin.“

 

Bei der letzten Antwort, die vermutlich die hilfreichere ist, handelt es sich um eine relative Wahrheit. Die Idee „Das ist ein schrecklicher Angreifer“ ist eine falsche Annahme, eine verzerrte Perspektive, eine relative Unwahrheit. Die Aufklärung "Moment mal, Deine relative Perspektive ist so nicht zutreffend. Schau doch noch mal besser hin" klärt die falsche Annahme und führt zu einer angemessenen und hilfreichen relativen Perspektive.

 

Nochmal: Die erste Aussage beschreibt absolute Wahrheit. Die zweite deutet auf relative Wahrheit. In unserem Beispiel wäre die relative Wahrheit zunächst wesentlich hilfreicher als die Absolute. Die absolute Wahrheit würde unter diesen Umständen vermutlich überhaupt nicht gehört werden können.

 

Führt eine relative Antwort zunächst zu einem relativem Verständnis und einer relativen Beruhigung, könnten die beiden Personen weiter entspannt durch den Wald gehen und vielleicht würde sie dann in Ruhe über die absolute Wahrheit philosophieren und sie gemeinsam erforschen.

 

Absolute Einfühlungsunfähigkeit

 

Manche spirituellen Lehren und Lehrer betonen in ihrer Vermittlung sehr die absolute Ebene. Sie sagen mit Nachdruck „Alles ist Illusion“ und versuchen Alles, um Alles als Illusion zu entlarven. Das hat seinen Wert (wie ich es in meinem vergangenen Blog-Beitrag auch beschreibe). Doch wird diese Betonung einseitig und parteiisch für das Absolute, wird mit der erforderlichen Zurückweisung aller relativen Illusionen, gleich alle Aspekte relativer Wahrheiten mit verdammt. Hier wird mal wieder das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die Illusion der Erscheinungswelt wird zwar transzendiert, aber die relativen Wahrheiten der Erscheinungswelt werden dabei abgespalten, statt einbezogen und Wert geschätzt zu werden.

 

Das bringt eine Reihe von Nachteilen mit sich. Zum Beispiel die mangelnde Fähigkeit, Menschen in ihren jeweiligen Erlebenszustand oder auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe einfühlsam abzuholen und dadurch sanft aber wirksam zu Entwicklung und Befreiung anzuregen. Hier meine ich mit dem Begriff "Entwicklung" sowohl das Reifen zu einem authentischen Ich, als auch die "Ent-Wicklung" als De-Identifikation aus der "Ver-Wicklung" in die Vorstellung eines begrenzten, persönlichen Ichs und damit die Entdeckung der transpersonalen Natur des Bewusstseins.

 

Blind für spirituelle blinde Flecken

 

Wenn diese "absolut absoluten Lehrer" Menschen mit ihrer absolut absoluten Botschaft nicht erreichen, führt das manchmal zu einer tiefen Frustration. Es gibt zwei Weisen auf diese Frustration zu reagieren. Eine besteht darin, sich wieder auf eine neue Weise für die relative Erscheinungswelt zu öffnen, ihre Wichtigkeit und Bedeutung anzuerkennen und sie in das eigenen Leben und Lehren zu integrieren. Dabei darf und sollte das Gegründetsein im Absoluten durchaus Bestand haben und kann sich sogar gerade durch die Einbeziehung des Relativen vertiefen.

 

Die andere Möglichkeit besteht darin, die eigene Frustration zu verleugnen und sich krampfhaft an der absoluten Perspektive festzuhalten. Das führt oft dazu, dass die direkte Erfahrung zu rigiden „absoluten Konzepten“ versteinert. Im Extremfall entsteht daraus ein „Fundamentalismus des Absoluten“ der mit überhöhtem Sendungsbewusstsein Anderen – auch denjenigen, die nach dieser Erläuterung überhaupt nicht fragen - einbimsen will, dass Sie doch bitte Alles als reine Illusion ansehen sollten.

 

Wer sich dann doch der Erscheinungswelt aufmerksam zuwendet, z.B. indem er zwischen relativer Illusion und relativen Wahrheiten unterscheidet, wird aus dem Kreis der „wahrhaft Erleuchteten“ ausgeschlossen, denn er hat ja nicht erkannt, das Alles Illusion ist.

 

Diese Dynamik kann manchmal groteske Züge annehmen, in denen der „absolut Erleuchtete“ wesentlich Teile seiner innere Psychodynamik hartnäckig verleugnet, bzw. unbewusst ausagiert. (Ein Verständnis dafür, wie das zustande kommt, habe in meinem Blog-Beitrag „falsches Ich, wahres Ich und WAHRES SELBST" zu erläutern versucht. Kurz: Weil die relative Ebene in Bausch und Bogen abgelehnt wird, wird auch die Auseinandersetzung mit Schattenanteilen, die auf der relativen Ebene zu einem erleuchteten Dasein wichtig ist, oft sträflich vernachlässigt.)

 

Auch typische Entwicklungskrisen und -störungen können oft nur durch ein begriffliche Perspektiven auf der Ebenen der relativen Wahrheiten erkannt werden. (siehe meinen Artikel "spirituelle Krankheiten" in der Connection). Doch wenn wir jeden Gedanken ausschließlich als „reine Illusion“ abtun, neigen wir auch dazu hilfreiche Entwicklungsperspektiven, die sich mit unterschiedlichen Ebene und deren Emergenz in der Zeit beschäftigt (siehe unten) als pure Illusion zu negieren und ungenutzt zu lassen. Damit werden wir aber blind für die genaue Diagnose von spirituellen Fallen und „Krankheiten“ - und sehen nicht, wenn wir selbst in eine tappen. Denn eine der schwerwiegendsten spirituellen Krankheiten ist gerade die „Kausale Störung“ welche auf einen Alleinvertretungsanspruch des Konzeptes „Die Welt ist Illusion, nur Brahman ist wirklich.“ pocht und dabei die umfassende non-duale Integration alles Weltlichen als Brahman noch nicht vollzogen hat.

 

Wenn wir uns durch Überhöhung einer absoluten Perspektive garnicht nicht mehr mit dem Relativen beschäftigen wollen, sind wir auch meist unwillig, verschiedene Wahrheitsperspektiven auf der relativen Ebenen zu erkunden. Das doch zu tun, kann allerdings äußerst nützlich sein. Erkenntnis-Systeme wie Spiral Dynamic oder Ken Wilbers Integrales Modell können mittlerweile sehr klar die Bandbreite relativer Wahrheits-Perspektiven aufzeigen. Wilber sagt dabei sinngemäß: „Es gibt keine alleingültigen Wahrheiten, sondern nur unterschiedliche Perspektiven auf Wahrheit“. Ein integrales Verständnis achtet und erkundet dabei alle möglichen Perspektiven, weist aber auch darauf hin, dass sie immer nur einen begrenzten Gültigkeitsbereich haben (zum Beispiel nur die Perspektive eines Quadranten, einer Ebene, einer Entwicklungslinie...). Der Anspruch, es gäbe einen Alleinvertretungsanspruch auf die „letztendliche Wahrheit“, wird damit zugleich rücksichtslos, aber auch liebevoll ausgehebelt.

 

Wenn wir bereitwillig sind, uns auch mit diesen relativen Wahrheiten zu beschäftigen fördert dies unser Einfühlungsvermögen für praktisch alle Erkenntnisperspektiven der Menschheitsgeschichte und damit auch für die unterschiedlichen Perspektiven unserer Mitmenschen. Und erst, wenn wir uns in diese hineinversetzen und nachfühlen können, wie unser Mitmensch auf seiner Ebene „tickt“, denkt, spürt, und auch spirituell empfindet, können wir ihm optimal angemessen begegnen und vielleicht zur Weiterentwicklung anregen – und zwar in dem Maß, wie es von ihm gewollt ist. (Neben den Werken von Wilber empfehle ich an dieser Stelle das Buch „Gott 9.0“, das solche Perspektiven mit einem Schwerpunkt auf christliche Perspektiven darstellt)

 

Der fantastische Sandstrand des Seins

 

Und noch mal : Wenn wir von „relativen Wahrheiten“ reden, geht es nicht darum, die jeweilige Wahrheit als „absolut“ zu verkaufen. Das ist sie nicht! Relative Wahrheiten sollten wir immer nur als „Perspektiven“ verstehen, die gewisse Teilaspekte des Seins begrifflich zu erfassen suchen. Jede Perspektive hat dabei ein „Körnchen Wahrheit“ und einen Erkenntnisbereich in dem sie anwendbar ist und wirken kann. Sie hat immer auch Begrenzungen und kann destruktiv wirken, vor allem dann, wenn sie als absolut überhöht wird. Die „ganze Wahrheit“ - also der fantastische Sandstrand des Seins - ist durch relative Teilwahrheiten begrifflich nie zu erfassen. Und wir sollten immer achtsam dafür sein, dass jede begriffliche Perspektive auch immer nur einen Landkartencharakter hat. Die echte Landschaft erfahren wir eher durch das unmittelbare Erleben, sei es sinnlich, emotional, geistig, übersinnlich oder transrational in mystischer Schau.

 

Die relativen Perspektive zeigen relative Teilwahrheiten auf. Sie alle als „gleich illusorisch“ abzutun ist eine simplifizierende Haltung, die der Komplexität der Erscheinungswelt schlicht und einfach nicht gerecht wird.

 

Mit diesem Beitrag plädiere ich in keiner Weise gegen die Erkenntnis des illusorischen Charakters der Erscheinungswelt. Im Gegenteil: Es ist ungeheuer wichtig – und meiner Meinung nach sogar unerlässlich - das spirituelle Lehrer und Lehren diese Wahrheit in ihrer ganzen Tiefe und Radikalität erkennen und zugänglich machen. Dafür sollten wir allen Menschen dankbar sein, die das gut erläutern können und zur direkten Erfahrung dieser Wahrheit einladen. Erst eine radikale De-Identifikation vom Wahrheitsanspruch unserer Gewohnheitswirklichkeit ermöglicht einen gesunden Abstand dazu und eröffnet vollkommen neuen Perspektive. Wozu ich mich hier stark machen möchte, ist es, eine umfassende und weite Perspektive beizubehalten, in der sowohl die absolute Seinsdimension als auch die Wertschätzung der relativen Erscheinungsebene einschließlich einer differenzierte Einbeziehung relativer Wahrheitsperspektiven Platz haben.

 

Forschergeist für Nichts und Alles

 

Wenn wir diese Offenheit entdecken, sind wir fähig, zwei Aspekte des Seins nebeneinander zu erfahren. Wir dürfen die Auflösung aller Begrifflichkeit zulassen und uns als zeitlose, unangetastete Ganzheit absoluten Bewusstseins erfahren. Und es ist ebenso fantastisch, mit Neugier und Forschergeist der weiteren Evolution des Bewussteins unter Einbeziehung aller sich stetig erweiternden relativen Wahrheitsperspektiven beizuwohnen und ein lebendiger Teil davon zu sein.

 

 Torsten Brügge, Hamburg den 3.11.13

 

 

 

 

 

 

 

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Der Weise kann mich mal!

- Erleuchtungsstress abschütteln

 

Identifizierung total egal

Es gibt ein interessantes Zitat von meinem Lehrer Sri Poonjaji: „Einen wahrhaft Erleuchteten kümmert es nicht, ob er identifiziert ist oder nicht!“ Aus der Sichtweise des Advaita bedeutet „identifiziert“, dass man an die Realität der Erscheinungswelt glaubt, sich mit einer individuellen Person, deren Eigenschaften und Geschichte auf eine leidvolle Weise gleichsetzt und darüber seine wahre Natur als unangetasteter Frieden übersieht. Manchmal wird es dann zum Ideal erklärt, dass man als „weiser erleuchteter Mensch“ nie wieder an die Realität der Erscheinungswelt glaubt und sich auch gar nicht mehr mit seinem Körper identifiziert. Sri Poonjaji , der von vielen als ein meisterhafter Lehrer des Advaita wertgeschätzt wurde, rüttelt mit seiner Aussage kräftig an dieser Idealvorstellung.

Sein Ausspruch, dass es einem befreiten Menschen nicht kümmert, ob er Identifizierung erlebt oder nicht, kann in zwei Richtungen verstanden werden. Es könnte als Einladung zu einer nachlässigen Beliebigkeit missverstanden werden, als wenn es vollkommen egal wäre, ob wir gerade unsere Ich-Gedanken glauben, damit die begrenzte Identifikation mit einer Person erleben und damit auch Unklarheit und Leiden für uns selber und andere erschaffen. Das meinte Poonjaji mit Sicherheit nicht. Seine sonstige Vermittlung spiritueller Selbsterforschung und das Beispiel seines alltäglichen Lebens zeigt das sehr deutlich.

 

Über-Ich-Idealsieruungen von Erleuchtung

Was er – meiner Ansicht nach – mit dieser Aussage andeuten wollte, ist eine tiefere Ebene von Freiheit, die nicht an einem Ideal der Nicht-Identifikation oder eines Zustandes ständiger Klarheit anhaftet und diesen eine übermäßige Bedeutung gibt. Insofern kann diese Aussage eine große Entlastung und Gelassenheit mit sich bringen, die uns von dem „Über-Ich“ Anspruch, immer klar, nicht-identifiziert und bloß-keinem-Gedanken-glaubend durch die Gegend laufen zu müssen, befreit. Denn glauben wir an strenge spirituelle Konzepten wie „Erleuchtung bedeutet, dass ich meine wahre Natur niemals vergessen darf“, hat das oft missliche Auswirkungen. Es verstärkt die Identifikation mit einem Ego, das überhöhten Ansprüchen hinterher jagt und glaubt, sich selbst in Richtung vollkommener Erleuchtung trimmen zu müssen.

Außerdem liegt bei einer solchen Haltung oft eine Verwechslung von absoluter und relativer Ebene vor. Es stimmt: Auf der absoluten Ebene sind wir der Erleuchtungs-Geist, der niemals von der Erscheinungswelt berührt wird. Hier waren wir, sind wir und werden wir niemals identifiziert sein. Von hier aus wird kein einziger Gedanke als wahr geglaubt. Diese Reinheit stillen Gewahrseins allerdings auf eine Person oder einen Menschen im Sinne einer feststehenden Eigenschaft wie „vollkommen erleuchtet“ oder „vollständig verwirklicht“ zu projizieren, birgt Gefahren. Damit erschaffen wir das Ideal eines „spirituellen Übermenschen“, jagen ihm nach oder halten uns gar selbst für einen solchen, bloß weil wir Einblicke in unsere wahre Natur erhascht haben und wir den Geschmack der Nicht-Identifikation aus eigener Erfahrung kennen. Der Stolz, über eine vermeintlich eigene Perfektion kann sehr leicht ein neues und umso fetteres Ego aufbauen. Zugleich werden wir diesen idealisierten Anspruch auf Vollkommenheit auch auf Andere Anwenden. Sind wir uns nicht bewusst, dass die Idee einer perfekt erleuchteten Person den strengen Ansprüchen unseres Über-Ichs und seinen falschen Vorstellungen von spiritueller Vollkommenheit entspringen, neigen wir dazu, Andere zornig oder mit unterdrückter Wut, aber einem innerlich moralisch erhobenen Zeigefinder ihre Unvollkommenheit zu predigen. Dabei halten wir uns selbst vielleicht für den moralisch einwandfreien Vertreter höchster Wahrheit.

Das Fatale dabei: Eine solche Haltung verstärkt eher die typisch strengen und rigiden Strukturen unseres Ichs. Sie dient deshalb keineswegs der Vermittlung spiritueller Freiheit und Friedens, sondern bewirkt oft genau das Gegenteil.

 

Frieden mit der spirituellen Unvollkommenheit

Wer diese inneren Dynamik klarer durchschauen möchte, empfehlen ich das Studium der 1er-Fixierung im Enneagramm, zum Beispiel im Buch „Das spirituelle Enneagramm“ von Eli-Jaxon-Bear. Erst wenn wir unsere Über-Ich-Strukturen klar durchschauen, ihnen damit die Energie entziehen und zu einer wahrhaft friedvollen Haltung mit allen vermeintlichen „Unvollkommenheiten“ – einschließlich den spirituellen – finden, können wir für uns selbst allumfassenden Frieden finden und ihn auch authentisch vermitteln.

Dann macht es überhaupt nichts aus, wenn wir von Zeit zu Zeit einen Gedanken glauben oder uns identifizieren. Im Gegenteil: Genau solche Momente lehren uns neue Demut, dass unsere „vollkommene Erleuchtung“ nur eingebildet war und immer noch weiteres Durchschauen und umfassendere Befreiung möglich ist. Wer propagiert, er selbst oder sein Lehrer/seine Lehrerin wären von allen Tendenzen der Fehl-Identifikation oder der möglichen Anhaftung an Glaubensmuster befreit, legt den Verdacht nahe in bloßen Konzepten von Erleuchtung eingeschlafen zu sein, statt endlos weiter für die Arroganz des Mind wachsam zu sein. Sri Poonjaji empfahl: „Wachsamkeit bis zum letzten Atemzug!“, damit die subtile Verfestigung neuer Identifikationsmuster – auch gerade der spirituellen –  erkannt und gleich wieder gelöst wird. Ist das ein Widerspruch zu seiner ersten Aussage? Aber Ja. Das ist ja gerade das tolle an guten Lehrern: Sie widersprechen sich oft. So kann der Mind nicht an gewohnten Denkmustern festhalten. Echte transrationale Erkenntnisfähigkeit überschreitet eine „Entweder-oder-Haltung“ und kann das „Sowohl-als-auch“ wertschätzen.

Die befreiende Botschaft „Ein wahrhaft Erleuchteter kümmert es nicht, ob er identifiziert ist oder nicht“ kann uns entspannen. Und mit der Gelassenheit vertieft sich unsere lebendige Erfahrung, dass kein Gedanke wahr ist und die Identifikation mit einer Peron unser wahres Wesen niemals berührt hat.

Om in Mauer

 

Erleuchtungsstress abschütteln

Wir dürfen sogar „vergessen, wer wir wirklich sind“, denn die tiefste Stille, die wir sind, hat mit diesem Vergessen aber auch überhaupt kein Problem. Eine Meta-Bewusstheit umfasst somit sowohl klare, bewusste, nicht-identifizierte Zustände als auch die wertfreie, bewusste, liebevolle Annahme von Zuständen der Unbewusstheit und Identifikation. Dann können wir klar erkennen, dass wir das sind, was den Wechsel dieser Zustände bezeugt und zugleich unangetastet bleibt. Ansonsten laufen wir Gefahr in der Falle, die Edgar Hofer treffend als „die Identifikation mit der Nicht-Identifikation“ betitelt, stecken zu bleiben. Das ist vielleicht die am schwersten zu durchschauende spirituelle Verzerrung, die es überhaupt gibt, weil sie sich als so überaus erleuchtet gibt und auch – oberflächlich empfunden – so anfühlt.

Es ist eine Gratwanderung. Einerseits ist es ungeheuer wichtig, identifizierte und verwirrte Geisteszustände von der Klarheit des Erleuchtungsgeistes zu unterscheiden. Andererseits sollten wir uns nicht vom falschen Ideal einer idealisierten persönlichen Erleuchtung in Erleuchtungs-Stress versetzten lassen.

Wenn wir Sätze hören oder lesen, die mit „Der Erleuchtete ist immer…“ „Der Weise weiß jederzeit….“ „Der Erwachte bleibt ständig…“  Können wir in uns selbst prüfen, ob wir solche Aussagen als wohltuende Hinweise auf das Potential umfassender Freiheit kosten oder uns derartige Verallgemeinerungen eher in eine tiefere Identifikation mit der „Ich-bin-nicht-gut-genug“-Trance versetzen. Im ersten Fall sind wir der Erläuterung dieser Weisheit vielleicht sehr dankbar. Im zweiten Fall dürfen wir uns ein herzhaft befreiendes „Der Weise kann mich mal…“ erlauben, uns den Erleuchtungsstress abschütteln und alle Idealisierungen von Erleuchtung über Bord schmeißen. Und komisch: Plötzlich sind wir selbst ein Stück erleuchteter als die Prediger der vollkommenen Erleuchtung ;-). Aber auch diesen Gedanken sollten wir schnell wieder über Bord schmeißen und am besten selber in die heiligen Wasser des NICHTS hinterher springen. Hier lassen wir sämtliche in Sprache gegossenen Einsichten wieder in die STILLE REINEN NICHT-WISSENS zerfließen.


Torsten Brügge, Amrum, Oktober 2013

www.bodhisat.de

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Dieser Blogbeitrag entstand durch die Erwiderung auf einen Kommentar zu einem meiner vorherigen Blogbeiträge.

Da es sich hier um eine  Erläuterung eines – wie ich finde – sehr grundlegenden Themas, über das eigentlich alle spirituellen Sucher/Finder informiert sein sollten, handelt, habe ich ihm eine ausführlichere Betrachtung eingeräumt. Es dreht sich dabei um das paradoxe Nebeneinander der absoluten und relativen Dimension der Wirklichkeit.

 

Hallo Alfred,

danke für Deinen Kommentar zum meinem vorherigen Blogbeitrag:

Um einige Missverständnisse aus dem Weg zu Räumen, möchte ich hier eine Sichtweise darstellen, die ein paradoxes Nebeneinander zweier Perspektiven zulässt. Im Buddhismus wird dies "die Lehre der zwei Wahrheiten" genannt. Dort wird sowohl davor gewarnt, nur eine der beiden Sichtweisen für wahr zu halten, als auch beide undifferenziert in einen Topf zu werfen. Kurz gesagt handelt es sich dabei um das Nebeneinander der unmittelbaren Erfahrung der absoluten Seinsdimension und deren Erleben und Beschreiben auf der relativen Seinsebene. Letztendlich sind auch diese beiden Dimensionen nicht voneinander getrennt, doch fehlt uns auf der Ebene sprachlicher Kommunikation die Bewusstheit für den unterschiedlichen Charakter der beiden Anteile, kommt es zu einem verwirrten sprachlichen Durcheinander und nicht selten zu einem überheblichen Bestehen auf begrenzten Standpunkten.

Zunächst beschreibe ich die „Lehre der zwei Wahrheiten“ anhand einer einfachen Metapher und später –philosophisch differenzierter – auch mit „typisch spirituellen“ Begrifflichkeiten.

 

Reiner Erdbeergeschmack und Erdbeersprache

Stellen wir uns vor, wie beschäftigen uns mit dem Thema „Wie schmeckt eine Erdbeere?“ Wir können die Erdbeere essen und so ihren köstlichen Geschmack direkt kosten. Oder wir könnten über den Geschmack der Erdbeere sprechen. Beides hat seinen Platz. Im Moment des direkten Schmeckens erlauben wir uns, das gesamte sinnliche Geschmackserlebnis  auf uns wirken zu lassen. Dabei genießen wir umso mehr, je weniger wir denken und je mehr wir uns auf die reinen Sinnesempfindungen einlassen. Auch Begrifflichkeiten wie „süß“, „weich“, „fruchtig“ oder „Erdbeergeschmack“ sind im direkten Moment des Schmeckens unwichtig. Wir schwelgen einfach in der Köstlichkeit des Aromas.

Ein wahrhaftiger Genießer wird auf die Frage „Wie schmeckt die Erdbeere, die Du gerade ist?“ sagen: „Bitte lass sie mich erstmal wirklich kosten. Darüber reden können wir vielleicht später“. Im Moment des reinen, absoluten Schmeckens verliert sich sogar die Trennung von Schmeckendem und Geschmecktem. Alles ist in diesem Moment der eine, reine ERDBEERGESCHMACK.

Wollen wir uns aber über die Qualität der Erdbeere sprachlich austauschen - beispielsweise um sie mit anderen Erdbeeren zu vergleichen oder Menschen, die noch nie eine Erdbeere gekostet haben, neugierig auf den Geschmack zu machen - dann brauchen wir Begrifflichkeiten für unser Erleben. Wir müssen Worte finden: Für das Aussehen der Erdbeere. Für ihren Geruch. Für die Art wie sie sich anfühlt, wenn wir sie anfassen. Dafür welche Konsistenz wir spüren, wenn wir von ihr abbeißen und sie zerkauen. Und natürlich für die vielfältigen Geschmacksnuancen, während die weiche Erdbeermasse an unserer Zunge entlang in den Rachen gleitet und dort in der Speiseröhre verschwindet.

Geben wir uns als „Erdbeerexperte“ aus und wollen wir uns mit anderen Erdbeerexperten über Erdbeeren austauschen, macht es Sinn ein sehr differenziertes Begriffssystem für die vielfältigen Elemente der „Erdbeer-Erfahrung“ zu finden. Erst dann können wir den Unterschied einer köstlich vollreifen, Bio-Erdebeere und einer halbgrünen, wässrig, geschmacklosen, in einer künstlichen Nährlösung aufgezogenen Gen-Gewächshaus-Erdbeere erfassen und klar kommunizieren.

Erdbeeren

Erst Schmecken, dann Sprechen – aber bitte klar

Von einem „echten Erdbeerexperten“ würde ich erwarten, dass er sich mit beiden Aspekten auskennt: Er sollte ein wahrhaftiger Genießer des unmittelbaren Geschmacks sein. Erst so bekommt er einen Zugang zur lebendigen Erfahrung. Das ist unerlässlich. Zugleich sollte der Experte auch sehr genau und differenziert darüber sprechen können, was er schmeckt. Ein Satz wie „Äaahrdbeere,… voll geil, Alter. … alles andere, voll Scheiße…boooooaaah“ kann auch mal ganz erfrischend wirken, würde mir auf die Dauer aber nicht reichen. Je genauer die Sprache, desto besser kann der Erdbeerexperte andere neugierig machen. Schließlich drückt er ihnen eine Erdbeere in die Hand und sagt „Das Beste ist, Du probierst mal selber!“

 

Die Lehre der zwei Wahrheiten

Die „Lehre der zwei Wahrheiten“ besagt ganz ähnlich, dass es in Bezug auf spirituelle Selbsterkenntnis zwei wichtige Dimensionen gibt:

1. das unmittelbare Erleben der absoluten, ich-transzendenten, nicht-begrifflichen, formlosen, zeit- und raumlosen, den Verstand überschreitenden Dimension

2. das Ereleben und Reflektieren der relativen, ich-immanenten, begrifflich differenzierten, formhaften, durch Zeit und Raum-Wahrnehmung gekennzeichneten, den Verstand nutzenden Dimension

BEIDE SIND WICHITG! BEIDE SIND AUSDRUCK DES EINEN SEINS! (Man kann es gar nicht groß genug schreiben!)

Eine von beiden Dimensionen überzubetonen oder eine von beiden zu vernachlässigen, erzeugt ein dualistisches Verständnis und leidvolles Erleben von Wirklichkeit.

 

zeitlos – formlos – reglos - endlos -  ichlos - eigenschaftslos

Wenden wir uns beiden Dimensionen noch mal genauer zu. Die absolute Seinsdimension eröffnet sich uns spontan oder auch durch tiefgreifende spirituelle Praxis. Ihre Erfahrung liegt in der Tiefe vor jeder Begrifflichkeit. Hier braucht und gibt es nichts anderes als das eine Bewusstsein (oder wie Du – Alfred - lieber sagst die "Bewusstheit" / Die Begrifflichkeiten varieren hier ja sowieso, je nach „Tradition“ in der man sich ausdrückt). Hier gibt es nichts zu verändern, kein "weiter" und auch kein "mehr". Hier ist auch kein "weiteres Erwachen" oder "tieferes Erforschen" notwendig oder von Bedeutung. Man könnte tatsächlich sagen, hier wird das Relative völlig irrerelevant. Da stimme ich Deiner Sichtweise – Alfred - durchaus zu. Mein Blog-Beitrag hatte auch keinesfalls die Absicht, den Wert solcher Einsichten zu schmälern oder ein Druck des "Weiter-Treibens" nach mehr Erwachenserfahrungen zu produzieren.

Wenn solche Momente der KLAHRHEIT über das Absolute auftauchen, können wir uns erlauben, sie rückhaltlos zu genießen. Wunderbar! Hier spüren wir die Vollkommenheit allen Seins schon in diesem Moment - egal was unser Verstand zuvor als unvollkommen deklariert hat.

 

Einfachheit der unmittelbaren Erfahrung

Um zu der unmittelbaren Erfahrung dieser absoluten Dimension einzuladen sind oft einfache Begriffe am wirksamsten Begriffe: Sein. Stille. Selbst (im transpersonalen Sinn). Gewahrsein. Quelle. Urgrund. Buddha-Natur. Tao. Solche Worte können als Fingerzeige auf diese nicht-begriffliche Wahrheit dienen. Manchmal – vor allem wenn sie von Menschen verwendet, die eine direkte Erfahrung des Absoluten gemacht haben – tragen diese Worte die Kraft in sich, über sich selbst hinaus auf das unmittelbare Erleben des SEINS hinzuweisen. Auch einfache und kraftvolle Kontemplation, im Sinne einer auf direkte Erfahrung ausgerichteten Reflektion, können zur direkten Erfahrung der absoluten Seinsebene führen.  Klassisch sind hier Selbst- Erforschungsfragen, wie die von Sri Ramana Maharshi: "Wer oder was bin ich?" oder "Was ist immer da?“ Auch die die Ermutigung von Sri Nisargadatta beim ICH BIN zu bleiben, anstatt sich in den vielen Identifizierungsgedanken "Ich bin… dieses oder jenes" zu verlieren. Solche Fragen beginnen zunächst auf der mentalen Ebene (denn jede Frage oder Aufforderung ist zunächst nur ein Gedanke). Doch ist bei einem Menschen eine gewisse spirituelle Reife vorhanden, geht die Frage tiefer und bewirkt eine Umorientierung der Aufmerksamkeit. Sie führt von den gewohnten Erfahrungs-Objekten wie Gedanken, Empfindungen und Gefühlen weg und hin zu dem Urgrund transpersonalen Gewahrseins.

Auch andere spirituellen Traditionen zielen manchmal auf die direkte Erfahrung von nicht-begrifflicher innerer Stille. Die vom gewohnheitsmäßigen Verstandesdenken nicht zu lösenden buddhistischen Zen-Koans, lassen unser gewohntes Denken kollabieren und in befreiende Stille sinken. Die Ermunterung zum Anfänger-Geist bzw. zum Einlassen auf das Nicht-Wissen, stellen weitere direkte Zugänge da. Sie laden uns dazu ein die Enge unseres vermeintlichen Wissens zurückzulassen und die Intelligenz formlosen, reinen Gewahrseins durchscheinen zu lassen. Die taostische Mystik ermuntert mit ihrer Haltung des WuWei ( des Nicht-Tuns oder Nicht-Einmischen) die Aspekt des Absoluten zu entdecken, die sich auf das Thema „Handeln“ beziehen. Hier können wir erfahren, das alles Geschen „von alleine geschieht“ oder quasi aus dem Absoluten heraus kommt. Das Konzept eines eigenmächtig handelnden Ichs ist von einem absoluten Standpunkt aus  pure Illusion. Und natürlich verweist uns auch die christliche Mystik oft sehr direkt auf das Absolute. Wenn Jesus z.B. sagt „Bevor Abraham bin Ich" und "Das Himmelreich ist inwendig in Euch" spricht er damit die zugleich zeitlose und jederzeit zugängliche Gegenwart des Göttlichen an.

 

Segen und Fluch der absoluten Betonung

Die Ausrichtung auf und die Betonung der unmittelbaren Erfahrung des Absoluten können sehr heilsam wirken. Sie erlauben eine radikale  Abwendung von unseren Verstrickungen im Relativen. Sie ermöglichen eine wichtige De-Identifikation von eingeschränkten persönlichen Identifikationsmustern. Sie machen die zeitlose und allgegenwärtige Qualität des Seinsgrundes bewusst. Sie führen zur Erkenntnis unseres wahren Selbst das vollkommen losgelöst von allen persönlichen Identitäten als reglose und unangetastete Stille besteht. Zugleich entlastet eine solche Perspektive von destruktiven Schuldgefühlen, die aus der Idee eines eigenverantwortlichen Ichs, das moralische Verfehlungen begehen könnte, entstehen.

Bei manchen Lehren  und Lehrern kommt es allerdings auch zu einer pathologischen Überbetonung der absoluten Seinsebene. Anstatt den Wert des Absoluten zu schätzen UND alles Relative als Ausstrahlung des absoluten Urgrundes zu erkennen, wird die Welt der relativen Erscheinungen  abgespalten und abgewertet. In diesem Fall kippt die gesunde De-Identifikation von der persönliche Identität in eine pathologische Dissoziation derselben. Die noch in der Person stattfindenden psychodynamischen Prozesse werden als bloße Erscheinungen relativiert und nicht aufrichtig angeschaut. Schattenanteile wie persönlicher Minderwert, Todesangst oder Zorn werden ausgeblendet. Zugleich werden sie unbewusst ausagiert und führen zu  Überheblichkeit, Kaltherzigkeit oder gar missbräuchlichem Verhalten.

 

Spiritueller Verleugnung – Subtiler Dualismus – Arroganz des Absoluten – Dumpfe Anti-Intellektualität

Häufig findet man bei der Überbetonung des Absoluten auch eine Art „Anti-Intellektualität“. Die Aktivität des Verstandes wird nicht transzendiert UND integriert, sondern transzendiert und abgespalten. Dann werden die Errungenschaften des Denkens und die Möglichkeiten eines differenzierten Verstehens vielleicht als „bloßes Geschwafel“ abgetan, anstatt das Paradox von Nicht-Wissen und Weisheit, von nicht-begrifflicher Stille und differenzierter Benutzung von Begrifflichkeiten für eine sich stetig weitende Weisheit zu nutzen.

Eine Überbetonung der absoluten Seinsdimension ist dann keinewegs Ausdruck non-dualer Erkenntnis, sondern erzeugt eine neue Dualität zwischen Absolutem und Relativem, zwischen Seinsgrund und Erscheinungswelt, zwischen regloser Stille und bewegtem Geist.

In unserem Vortrag auf dem „Berlin Kongress Forum Erleuchtung“ 2012 sprachen meine Partnerin Padma Wolff und ich über diese "Advaita-Falle“, deren Auswirkungen wir dort als „spirituelle Verleugnung“,  „Arroganz des Absoluten" und „Subtiler Dualismus" betitelten. Von diesem Vortrag gibt es eine Videoaufzeichnung auf Youtube.

 

Die relative Ebene vollständig umarmen

Die Lösung für diese pathologische Ausuferung des Absoluten besteht in einer allumfassenden Umarmung der relativen Seinsebene.

Die relative Ebene zeichnet sich durch die Wahrnehmung von Formen und komplexen  Unterschieden aus. Diese Vielfältigkeit trägt ihre eigene Schönheit in sich. Hier gibt es ein Ich und ein Du, ein dies und das, ein mehr und ein weniger, Zukunft und Vergangenheit, Entwicklung in der Zeit, eine Möglichkeit aktiven Tuns. Aus der absoluten Perspektive vermitteln sich alle Erfahrungselemente der relativen Ebene durch die Begrifflichkeiten unseres Verstandes. Und das ist wahr! Deshalb ist – absolut gesehen - jede relative Erscheinung bedeutungslos und nichtig, eben weil die Qualität jedes Begriffes letztendlich leer und substanzlos ist.

Zugleich hat die Welt der Begrifflichkeiten eine ungeheure Bedeutung und ist enorm wichtig. Denn sobald wir aus der Versenkung der unmittelbaren Erfahrung des Absoluten auftauchen und auch nur ein Wort über die Eigenschaften unsere Erfahrung (oder besser über die Eigenschaftslosigkeit unser Nicht-Erfahrung) denken oder hauchen wollen, bewegt sich unser Geist in die Welt des Relativen. Dann sind wir gezwungen Begriffe zu benutzen. Und hier wird es verdammt wichtig, mit welcher Klarheit wir das tun. Denn die Deutungen, die uns die begriffliche Reflektion der Wirklichkeit und auch von ihrer spirituellen Dimension eröffnen, unterscheiden sich massiv. Hier gibt es massive Unterschiede zwischen engen, begrenzten oder gar widersinnigen und weiten, umfassenden und schlüssigen Deutungen. Hier gibt es Deutungen und Perspektiven, die wir eher den archaischen, magisch, mythischen Zeiten unserer Menschheitsgeschichte zurechnen müssen oder den aufgeklärten, rationalen, integralen oder gar trans-rationalen Evolutionsstufen zuschreiben dürfen. (und natürlich gibt es hier eine Menge weiterer Zwischenstufen -> siehe Integrales Modell).

Das Totschlag-Argument „Man kann über Wahrheit sowieso nicht sprechen oder sie gar verstehen“ ist auf der relativen Ebene eher ein Ausdruck von dumpfer Anti-Intellektualität, als eines offenen und forschenden Geistes, der sowohl seinen nicht-begrifflichen Urgrund kennt, als auch die Herausforderung annimmt, sich in der relativen Welt möglichst klar und umfassend das Abenteuer sich stetig weitenden spiritueller Selbst- und Welt-Erkenntnis einzulassen.

 

Klares Sprechen über das Unsagbare

Noch einmal in anderen Worten: Auch "nach" tiefen Einblicken in das Absolute, taucht das Erleben der relativen Welt, mit ihren Formen, Begrifflichkeiten und menschlichen Aspekten auf. Und hier gibt es - meiner Erfahrung nach - sehr wohl ein großes Potential von Weitung, Vertiefung und vertieftem oder erweitertem Erwachen. In mir selbst und bei anderen habe ich oft beobachtet, wie Einblicke in die KLARHEIT DES EINEN SEINS, schnell wieder zum Konzept gemacht wurden. Dann scheinen es Erfahrungen zu sein , die in der Vergangenheit gemacht wurde und an die wir uns bloß noch erinnern und die dann noch in mentalen Worthülsen (z.B. Advaita-Floskeln wie „Es gibt kein Ich“) wiederholt werden, anstatt DAS aus dem Moment heraus vollkommen frisch zu erfahren.

Nicht selten werden solche Konzepte dann benutzt, um sich in menschlicher Begegnung vor Unsicherheit und Schmerz abzusichern oder sich über menschliche Aspekte existentiellen Leidens zu stellen. Die Arroganz und Weltfremdheit, die sich daraus ergeben, würde ich dann nicht mehr "erwacht" oder "erleuchtet" nennen mögen, sondern „im Absoluten eingeschlafen“. Auf der relativen Ebene ist Aufrichtigkeit und die Bereitwilligkeit zur klaren Selbstreflexion der immer noch im Leiden gefangenen Persönlichkeitsanteile - gerade der Anteile, mit denen wir unser "Erwachen" konzeptuell missbrauchen – unbedingt erforderlich! Von hier aus ist eine Aussage wie "es braucht keine Weiterentwicklung" eher eine Verwechslung der absoluten mit der relativen Perspektive und nicht selten ein "Festhalten am Absoluten".

Kein anderes System, wie das von Wilber, zeigt diese spirituellen Fallen und Stolpersteine so klar auf. Aber man muss sich natürlich intensiv damit beschäftigen, damit man seine Aussagekraft nachvollziehen kann.

Du – Alfred - hast Deinen Eindruck von Wilber ja geschildert. Meiner ist ein anderer: Wilbers eigene Einblicke in das Absolute sind durchaus tief und "zufriedenstellend". (Für die Leser, die diese Seite von Wilber interessiert, habe ich in einem Forumsbeitrag Auszüge eines hervorragenden Artikels  im Online-Magazin "integral informiert" aufgeführt. Hier wird klar, welche tiefen Einblicke und welche Klarheit Wilber in Bezug auf die absolute Ebene hat.)

Mein Eindruck ist nicht, dass Wilber aus einer Mangelmotivation sein System aufstellt, sondern eher aus der (Fülle-) Motivation, auf der begrifflichen Ebene eine möglichst klare Sprache über Spiritualität zu ermöglichen, die die Falle einer simplifizierenden Relativ-Absolut-Einseitigkeit aufzeigt.

Es mag sein, dass Wilbers System und Haltung dann manchmal wieder zu sehr in die Betonung einer eher anstrengenden Weiterentwicklung auf der relativen Ebene und überhöhten Idealen des Erwachens kippt. Zu Zeiten habe ich durchaus auch so einen Eindruck. Da kann ich die Ansätze Deiner Kritik, Alfred, durchaus nachvollziehen. Auf der anderen Seite gibt es mittlerweile viele "Lehrer" und "Lehren" die "Weiterentwicklung" zu früh abhaken und sich mit Krumen von Klarheit des Absoluten begnügen, während noch Festmähler des Geschmacks des Absolutem im Relativen auf sie warten würden.

 

Paradox ist spannend

Wie gesagt, das Paradoxe nebeneinander von Relativem und Absolutem, Nicht-Tun und Tun, Hingabe und Entschlossenheit, Nicht-Wissen und glasklarem begrifflichem Verstehen ist für mich ein wunderbares Koan. Hier eröffnet sich mir eine Meta-Absolutheit, welche sowohl alle relativen, als auch die absolute Perspektive einschließt und von einer höheren Warte aus betrachten kann. Nur eine einzige Antwort auf die Frage "Was ist Wahrheit?" parat zu haben, ist doch ein bisschen langweilig oder?

Oder aber wir lassen die Konzepte "relativ" und "absolut", "Weitung", "Klarheit", "Erwachen", "Bewusstsein" und "Bewusstheit" alle restlos fallen. Dann landen wir in der spannenden Stille unfassbarer Leere, die wir vermutlich alle lieben. Ja, hier ist alles vollkommen! Aber wieso sollte es nicht noch vollkommener kommen?! Ich würde sagen: Es gibt immer mehr Klarheit zu entdecken, gerade wenn wir aufhören klarer werden zu wollen. 

Torsten Brügge, Hamburg 5.9.2013

            

 

 

 

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Der folgende Text von Astronaut Sultan Ben Salman Al-Saud aus Saudi-Arabien inspirierte mich, ihn fortzusetzen.

„Am ersten Tag deutete jeder auf sein Land. Am dritten oder vierten Tag zeigte jeder auf seinen Kontinent. Ab dem fünften Tag achteten wir auch nicht mehr auf die Kontinente. Wir sahen nur noch die Erde als den einen, ganzen Planeten.“

Fortsetzung:

„Der sechste Tag brach an. Wir sahen unsere Erde im taumelnden Tanz mit den Planeten um unsere Sonne kreisen. An Tag Nummer Sieben verließen wir unser Sonnensystem. „Sieh nur“, sagte einer, „die anderen Sonnen und deren Planeten!“ Jemand erwiderte: „Und die unendlichen Weiten dazwischen!“ Am Morgen des 8. Tages staunten wir über Milliarden Sonnensysteme um uns herum. Wie ein Meer von leuchtenden Nadelspitzen schoben sie sich in einer Spirale um das Zentrum der Galaxie. Am Abend des achten Tages verblasste das einzigartige Bild unserer Milchstraße im Aufleuchten Milliarden anderer strahlender Sternenhaufen. Wir verloren den Blick dafür, von welchem der Lichtpunkte wir abgereist waren. Wir vergaßen die Ortsbestimmung unseres Sonnensystems. Wie war noch der Name unseres Heimat-Planeten? Es war gleichgültig. Nur noch die Weite zog uns in den Bann. Einer flüsterte: „Der Raum, der unendliche Raum...“ Alle schwiegen. Jeder wusste wortlos: Wir sind das Alles und das Nichts in dem es auftaucht.“

Torsten Brügge, Planet Erde, Sternzeit: 65309800B98-20082013

Galaxy - Wir sind Alles und Nichts

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Morgen früh beginnt in Berlin das 3-Tages-Event »Forum Erleuchtung«, auf dem sich etwa 35 aufgewachte spirituelle Lehrer vor Publikum treffen, wie es dort auf der Webseite heißt. Ich kenne die Veranstalter ein bisschen – soweit sehr sympathische Menschen – und viele der dort auftretenden spirituellen Lehrer, und ich schätze die Demontage des Erleuchtung-Begriffs, die dort betrieben wird. Auch scheint mir szeneweit ein gewisser Demokratisierungsprozess des einst so elitären Status der Erleuchtung bzw. des Erwachtseins im Gange zu sein, den dieses Forum fördert: Erleuchtung für alle!

 

»Die Erleuchtungsfalle«

Solche Demontagen des Erleuchtungsbegriffs gibt es seit es diesen Begriff und die damit verbundenen Mythen gibt. Das Buch »Die Erleuchtungsfalle« von Klaus-Peter Horn, das ich Mitte der 90er Jahre herausgegeben habe, knüpfte daran an, in damals noch nur für sehr wenige verständlicher Weise. Heute ist das anders. Nicht nur streben heute viel mehr Menschen nach Erleuchtung und Erwachen, es erwachen auch immer mehr aus diesem Streben. Das Buch »Erleuchtung – Phänomen und Mythos«, das vom Forum Erleuchtung 2012 herausgegeben wurde, stellt die heutige Haltung dieses Forums zu diesem Thema recht gut dar. Katharina Ceming hat es in unserer Zeitschrift Connection Spirit sehr positiv rezenziert.

 

Die Folgen des »Aufwachens« 

Auf der Leitseite von Forum Erleuchtung heißt es nun: »Wir leben in einer Zeit, in der viele aufgewachte Menschen, obwohl sie mit den Mustern bereits nicht mehr identifiziert sind, mehr oder weniger stark eine individuelle Perspektive einnehmen. Es zeigt sich also: Aufwachen allein reicht nicht aus. Gleichzeitig sollte auch die individuelle Perspektive aufgegeben werden. Aufwachen löst zwar die Identifikation mit den Mustern – jedoch nicht das Ego selbst.

Die finale Auflösung der Ichhaftigkeit 'gelingt' nur über eine radikale Herzensöffnung bei gleichzeitiger Aufgabe der individuellen Perspektive. Ansonsten fällt das aufgewachte Sein wieder zurück – pendelt zwischen kontemplativer Klarheit und alltäglicher Nicht-Identifikation mit dem Ego (bis hin zur Verleugnung des Egos) hin und her.«

 

Der Wert der individuellen Perspektive

Hier kommen nun einige neue Mythen ins Spiel. Über die »radikale Herzensöffnung« vielleicht ein ander Mal. Diesmal möchte ich die Idee aufgreifen, dass »die individuelle Perspektive« ein Gegner der Erleuchtung / des Erwachtseins sei – und dementsprechend zu überwinden. Ist sie aber nicht. Jeder Mensch hat eine individuelle Perspektive und schaut von dort auf die Welt, zumindest jeder Erwachsene, psychisch Gesunde der Neuzeit und umso mehr des 21. Jahrhunderts. Bitte, bitte, bitte das nicht überwinden wollen!!! Sonst landen wir wieder in der Selbstverleugnung, dem Selbstbetrug und vergeuden unsere Energie mit Schattenbekämpftung, denn wir haben ja eine individuelle Perspektive! 

Mal abgesehen davon, dass bei einem Aufgeben der individuellen Perspektiven von fünf Milliarden jugendlicher oder erwachsener, nicht-dementer Erdbewohner die Errungenschaften der modernen Demokratie und des Wahlrechts im Ausguss landen würden, mit der Gefahr der Rückkehr in die Zeiten der kollektiven Hypnosen.

 

»Finale Auflösung der Ichhaftigkeit«?

Und was die »finale Auflösung der Ichhaftigkeit« anbelangt, die da gefordert wird, dabei gruselts mich. Endlösungen sind mir seit je suspekt, und das gilt auch für die Endlösung der Ego-Frage. Das Ego-Bashing ist eine der Schattenseiten des Erleuchtungskultes. Die individuelle Perspektive, die Ichhaftigkeit, das Ego »wegdenken« zu wollen, führt zu all diesen Schattendramen, wie wir sie zur Genüge aus den diversen spirituellen Szenen kennen. Der kürzlich von seinem Posten als spiritueller Lehrer zurückgetretene Andrew Cohen weiß davon sicherlich inzwischen einges zu erzählen, ebenso wie die Satsanglehrerin Charya, deren Geschichte auf connection.de seit Jahren eine der am meisten angeklickten Berichte ist. 

 

Nicht bloß Gottes Augen

Erst wenn das Aufwachen auch die volle Akzeptanz der individuellen Perspektive, der Ichhaftigkeit, der Person und Persona, des Individuums und persönlichen Charakters impliziert und den Wert von alledem – wenn endlich das Ego-Bashing aufhört – möchte ich mich in die Arme dieser Erwachten und Erleucheten werfen und mit ihnen jubeln, dass alles eins ist. Denn es ist alles eins! Aber nicht ein Brei. Die Unterschiede sind genauso wichtig wie das Gemeinsame. Und jeder von uns schaut durch zwei Augen auf die Welt, die nicht bloß Gottes Augen sind, sondern auch seine individuellen, einzigartigen Augen – und das ist gut so!

 
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Manche Begriffe haben die Kraft, als frische Fingerzeige auf die nicht-begriffliche Wahrheit unseres innersten Wesens zu deuten: SEIN, STILLE, GEWAHRSEIN, GEIST, TAO, BUDDHA-NATUR, GÖTTLICHER URGRUND…

Für mich galt das eine Zeit lang auch für den Begriff "ERWACHEN". Erwachen wir aus einem schlechten Traum zum Wachbewusstsein, ist das eine Befreiung. Wir erkennen, dass alles, was im Traum geschah, unwirklich war. Das Drama und Leiden des Traumes ist zu Ende. Uns wird klar, dass uns das leidvolle Traumgeschehen in Wahrheit nie berührt hat.

Ganz ähnlich können wir vom Leiden der Identifikation mit einem begrenzten persönlichen Ich und dessen schwankender Lebensgeschichte von Schmerz und Vergnügen zu der Weite und Reglosigkeit unseres wahren Selbst erwachen. In dieser Hinsicht macht "Erwachen" für mich immer noch Sinn.

Auf eine andere Weise scheint der Begriff "Erwachen" mehr und mehr konzeptualisiert und korrumpiert zu werden - vor allem dann, wenn er als die Eigenschaft einer Person interpretiert wird. "Hast Du schon gehört? Person X ist erwacht." "Nein, der ist doch noch nicht erwacht. Person Y vielleicht schon, aber X, nee." Oder wir beziehen ihn auf uns selbst "Oh nein, ich bin immer noch nicht erwacht." oder "Ah, weil ich jetzt diesen Einblick in Stille, Ewigkeit und Ich-Losigkeit gehabt habe, bin ich erwacht. Nun gehöre ich endlich zur Gruppe der 'Erwachten'."

Verstehen wir "erwacht" als eine eindimensionale Eigenschaft einer Person, ergeben sich daraus spirituelle Missverständnisse und Verzerrungen. Entweder wir verfallen in Minderwertigkeitsgefühle, weil wir uns nicht erwacht fühlen und machen uns "Erwachens"-Druck, der unser Leiden noch verstärkt. Oder wir überhöhen uns selbst. Wir glauben vielleicht, nur weil wir erste Einblicke in die  Wahrheit unseres Selbst erhascht haben, bedeuten dies, dass alles, was wir sagen und tun, nun Ausdruck reiner erwachter Wahrheit wäre. Daraus kann sich eine Arroganz entwickeln, in der wir eher wieder einschlafen, als endlos weiter zu erwachen.

Ich möchte an dieser Stelle vorschlagen, die Zuschreibung der persönlichen Eigenschaft "erwacht" vollkommen fallen zu lassen. Das entspricht tatsächlich der inneren Stille, die wir unmittelbar Erfahren, wenn die Lebendigkeit des Erwachens durchscheint. Hier brauchen wir keine  Definition unserer selbst. Gedanke wie "Ich bin unerwacht" oder "Ich bin erwacht" sind schlicht abwesend oder (ver)klingen als kosmischer Witz.

Und dennoch gibt es die Neigung, nach solchen Einblicken, sich selbst wieder mit Definitionen des "Bin ich erwacht?" kritisch abzufragen oder zu brüsten - beides meist auf ein höchst simplifizierende Weise. Wie wäre es, das sein zu lassen? Wie wäre es, wenn wir uns die Frage "Bin ich erwacht oder nicht-erwacht?" so nie wieder stellen müssten? Wie wäre  es, wenn wir nie wieder mit der Frage "Ist der oder die Person nun erwacht oder nicht?" auf Andere schauen würden?

Auf "erwacht / nicht-erwacht" als eine vereinfachende Mono-Eigenschaft zu verzichten, bedeutet nicht, dass wir Alles gleichermaßen - und wiederum simplifizierend - als "gleich erwacht oder gleich unerwacht" betrachten müssten. Es gibt tatsächlich massive Unterschiede zwischen erwachten und unerwachten Perspektiven und Erlebensweisen. Wir könnten aber für die Ebene, auf der wir differenziert über Erwachen und Erleuchtung sprechen wollen, eine andere. sinnvollere Betrachtungsweise wählen. Zum Beispiel diejenige von "erwachten Anteilen" oder "durchleuchteten Anteilen" und "unerwachten Anteilen " oder "verschleierten Anteilen" unserer Person.

Wenn wir Erwachen oder Erleuchtung als das klare Hindurch-Leuchten des Absoluten durch die - oft verschleiernden - Schichten der relativen Erscheinungswelt beschreiben, dann könnte man sagen: Durch manche  Menschen, in manchen Bereichen scheint die absolute Ebene klarerer hindurch, als durch andere Menschen, in anderen Bereichen. In diesem Sinn erleben wir - neben der absoluten Erfahrung, dass wir alle schon immer das eine SEIN sind - sowohl erwachte als auch unerwachte Anteile. In den erwachten Anteilen strahlt die Klarheit des Absoluten auf verschiedene Weise durch uns als Person. In den unerwachten Anteilen ist dieses Strahlen verschleiert oder nicht vorhanden. In einer einzigen Person und deren Leben kann es dann sowohl erwachte als auch unerwachte Anteile geben. An ersteren können wir uns erfreuen und sie strahlen lassen. Letztere könnten wir aufrichtig eingestehen und  als Herausforderungen betrachten, auch hier noch mehr Licht des Erwachens durchleuchten zu lassen.

"Erwachen" oder "Erwacht-Sein" wäre dann keine festgeschrieben Eigenschaft einer Person, sondern das Funkeln eines facettenreichen Strahlens des unpersönlichen Wachseins durch Anteile unserer Person und ihres Lebens. Das entspricht übrigens auch modernen Ansätzen der Psychologie. Sie gehen statt von einem  einheitlichem Ich eher von einer Vielzahl von Ich-Anteilen aus, die wir alle in uns tragen und die unterschiedlich weit entwickelt sein können. Ob man diese nun „innere Stimmen“, „Teilpersönlichkeiten“ oder "Ego-States" (obwohl es korrekter eigentlich "Ego-Aspects" heißen sollte)  nennt, das Prinzip bleibt das gleiche. (siehe dazu auch den Artikel "Die Struktur desr Psyche" von Oliver Bartsch / http://www.connection.de/index.php/gesundheit-heilung/1761-die-struktur-der-psyche )

Wenn wir Erleuchtung als Befreiung aus dem Leiden von begrenzten Ich-Konzepten und als Erwachen zu einer transzendenten Seinsebene verstehen, könnten sich „Ego-Aspects“ diesbezüglich in „True-Self-Aspects“ verwandeln. Das wären dann  die individuellen und zugleich überpersönlichen Ausstrahlungen  unseres transpersonalen Wesenskernes,  durch die Facetten unserer Person und deren Anteile hindurch. So wie das Licht eines Diamanten zugleich farblos, aber durch jede seiner Facetten wiederum in einzigartigen Farbschattierungen leuchtet.

Diamant

 

Eine Art sich der Multidimensionalität von Erleuchtung konkreter zu nähern habe ich schon in meinem Artikel in der Connection Ausgabe Mai/Juni 2013 mit dem Thema "Erleuchtung ganz oder garnicht - Erwachen aus der Perspektive des Integralen Modells und das Konzept der Entwicklungslinien" beschrieben. Hier schildere ich, wie man eine differenzierte Betrachtung von Erwachen/Erleuchtung anhand der Entwicklungslinien nach dem Integralen Modell von Ken Wilber anstellen kann.

Das Integrale Modell hält noch weitere Betrachtungen dieses Themas parat, die ich hier nur andeuten will und auf die ich genauer in vielleicht in weiteren Blogbeiträgen eingehen werde: Wilber spricht von den "drei S" der Erleuchtungsentfaltung und meint damit "States, Stages, Shadow" (deutsch: Zustände, Stufen, Schatten)

Mit "States" sind  Bewusstseinszustände gemeint. Hier hat Erleuchtung etwas damit zu tun, ob wir die dualistische Wahrnehmung eines getrennten Ichs überschreiten und  die Einheit allen Seins sowohl in grobstofflichen, feinstofflichen, kausalen (im Sinne eines kausalen ewigen Urgrundes), als auch nondualen Qualitäten erleben können.

Mit "Stages" (Stufen oder Ebenen) bezeichnet Wilber strukturelle, aufeinanderfolgende Ebenen der evolutionären Bewusstseinsentwicklung (grob: archaisch, magisch, mythisch, rational, pluralistisch, integral, superintegral), die wir sowohl individuell als auch kollektiv durchlaufen. Vereinfachend gesagt beschreiben diese Ebenen die Weite unserer Wahrnehmung und Interpretationsmuster mit der wir jeweils die Welt und unsere eigenen Erfahrungen deuten. Hier bedeutet Erleuchtung, die Fähigkeit umfassende Perspektiven einnehmen zu können,  welche prärationale und rationale Sichtweisen transzendieren, sie aber zugleich integrieren. (In diesem Zusammenhang hat der Begriff „Erleuchtung“ (im Englischen „enlightenment“) eher eine Nähe zu dem deutschen Begriff „Aufklärung“ (im Englischen ebenfalls „enlightenment“. Es handelt sich also um eine aufgeklärte Weltsicht, die dem aktuellen Stand der am weitesten entwickelten menschlichen Perspektiven und reflektierten Einsichten entspricht)

Das dritte „S“ (Shadow = Schatten)  hat mit der Psychodynamik des Schattens zu tun. Hier weist Wilber daraufhin, dass neben der Transzendierung der personalen Ebenen auch  die Integration verdrängter Schattenanteil der Person (auch von der rationalen und prärationalen Ebene) und ein sich daraus ergebendes authentisches Ich-Gefühl erforderlich ist, damit spirituelle Entwicklung auch mit psychischer Gesundheit und menschlicher persönlicher Reife einhergeht.

Nach Wilber braucht es in allen drei Bereichen ein erwachtes Bewusstsein, damit man von einer umfassenden Erleuchtung sprechen kann.

Diese Aspekte sind komplex. Sie bedürfen einer intensive  philosophischen Reflektionen und großer Aufrichtigkeit in Bezug auf die eigene Reife. Dabei tut es gut,unseren Geist immer wieder in den kühlen Wassern direkt erlebter Stille eintauchen zu lassen. Hier brauchen wir rein gar nichts zu wissen oder zu reflektieren. Hier erfahren wir uns als das absolute Gewahrsein, das sich ohne jeden Begriff als jenseits jeder Eigenschaft weiß.

Doch um in der Welt der Formen, Begrifflichkeiten und relativen Erscheinungen halbwegs klar über Erwachen sprechen zu können, reicht die simple Dualität "erwacht/ nicht erwacht" bei Weitem nicht aus. Hier brauchen wir ein breites und differenziertes Verständnis. Der integrale Ansatz zeigt viele Aspekte davon auf.

 Torsten Brügge, Hamburg 2013

 

 

 

 

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ein Austausch von Wolf Schneider und Torsten Brügge

Auf meinen vorherigen Blogbeitrag gab es von Wolf Schneider einen interessanten Kommentar, der neben Übereinstimmung auch einen sehr wichtigen Kritik-Punkt enthielt. Ich antwortete Wolf darauf zunächst in einer Email, worauf hin er mich dazu anregte, den kleinen Dialog zwischen uns in einem neuen Blogbeitrag einzustellen. Denn hierbei handelt es sich um die Eröffnung eines eigenständiges Thema, das viele Leser interessieren könnte.

 

Zunächst also noch mal der Kommentar von Wolf und dann die Antwort darauf von mir:

 

Lieber Torsten,

 

danke für diese gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema Spiritualität und Wirtschaft! Das beschäftigt mich, wie du weißt, seit langem. Hier speziell: Advaita und unser Geldsystem. 90 Prozent Zustimmung zu allem, was du hier schreibst. Trotzdem ein Kritikpunkt, auch auf die Gefahr hin, dass ich damit als kleinlich erscheine, aber es ist m.E. ein wichtiger Punkt.

 

Du schreibst: »Die verdunkelnden Geisteskräfte unserer Identifikation mit einer Person können durchschaut und die Wahrheit dahinter kann wieder entdeckt werden.« Mit dieser zentralen Behauptung des Advaita bin ich nicht mehr einverstanden, obwohl ich das viele, viele Jahre lang war. Ob das ein Rückfall in den Herrschaftsbereich des Ego oder ein Fortschritt an Erkenntnis ist? Jedenfalls glaube ich inzwischen, dass die Identifikation mit einer Person etwas sehr Wertvolles ist und keine Verdunkelung des Geistes. Wir sollten diese Identifikation schätzen und würdigen, sie ist eine unabdingbare Voraussetzung für unsere psychische Gesundheit. Und: Es gibt noch viel mehr als diese Identifikation mit nur einer Person. Wir können uns mit noch anderem identifizieren, mit anderen Menschen und Gruppen von Menschen, mit Dingen, Projekten, Überzeugungen, Werten – letztlich mit allem, mit dem »Großen Ganzen«: Das ist dann die mystische Erfahrung. Aber vorher gibt es die Person. Die bitte nicht über Bord werden – und auch, sie als "dunkel" zu bezeichnen finde ich nicht nur richtig, sondern sogar gefährlich.

 

Liebe Grüße

 

Wolf

 

Antwort von mir:

 

Lieber Wolf,

danke für Deine Mail, die Wertschätzung und die Kritik.
Was Du ansprichst ist ein sehr guter Punkt und ich stimme Dir da quasi voll zu, bzw. führe unten auf, wie ich es genau sehe. Vermutlich hast Du mich da auch bei einer "alten Advaita-Einseitigkeit" "erwischt", die ich eigentlich jetzt auch anders sehe, aber vielleicht in meinem Sprachgebrauch doch noch nachklingt.

Um es in Kürze anzureißen:

Tatsächlich ist die Identifikation mit einer individuellen Person ein wichtiger Entwicklungsschritt in der menschlichen Entwicklung und von großem Wert. Diese Tatsache beschreibt das Integrale Modell von Wilber wieder mal sehr schön. Hier liegt die Identifikation mit einer Person auf der personal/rationalen Ebene. Sie hat mehr Reife und Weite als die prärationale/präpersonale Ebene. Denn auf der personalen Ebene erhebt sich die Person zu einer individuellen Vielfalt und Eigenart, die sich aus den Regel- und Rollenmodellen der prärationalen Eingebundenheit in eine vorgegebene Gruppenzugehörigkeit löst. Dazu ein Bespiel: Der Sohn eines katholischen Bauern, der schon in der sechsten Generation den Hof übernehmen soll, aber eigentlich andere Impulse verspürt, bricht aus der Tradition aus. Er sagt: "Ich bin eine Person mit ganz eigenen Fähigkeiten und Wünschen. Ich werde nicht den Hof meiner Eltern übernehmen. Ich bin Künstler, werde in die Großstadt ziehen und auf den Gottesdienst jeden Sonntag verzichte ich auch." Diese Identifikation mit einem individuellen, persönlichen Dasein ist Ausdruck einer erweiterten Freiheit. Das ist in diesem Sinne keine Verdunkelung, sondern tatsächlich eine wunderbare Erhellung und Befreiung aus alten Mustern.
Dennoch ist nach Wilber (und den spirituellen Traditionen) diese Freiheit nur eine relative, zumindest dann, wenn es bei der "begrenzten" Identifikation mit der Person bleibt. Denn auch wenn ich mich als Individuum fühle, bin ich noch getrennt von der Ganzheit des Seins. Oft fühlen wir uns auf einer bestimmten Stufe der Individuation sogar abgetrennter als jemals zuvor, weil sich unsere Sichtweise auf existentielle Perspektiven ausdehnt,ohne dass wir schon einen Geschmack des alles verbindenden Einsseins haben. Wir sind zwar etwas „Besonderes“, aber empfinden uns damit auch abge“sondert“ und wir spüren, dass uns das „Ich bin eine Person“ nicht das tiefste Glück gibt, welches wir uns eigentlich wünschen.

 

Über die Begrenzung hinaus gibt es die Möglichkeit - wie Du schreibst -, sich mit viel "weiteren Kreisen" des Seins zu identifizieren, bzw. zu erkennen, das wir letztlich alles SEIN sind. (Ich würde dies dann eher das "Erkennen der Identität mit ALLEM" nennen, denn dies ist kein Akt des Sich-Gleich-Setzens, sondern eher ein Erkennen des Schon-Immer-Eins-Seins).
Wenn in Advaita-Kreisen oft - und manchmal einseitig - auf den leidvollen Charakter der Identifikation mit einer Person hingewiesen wird, hat das Vor- und Nachteile, bzw. entspricht nach dem Verständnis der Entwicklungsdynamik des Integralen Modells verschiedenen Phasen der Entwicklung.

 

 Nach Wilber findet Entwicklung nämlich in drei Phasen statt.


1. Differenzierung = Abtrennung von der alten (bisherigen) Ebene - das bisherige wird als unwahr und begrenzt erkannt und deshalb zunächst zurückgelassen oder "abgestoßen"

2. Identifikation mit der neuen Ebene = das neue, emergierende Bewusstsein wird als weiter und wahrer erahnt und man setzt sich ganz mit dem Neu-Erlebten gleich (sozusagen eine "Verherrlichung" der neu entdeckten Ebene)

3. Integration der alten Ebenen - die übermäßige Abtrennung von den alten Ebenen verwandelt sich von der höheren Ebene aus in ein liebevolles Umarmen und Wertschätzen der „niederen“ Ebenen, da man auch das Alte als Vorgänger oder Bereiter des Neuen erkennt - nur eben nicht mehr als die höchste, sondern als relative Wahrheit

Die Advaita-Ausrichtungen betonen eher die Differenzierung (Schritt1) von der personalen/rationalen  Ebene der persönlichen Identität (z.B. mit der Neti-Neti-Botschaft: "Ich bin nicht mein Körper... nicht meine Gefühle  .. nicht mein Denken... nicht meine Person“) und die Identifikation (Schritt 2)  mit der transpersonalen Ebene ("Ich bin das Absolute." "Ich bin das alles übersteigende, unpersönliche Bewusstsein"). Dabei wird dann manchmal die Integration der personalen/rationalen  (Schritt 3) vergessen, bzw. wird diese nahezu abgespalten. Das aber ist kein "ganzheitlich heilsamer Advaita" sondern "die kränkelnde Advaita-Krise". Diese Thematik schildere ich noch genauer  in meinem Artikel für die Zeitschrift "Integrale Perspektiven" mit dem Titel "Weisheit durch Nicht-Wissen", der im November rauskommen soll.

Hinzukommt, dass es auch auf der personalen Ebene selbst schon zu "kränkelnden Verzerrungen" kommen kann, die auf ihre Art den "Wert der Person" schmälern oder sie als "verdunkelnde Maske" wirken lassen können. Auch hier hat Wilber wieder hilfreiche Sichtweisen: Er sagt, es ist sinnvoll das "kleine Ich" auf der personalen Ebene in zwei Aspekte zu unterteilen: 1. das falsche Ich und 2. das authentische Selbst (manchmal auch als „einzigartiges Ich“ bezeichnet). Das wahre Selbst wäre dann die Tiefenschicht des unpersönlichen Seins, das die Advaitis gerne betonen.

Das falsche Ich ist dadurch gekennzeichnet, das es durch viele nicht-integrierte Schattenanteile verzerrte, verfälschte Selbst- und Fremdwahrnehmungen enthält. Das authentische Ich hat die Schattenanteile integriert und ist auf der personalen Ebene natürlicherweise heil und ganzheitlich wertvoll.

Die De-Identifzierungs-Betonung im Advaita bezieht sich - meiner Meinung nach - auf zwei Elemente.

1. Es wird geahnt, dass das Ich etwas "falsches" an sich hat, weil man die Person auch als Maske (persona=Maske) oder falsches Ich erkennt.
2. Es wird gespürt, dass es Entwicklungspotentiale zu einer erweiterten Identität gibt, die die - auf die Person begrenzte - Identität überschreitet und zum wahren Selbst führt. Vom authentischen Selbst spricht die Advaita-Tradition wenig oder gar nicht, wahrscheinlich weil sie noch nicht das Wissen der westlichen Psychologie, der Aufdeckung von personalen Strukturen und Psychodynamiken hatte.

 

Die Gefahr bei der Betonung auf die De-Identifikation vom ich liegt darin, dass wir uns manchmal de-identifzieren bevor sich das falsche Ich durch Schatten-Integration zum authentischen Ich entwickelt hat. Das hat kann die Folge haben, dass wir uns schon mit dem absoluten ICH BIN identifizieren, ohne das die erforderliche (und natürliche) Umwandlung des falschen Ichs in das authentische Selbst geschehen ist. Manchmal neigen wir dann dazu diese personale Entwicklung  nicht nachreifen lassen, weil wir  Schattenarbeit auf der personalen Ebene fälschlicherweise für unnötig erachten.

Mit der Identifikation mit dem ICH BIN ohne Nachreifung des authentischen Selbst, de-identifzieren wir uns auch vom Schatten, was der Schatten toll findet, denn so kann er überleben.  Das ist Wilbers Betrachtungsweise und auch hier fasst er etwas in Worte, was ich persönlich ;-) intuitiv erahnt hatte, wofür mir aber die Worte fehlten. Für solche Beschreibungen könnte ich Wilber dann manchmal küssen!

Für mich besteht die Lösung (also ein alles integrierender Sichtweise darin), entweder zunächst das authentische Ich zu entwickeln in dem das falsche Ich seinen Schatten integriert und "danach" die ausschließliche Identifikation mit der Person in eine erweiterte Identifikation mit Allem zu entdecken (was eben auch die De-Identifkation mit der ausschließlichen Identfikation mit einer Person einschließt (mein Gott versteht mich hier noch jemand? ;-) ). Oder aber schon "spirituell vorzustoßen", d.h. schon tiefe Erfahrungen der De-Identfikation von der Person und Einheitserfahrungen mit Allem zu kosten, dann aber unbedingt die Schattenintegration und die Entwicklung des falschen Ichs zum authenischen Selbst "nachreifen zu lassen". (Letzteres war übrigens eher meine persönliche/unpersönliche Erfahrung). Vermutlich ist spirituelle Entwicklung auch immer eine Mischung oder Gleichzeitigkeit von beidem.

Es gibt übrigens auch ein schönes Ramana-Zitat dazu (das ich aber hier nur aus einer nicht wort-wörtlichen Erinnerung zitieren kann):

Frager: "Identifiziert sich der Jnani (Erwachte) überhaupt nicht mehr mit seiner Person?"
Ramana: "Natürlich identifiziert er sich mit seiner Person. Er weiß, dass er seine Person ist, aber er weiß auch, dass er gleichzeitig alles Andere ist."

Also Danke noch mal für Deine Kritik. Ich kann mir vorstellen, dass dies viele Menschen interessiert. Und es ist gut, falls wir über „Ich“, „Selbst“ und „Identifikation“ sprechen, immer genau damit zu sein, ob wir vom falschen Ich, vom authentischen Selbst oder vom wahren Selbst sprechen, sonst wird es verwirrend.

Alles Liebe

Torsten

 

 

 

 

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Liebe Leser,

vorweg: Ich bin wahrhaftig kein Geld- und Wirtschaftsexperte und werde es wohl auch nie werden. Dennoch möchte ich mit diesem Blogeintrag dazu einladen, das Thema "Wirtschafts- und Geldsystem" aus verschiedenen (spirituellen) Perspektiven  zu beleuchten. Dies passt auch zur gerade aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Connection spirit mit dem Titel "Wachstum ohne Ende? Nein: Werde, der du bist!". Dort gibt es viele interessante Stimmen dazu. Der Entwurf für diesen Blogbeitrag, entstand aber schon früher.

Mir scheint die Beschäftigung mit  unserer aktuellen westlichen Wirtschaftsordnung, deren Dynamiken und Folgen, ein wichtiges Thema zu sein. Gerade Menschen mit einer spirituellen Ausrichtung, die die Bereitwilligkeit haben Altgewohntes zu hinterfragen, können hier neue Sichtweisen entdecken und zu einer „Aufklärung“ in diesem Bereich beitragen, die vielleicht auch Auswirkungen auf breitere gesellschaftlichen Schichten haben könnte. 

Bei dieser Hinterfragung gibt es (mindestens) zwei grundsätzliche Perspektiven: Die innere und die äußere. Erstere beschäftigt sich mit dem unmittelbaren Erleben von Glaubensmustern, Einstellung, Identitätsempfinden, Gefühlen, Motivation -  also all dem was "innerlich abgeht". Letztere befasst sich mit äußeren Faktoren: Systemen, Gesellschaftsstrukturen, Wirtschaftsordnungen, Geldsystemen, Institutionen und der Wechselwirkung all jener Elemente.

Mein Schwerpunkt in der Rolle eines spirituellen Begleiters und Lehrers liegt vor allem darin, Menschen einzuladen, sich der inneren Dynamiken ihres Erlebens bewusst werden. Aus dieser Perspektive können wir uns dem Thema "Geld und Wirtschaft" nähern und befreiende Erkenntnisse gewinnen. Unsere Beziehung zu "Geld und Wirtschaft" ist stark davon geprägt, womit wir uns identifizieren und welche Vorstellungen von Glück und Lebenszufriedenheit wir daraus ableiten. Nach den Beschreibungen spiritueller Ansätze, wie zum Beispiel dem Advaita, leben die meisten Menschen unter einer Glocke der Unbewusstheit und Verblendung. Wir haben den bewussten  Kontakt zu unserer wahren Natur verloren, weil wir uns übermäßig mit unserem Körper, unseren Gefühlen, Gedanken, sozialen Rollen, unserer Person identifizieren. 

Tatsächlich besteht unser innerster Wesenskern als regloses, friedvolles, in sich selbst erfülltes Bewusstsein. Doch durch die Verschleierung dieser Wahrheit ändert sich unser Erleben. Wir fühlen uns abgetrennt, ungenügend, unzufrieden und ängstlich. Meist versuchen wir diese leidvollen Gefühle mit psychologischen Abwehrmechanismen von uns fern zu halten. So bauen wir eine Maskenidentität auf mit der wir uns von einem authentischen menschlichen Dasein und unserem transzendenten Wesenskern entfernen.
Eine Form der Abwehr besteht darin, dass wir über unsere natürlichen menschlichen Bedürfnisse hinaus nach Ersatzbefriedigungen suchen. Materielle Sicherheit und Wohlstand versprechen uns den Reichtum und das Wohlempfinden, die unserer innersten Natur zueigen aber meist verdeckt sind, zurückzugeben. Wir suchen im Außen nach Bequemlichkeit, Vergnügen, Luxus, nach immer mehr und immer besseren Konsumobjekten. In dieser "Gier nach mehr" sind wir oft triebhaft gesteuert. Unsere Perspektive verengt sich. Wir sehen und handeln egozentrisch. Wir werden blind für die Auswirkungen, die unsere Sucht nach Ersatzbefriedigung auf uns selbst, unsere Mitmenschen und unsere Umwelt hat. Und vor allem: Wir bleiben unbefriedigt.

Zugleich werden wir von Angst getrieben. Es ist die Furcht, dass unser persönliches Leben bedroht und ausgelöscht werden könnte. Weil wir das Bewusstsein für unseren unsterblichen Wesenskern verloren haben, glauben wir an die Realität des Todes und fühlen uns durch ihn bedroht. Während uns die Gier nach vorne zieht, sitzt uns die Angst im Nacken und hetzt uns von hinten. Furcht zeigt sich konkret im übermäßigem Festhalten an vermeintlich sicheren Strukturen, in der panischen Übererregtheit und nervösen Aktivität, wenn unsere vertrauten Lebensumstände und unser vermeintlicher Besitz bedroht werden.

Die Geistesbewegungen von Gier und Angst erleben wir innerlich: Wieviel unseres Denkens dreht sich um Geld und wirtschaftlichen Wohlstand? Wie oft ist diese Aktivität von Gier angetrieben? Wie häufig glauben wir, dass das, was wir jetzt haben und erfahren, nicht genügt und begeben uns dann auf die Jagd nach mehr, nach noch mehr und noch mehr?

Und wieviel Geistesaktivität dreht sich um wirtschaftliche Angst und die vielen Versuche uns vor Verzicht, Verlust oder materieller Armut abzusichern?  Ein gewisses Maß an Beschäftigung mit Gedanken an Geld und materielle Absicherung ist natürlich. Aber in Unkenntnis des Reichtums unserer wahren Natur  nimmt das ein Übermaß an, unter dem wir und unsere Umwelt leiden. Dann fühlen wir uns im Verlangen verloren oder in der Frucht gefangen. Damit schneiden wir uns noch mehr von innerem Frieden und „innerem Wohlstand“ - im Sinne eines „Stehens im Wohlgefühl“-  ab. Das wiederum bringt uns in einen „ressourcen-armen“ Bewusstseinszustand in dem klares und ganzheitliches Wirtschaften schwer fällt.  

 Die Kräfte von "Gier" und "Angst" sind nicht nur individuell zu spüren, sondern wirken sich auch kollektiv aus. Ein Blick an die Börsen reicht aus: Die psychologischen Einflüsse von Angst und Gier haben einen enormen, wenn nicht sogar den entscheidenden Einfluss auf das Verhalten von Händlern und Investoren hat. An seiner Oberfläche scheint der Finanzmarkt von harten Fakten und logischen Entscheidungen bestimmt zu sein. Doch schauen wir nur ein wenig tiefer, sehen wir, wie sehr psychologische Verwirrung von überhöhten Hoffnungen und dramatisierten Befürchtungen, von Verlangen und Furcht die Finanz- und Wirtschaftsströme unserer Welt beeinflussen. Im Strudel dieser Kräfte ist es fast unumgänglich, dass unser Umgang mit Geld egozentrisch und destruktiv bleibt. Starren wir allein auf die maximale Rendite, den maximalen Zins, den maximalen Gewinn für unser Geld, sehen wir nicht welche Auswirkungen bestimmte Käufe und Investitionen haben. Wir erkennen nicht, dass riesige Finanzblasen entstehen, die kaum einen realwirtschaftlichen Gegenwert aufweisen. Es ist uns egal - oder bleibt zumindest unbewusst - ob unsere Kaufkraft und unsere Investitionen eher in die Ausbeutung und Schädigung von Menschen und Umwelt fließt oder Wirtschaftsbereiche unterstützt, die sich für Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Umweltschutz und ähnliche Werte engagieren. Wir laufen einfach mit in einem Wirtschafts- und Geldsystem, das vermeintliche Gegebenheiten, wie den stetigen Wachstumsdruck, die Selbstverständlichkeit von Zins und Zinseszins, das Konstrukt eines nie alternden Geldes, als selbstverständliche Wahrheiten erscheinen lässt. Wir merken, nicht wie fragwürdig, ja oft abstrus unvernünftig viele dieser Konstrukte eigentlich sind.

Ich möchte im Folgenden nicht suggerieren, dass es für all diese Problematiken einfache Lösungen gibt. Und doch bin ich der Überzeugung, dass man zumindest zwei wichtige Elemente einer möglichen Veränderung aufzeigen können. Die eine besteht in einer innerlichen Bewusstseinsentwicklung, die zunächst in jedem Individuum und dann als "Graswurzelbewegung" auch kollektive Veränderungen mit sich bringen könnte. Der zentrale Punkt besteht dabei in der Wiederentdeckung unserer wahren Natur als in sich selbst erfülltes Gewahrsein. Die verdunkelnden Geisterkräfte unsere Identifikation mit einer Person können durchschaut und die Wahrheit dahinter kann wieder entdeckt werden. Damit finden wir Zugang zu einer natürlichen, immer schon gegenwärtigen Erfahrung inneren Friedens. Die Entdeckung dieses Friedens stellt den wahren Reichtum eines menschlichen Lebens dar. Sie erfüllt und befriedigt tatsächlich. Echte innere Erfüllung ist unabhängig von Bedingungen und nicht an Objekte gebunden. Mit ihrem Erleben verschwindet die Gier nach immer mehr und immer besseren Erfahrungen. Das Verlangen nach übermäßigem Konsum löst sich auf, wir werden auf eine gesunde Weise bedürfnisloser.

Mit der Entdeckung unseres wahren Wesens jenseits der Fehl-Identifikation stellen sich auch Vertrauen und ein Gefühl tieferer Sicherheit ein. Wir transzendieren unsere menschlichen Ängste vor Verlust und Tod. Das bedeutet nicht, dass wir keinerlei Angst mehr erleben. Doch wir lassen uns von ihr, bzw. unseren Reaktionen auf sie, nicht mehr beherrschen. Stattdessen können wir die Ungewissheit und Endlichkeit unserer menschlichen Existenz mit Freude und Lebendigkeit willkommen heißen.

Diese Freiheit von Gier und Angst lässt uns innerlich und äußerlich vollkommen neue Perspektiven erkennen. Durch das Ruhen in bedingungsloser Erfüllung werden wir mutiger, sowohl unsere individuelle Beziehung zu Geld und Wirtschaft, als auch die kollektiven Glaubensmuster im Wirtschaftssystem genau unter die Lupe zu nehmen. Wir trauen uns,  auch andere Wege zu gehen als die gewöhnlichen Lebensplanungen und Wirtschaftsweisen. Wir vertrauen darauf, dass echtes Glück immer zur Verfügung steht, unabhängig davon, über wie viel Geld und wirtschaftlichen Wohlstand wir verfügen.

Und hier möchte ich auch zu einem äußeren Aspekt des Themas "Geld und Wirtschaft" kommen, nämlich die grundlegende Hinterfragung wesentlicher Glaubensmuster, die wir kollektiv zu diesem Thema in uns tragen.

Dies ist keineswegs ein "leichtgängiges" Thema - jedenfalls war es das für mich nicht. Aber zunächst aufgrund der Anregung eines Freundes (Eramo Radant) und weiteren Recherchen von mir selbst, ist mir in den letzten Jahren klar geworden, wie selbstverständlich wir an viele Begrifflichkeiten des Wirtschaftslebens glauben, ohne sie eigentlich tiefer zu durchdringen oder gar zu verstehen.

Ich möchte dem Leser  hier auch keine fertigen Sichtweisen vorgeben, sondern einige anregende Fragestellungen aufzeigen, die Eingangstore zu einer intelligenten, kritischen Betrachtung eröffnen können:

 - Was ist Geld eigentlich? Wofür wurde es "erfunden" und welche Funktion hat es heute? Hat eine Geldmünzen oder ein Geldschein überhaupt einen realen Gegenwert?

 - Was ist Zins und Zinseszins? Welche Auswirkungen hat er auf die Schaffung und Umverteilung von Geldwerten?

 - Wieviel Zinskosten stecken in den alltäglich gebrauchten Gütern von Nahrungsmittel, Mieten, Mobilität  usw.?

 - Was haben die Gewinne aus Finanzprodukten mit den Schulden der Schuldner zu tun?

 - Wieso geht die Schere zwischen Reich und Arm in den meisten Gesellschaften immer weiter auseinander?

 - Was ist mit "Wachstum" gemeint? Welche Arten von Wachstum gibt es und wie kommt es zum allgemeinen wirtschaftlichen "Wachstumsdruck"?

 - Was für andere Möglichkeiten eines Geld- und Wirtschaftssystem gibt es?

 - Wie wäre es den Zins abzuschaffen oder zu minimieren?

 - Was ist "Freigeld" (oder umlaufgesichertes Geld) und was bewirkt es?

 - Welche Möglichkeiten hat jeder Einzelne, um andere Geldsystemen oder Wirtschaftsmodelle auszuprobieren?

Wenn man solchen Fragestellung anhand von Literatur, Web-Recherchen und eigenen Reflektieren nachgeht, mag das manchmal erst kompliziert erscheinen - mir jedenfalls erging es so. Und dennoch lohnt es sich. Zeitweise schien es mir so, als würde die "Denkarbeit", solche Fragen zu ergründen, tatsächlich einer Art spiritueller Praxis gleichen. Dabei geht es zunächst um eine recht intellektuelle Auseinandersetzung, für die wir vernunftsbegabtes Denken brauchen. Auf einer tieferen Ebene findet dann ein Aufbrechen von altgewohnten Denkmustern statt, das zur Eröffnung völlig neuer Perspektiven führt. Insofern scheint es mir gerade beim Thema „Geld und Wirtschaft“, dass sich sowohl eine innere als auch eine äußere Perspektive gegenseitig fruchtbar ergänzen.

Wer sich mehr mit dem Thema beschäftigten möchte, empfehle ich die aktuelle Ausgabe der Connection spirit.

Eventuell werde ich an dieser Stelle auch noch einige Literaturempfehlungen nachliefern.

 Torsten

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Auf meinen letzten Blogeintrag über "Wert und Gefahr von Typologien in der psycho-spirituellen Entwicklung", auf den ich auch in der Facebook-Gruppe "Satsang - erwachte Begegnungen" hinwies, gab es dort von Jemandem den kurzen Kommentar: "WAS?????".

Natürlich weiß ich nicht, was mit diesem eigentlich nichts-sagenden Kommentar gemeint ist, hatte aber eine Ahnung, was er meinen könnte, nämlich die Überraschung oder das Entsetzen, dass man sich in Satsang-Kreisen überhaupt mit Typologien beschäftigt. Um das zu erläutern, gab es dann von mir folgende Antwort auf den Kommentar:

"was WAS???? oder das DAS!!!! - es gibt eine relative Sichtweise, in der intelligente Unterscheidungen sinnvoll sind - es gibt eine absolute Sichtweise in der jede Unterscheidung wegfällt - nonduale Erkenntnis schließt beide ein und erkennt, dass es zwischen ihnen keinen Unterschied gibt - manche Unterscheidung des Relativen verweisen sogar auf die untrennbare Einheit des Absoluten - nonduale Erkenntnis transzendiert das Relative UND integriert es - nonduale Konzeptualisierung transzendiert das Relative, identifiziert sich mit dem Absoluten und spaltet das Relative ab - das wäre nur eine neue Art von -jetzt subtilem- Dualismus
- das ist jedenfalls "meine" Erfahrung"

Das ist eine recht abstrakte, komprimierte Darstellung und ich hoffe die Blog-Leser können damit etwas anfangen. Ansonsten bitte nachfragen, dann konkretisiere ich gerne!


herzlich


Torsten

 

 

 

 

 

 

 

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Liebe Leser,

da ich vor ein paar Tagen im Wilber-Forum der Connection einen recht ausführlichen Beitrag zu dem Thema „Wert und Gefahren von Typologien“ eingestellt habe und dieser auch allgemein für „Nicht-Wilber-Kenner“ interessant sein könnte, poste ich ihn hier auch dem Blog:

 

Hallo Oliver,

 

danke für Deine Frage im Forum. Ja, das mit den Typologien kann schon manchmal verwirrend sein, deshalb hier eine ausführlichere Antwort, die allgemein auf Typologien eingeht:

 

Zur Beginn erstmal noch mal eine kurze grundsätzliche Erläuterung der Bedeutung von Typologien bei Wilbers Integralem Modell.

 

Typologien sind eine von 5 Hauptelementen des Integralen Modells (die anderen sind die vier Quadranten, die Bewusstseins-Ebenen, die Bewusstseins-Zustände und die Entwicklungslinien).

Typologien beschreiben typische Eigenschaften (meist von Individuen), die sie mehr oder weniger über die ganze Entwicklung hinweg charakterisieren. Dabei können sich die „Typen“ natürlich durchaus über die Bewusstseins-Ebenen hinweg entwickeln. Dennoch bleibt der „Grundgeschmack“ einer typischen Eigenschaft erhalten, zeigt sich auf den verschiedenen Ebenen aber unterschiedlich in abgewandelter Funktion.

Hier ein praktisches Beispiel in der Kombination von moralischer Entwicklung und der simplen Typologie männlich/weiblich:

 

Die moralisch-ethische Entwicklung nach dem Integralen Modell (angelehnt an die Moraltheorie von Lawrence Kohlberg) geht über folgende Bewusstseins-Ebenen (oder auch Stufen genannt):

 

1.          präkonventionell - egozentrischen, kreist um das eigene Ich

2.          konventionell - ethnozentrisch, kreist um das „Wir“ der eigenen Bezugsgruppe

3.          postkonventionell -weltzentrisch, umfasst das „Wir alle“ der gesamten Menschheit

4.          integriert oder auch „transzendent liebend“ - umfasst „das Wir aller Wesen aller Ebenen“, allumfassendes Mitgefühl (Karuna)

 

Alle Menschen durchlaufen diese Stufen und der „Kreis unseres Mitgefühls“ erweitert sich auf diese Weise (das wäre eine Entwicklung über die Ebenen hinweg)

 

Die feministische Ethikerin Carol Gilligan stellte Untersuchungen an, bei der sie feststellte, dass diese Stufen von Männern und Frauen jeweils auf eine für das Geschlecht typische Weise erlebte und ausgedrückt werden: Männer betonten bei ihren moralischen Urteilen eher Werte wie Autonomie, Rechte und Gerechtigkeit. Die moralischen Urteile der Frauen beruhen gründen sich eher auf Beziehungen, Fürsorge und Verantwortlichkeit beruhte.

Hier ein kurzes Zitat von Wilber, der die Typologie Männlich/Weiblich beschreibt (natürlich nur grob, die Gender-Debatte muss natürlich viel umfassender sein und sowohl genetisch-physiologische Faktoren, psychologisches Erleben, Einflüsse von gesellschaftlichen Werten und Strukturen einbeziehen, was Wilber an anderen Stelle auch macht):

„ Männer neigen zum Tun; Frauen eher zu Gemeinschaft. Männer richten sich nach Regeln; Frauen orientieren sich an Kontakten. Männer schauen; Frauen berühren. Männer neigen zum Individualismus, Frauen zu Beziehungen. Eine von Gilligans Lieblingsgeschichten: Ein kleiner Junge und ein Mädchen spielen zusammen:

Sagt der Junge: »Lass uns Seeräuber spielen!« Sagt das Mädchen: »Lass uns spielen, dass wir Nachbarn sind.« Der Junge: »Nein, ich will Seeräuber spielen!« »Na gut, dann spielst du einen Seeräuber, der nebenan wohnt.«

 

Über die Gefahr, die in jeder Anwendung von Typologien liegt, schreibe ich gleich noch etwas, aber offensichtliche, typische Unterschiede auf der Erscheinungsebene des Seins zu übersehen, kann zu einer naiven und gleichmacherischen Weltsicht führen. Und es liegt ein Wert in der Beschäftigung mit Typologien. Manchmal kann es ungeheuer befreiend sein, bestimmte Typen zu erkennen, besonders dann, wenn man sich zum Beispiel selbst unbewusst mit einem Typ identifiziert und denkt, dass eigene Sein mit diesen typischen Merkmalen wäre die ganze Wirklichkeit. Wenn man dann erkennt „Aha, es gibt auch andere Typ-Strukturen als meine“, befreit  die einen aus einer unbewussten Einseitigkeit und erweitert den Kreis der Wahrnehmung und der Einfühlung in sich selbst und andere erheblich. Wenn ich beispielsweise weiß, dass viele meiner eher männlichen Erlebens- und Verhaltensweise sich von weiblichen erheblich unterscheiden, werde vielleicht ich offener, die weiblichen Erlebens- und Verhaltensweisen zu erkunden und mich einzufühlen. Darin liegt der Wert von Typologien, mit ihnen kann ich mich aus unbewussten Mustern befreien.

 

Natürlich gibt es auch große Gefahren in der Beschäftigung mit Typologien. Wir können sie leicht wieder dazu benutzen für uns selbst und andere Leiden zu erschaffen. Zum Beispiel in dem wir sie zu einer absoluten Wahrheit erhöhen (wir vergessen, dass es nur ein Landkarte und nicht die Landschaft darstellt). Dann halten wir vielleicht  an einer bestimmten Typologie fest. Daraus resultiert dann eine trennende Weltsicht. Wir halten bestimmte Typen für besser oder wertvoller als andere. Wir benutzen Typologien um zu projizieren und andere (oder uns selbst) abzuwerten: „Du bist doch so ein Typ (Löwe, Choleriker, Enneagramm-Typ 8), deshalb bist Du so komisch!“ Jede Typologie braucht einen sehr achtsamen Umgang. Man sollte sich bewusst sein, wofür man sie gebrauchen will. Man kann sie für Selbst-Reflexion benutzen, aber sie andere „um die Ohren zu hauen“ wird schnell zu einem Missbrauch.

 

Zurück zu der Verwirrung. Es gibt natürlich sehr, sehr viele Typologien im psychologisch-spirituellen-heilerischen Bereich. Die meisten sind wissenschaftlich  nicht anerkannt. Typologien können sich eher an äußeren Eigenschaften (Quadrant III und IV) oder eher an innerem Erleben (Quadrant II und III) orientieren oder manchmal alle Quadranten umfassen.

 

Neben einer Gender-Typologie ist vielleicht die bekannteste (und auch wissenschaftlich am besten erforschte) Typologie die von Introversion und Extraversion. Sie zielt auf Persönlichkeitseigenschaften ab, die durch die Interaktion mit der Umwelt charakterisiert werden. „Er ist ganz schön introventiert“ Darunter können sich viele Leute schnell etwas vorstellen.

 

Weithin bekannt ist wohl auch das Persönlichkeitsmodell der Temperamentenlehre, die auf der Säfte-Lehre (einer schon in der Antiken aufkommenden Medizin-Theorie) beruht und vier Haupttypen kennt: Sanguiniker, Phlegmatiker, Melancholiker und Choleriker. Hier kann man auch Bezüge zur der Fünf-Elementen-Lehre der traditionelle chinesischen Medizin ziehen.

 

Und es gibt noch unzählige andere Typologien aus verschieden Weisheits-Tradition, das kann echt verwirren.

 

Für mich persönlich und meine Tätigkeit als spiritueller Begleiter (auch in der Bodhisattva Schule zusammen mit meiner Partnerin Padma)  habe ich für die Bewusstseinsebenen, für die eine Typologie hilfreich ist, eindeutig einen Vorzug zu der Typologie des „Enneagramms“ (das Du ja in Deiner Frage auch erwähntest).  Dabei ist es mir allerdings sehr wichtig, dass beim Enneagramm auch die spirituelle Dimension des absoluten Bewusstseins eingebunden wird, wie es zum Beispiel Eli Jaxon-Bear tut (Buchempfehlung: „Das spirituelle Enneagramm“). Dabei wird auch immer wieder dazu ermutigt, die absolute Dimension reinen Gewahrseins ganz direkt zu erfahren. Auf dieser Ebene wird jede Typologie ungültig, da wir uns als ungetrenntes, eigenschaftsloses Bewusstsein erfahren. Und genau diese direkte Erfahrung unterstützt es dann, auf der relativen Ebene der Erscheinungen, uns von den Mustern unseres Körper-Seele-Geist-Mechanismus weiter zu de-identifzieren, sie zu lösen und auch zu transzendieren.

 Das Enneagramm der Befreiung - Padma Wolff

So ist für mich das Enneagramm ein sehr wertvolles Instrument, um oft unbewusste Identifikationsmuster aufzudecken und zu lösen. Es beschreibt unter Einbeziehung zahlreicher Elemente (charakteristische Haupteigenschaften, Kommunikationsmuster Leidenschaften, Sprachstil, Idealisierungen, vermiedene Gefühle, Abwehrmechanismen, Strukturen der animalischen Triebe… u.a. ) wie Identifikations- und Leidesmuster entstehen und aufrecht erhalten werden. (siehe auch die Grafik mit den „archteypischen Klischees“ des Enneagramms).

 

Dann regt es durch die Bewusstwerdung und die Ermutigung zum direkten Erleben an, sich aus den gewohnheitsmäßigen Mustern zu lösen und die transzendenten Bereiche des eigenen Charakters, die ein klarer Ausdruck der absoluten Seinsebenen sind, zu erleben und im eigenen Leben erstrahlen zu lassen.

 

Wenn ich hier so begeistert vom Enneagramm schreibe, heißt das nicht, dass ich andere Typologie ablehne oder sie nicht wertvoll finden. Aber ich habe keine andere Typologie gefunden, die so detailliert und rückhaltlos die typischen Strukturen unseres Egos aufdeckt und löst (wenn man bereit ist, sich auf das direkte Erleben einzulassen).

Deshalb ist es auch ein wesentlicher Teil der Ausbildung in unserer Bodhisattva Schule.

 

Ich hoffe die Beantwortung der Frage hat Dir etwas weiter geholfen. Letztlich kannst Du ja nur selbst herausfinden, welche Typologie für Dich nützlich und befreiend wirkt. Ich würde auch zu einer Art rhythmischen Wechsel zwischen Phasen der Beschäftigung mit einer Typologie und Phasen des totalen Loslassens aller Kategorisierungen raten. Dann vermeidest Du das Extrem „auf einer Seite stecken zu bleiben“ und kannst sowohl den Wert von Typologien, als auch den Wert dessen entdecken, was unser aller liebster Typ ist: stilles, regloses Bewusstsein. ;-)

 

Torsten  

 

Wenn es interessiert:

Ab Ende August gibt es einen neuen Grundkurs der Bodhisattva Schule www.bodhisat.de und meine Partnerin Padma Wolff bietet Enneagramm Seminare (nach dem Ansatz Eli Jaxon-Bears an) www.sevaa.de. Ennegaramm Seminaredirekt bei Eli Jaxon Bear: www.leela.org

 

Von der Bodhisattva Schule gibt es jetzt übrigens auch eine eigene Facebook-Seite: https://www.facebook.com/BodhisattvaSchule

 

 

 

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Leere und Fülle – die beiden Geschmäcker des einen Seins
Ein kleiner Reisebericht aus der Höhle des heiligen Vashishta


Wie auch mit unseren vorigen Retreat-Gruppen besuchten wir auf unserer Indienreise an den Ganges im Februar dieses Jahreseinen sehr besonderen Ort in der wilden Natur nördlich von Rishikesh. Dabei handelt es sich um die „Vashishta Cave“, die Höhle des Vashishta (ausgesprochen: „Waschischta“). Ihren Namen trägt die Höhle, weil der Sage nach hier auch der heilige Vashishta gelebt haben soll. Er wird in der berühmten hinduistischen Schrift „Yoga Vashishta“ erwähnt. Darin unterweist der Vashishta seinen Schüler, den Prinzen Rama, in der Philosophie des Advaita Vedanta, welche die illusorische Natur der manifesten Welt und das Prinzip der Nicht-Zweiheit betont.

Ganga Vashishta Cave
Tatsächlich bietet allein die Beschaffenheit der Höhle und ihrer Umgebung ein vorzügliches Lehrstück spiritueller Erkenntnis. Für mich werden hier jene Polaritäten auf besonders eindrucksvolle Weise bewusst, die in beinahe jeder mystischen Tradition Erwähnung finden: Leere und Fülle. Und vor allem wird an diesem Platz deutlich, wie beide Pole als Ausdruck desselben Seins erfahren werden können.
Da gibt es einmal die eigentliche Vasishta-Höhle. Im steil aufragenden Fels nahe dem Gangesstrand sieht man den dunklen Eingang zur Höhle. Ungefähr so hoch, dass man leicht geduckt darin stehen kann, und etwa gleich breit führt ein schmaler Gang 30 Meter tief ins Gestein hinein. Erst ganz am Ende dehnt sich die Höhle in eine nur wenig breitere und höhere Arena  aus.
In die Höhle hineinzugehen ist ein kleines Abenteuer. Man zieht die Schuhe aus und stapft in die totale Finsternis. Licht von Taschenlampen, Kameras und Handydisplays ist unerwünscht, deshalb bleibt es zunächst rabenschwarz. Man ist sich nicht ganz sicher, ob der nächste kleine Schmerz in der Fußsohle bloß von einem spitzen Steinchen oder einem giftigen Skorpion herrührt oder ob man durch einen ungeschickten Schritt vielleicht gleich einer Gruppe in der Höhle still Meditierender auf die Füße tritt oder in sie hineinstürzt. Erst ganz hinten in der Höhle zeigt sich gedämpftes Licht. Wenige leuchtende Öllämpchen bescheinen schwach ein paar kleine Heiligen-Statuen und eine bizarr geformte, grauschwarze Felswand. Im Rachen eines Tigers könnte es ähnlich aussehen.
Noch interessanter aber ist die spirituelle Atmosphäre, die dieser Ort ausströmt. Und in deren Bann man gezogen wird, sobald man stehen bleibt und die Höhle auf sich wirken lässt. In der buddhistischen Meditationspraxis wird empfohlen, „die Tore der Sinne zu verschließen“, um sich in tiefe, innere  Versenkung zu begeben. Genau das scheint in der Höhle ganz von allein zu geschehen. Der massive Fels rundherum gewährleistet eine komplette Abschottung von der Außenwelt. Licht fällt hier nicht herein. Geräusche von Menschen oder Natur werden abgedämpft. Alles verstummt hier. Setzt man sich dann noch hin, um ganz in die Stimmung dieses Ortes abzutauchen, scheint es, als würden auch alle anderen Sinnesempfindungen weiter ausgelöscht werden. Das gilt auch für das Denken – welches übrigens in der buddhistischen Psychologie tatsächlich zu den Sinnesempfindungen gerechnet wird. Es ist, als ob unser sonst so schnell laufender und umherspringender Verstand hier in schwarzen, zähen Asphalt tappt. Er kann nicht anders: Er wird ausgebremst. Er wird langsamer. Er kommt zur Ruhe. Er hält an. Und mit dem Denken verschwinden auch sämtliche Eindrücke des Körpers und der Welt.
Was bleibt noch übrig, wenn weder Sinne noch Denken aktiv sind, wenn es nichts gibt, das gefühlt, gespürt oder über das nachgedacht werden könnte? Im Sanskrit wird dies als Nirvikalpa Samadhi (formlose Versenkung) bezeichnet und als ein für spirituelle Selbsterkenntnis äußerst wertvoller Bewusstseinszustand erachtet. Ein meditativer Zustand der inneren, sich frei anfühlenden vollkommenen Leere. Doch „innere Leere“ stimmt hier nicht ganz. Denn auch die gedankliche Trennung von „innen und außen“ fällt in diesem Zustand weg. Es handelt sich also um ein bewusstes, grenzenloses Nichts.
Worte bleiben letztlich unzulänglich, um die Tiefe solch einer „Leerheits-Erfahrung“, die auch eine „Nicht-Erfahrung“ ist, genau zu erfassen. Ein Teilnehmer des Retreats muss allerdings einen Geschmack davon bekommen haben. Er berichtete später: „Es war erstaunlich. In der Höhle fühlte sich alles leer und zugleich vollkommen durchlässig an. So als existiere auch der Fels, der uns umgab, in Wirklichkeit gar nicht.“
Im Kontrast zu der Leere im Inneren der Höhle entfaltete sich beim Verlassen des Dunkels überschwängliche Fülle. Nur ein paar Schritte, und man befindet sich an einem der zauberhaften Strände des Ganges (siehe Fotos). Hier, nördlich von Rishikesh, zeigt sich der Fluss noch mit seinem ursprünglichen, naturbelassenen Gesicht. Sein Bett und seine Ufer haben einen ganz eigenen Zauber. Der Sand an den Stränden ist feinkörnig, wie an einem perfekten Badestrand, ganz weiß und zusätzlich mit winzigen, silbern glitzernden Körnchen versehen. An den Ufern findet man Gestein jeder Größe. Angefangen von riesigen über mannsgroße Felsblöcke bis hin zu winzigen Kieseln. Die meisten Steine sind durch das Wasser feingeschliffen und haben handschmeichelnde Oberflächen. Steinestreicheln könnte hier zu einem genussvollen Hobby werden.
Durch die regelmäßigen kraftvollen Überschwemmungen während der Schneeschmelze in den höheren Regionen des Himalaya ordnen die Fluten des Ganges jedes Jahr die Strände und Steinhaufen auf neue Weise an – jedes Mal mit dem perfekten Schwung von Wildheit und Weichheit, die natürliche Wassermassen auftragen. Am Ufer ragen steile Hügel in die Höhe. Begrünt mit allerlei Bäumen und Sträuchern. Aber nur so hoch, dass man fast den ganzen Tag die Sonne Indiens direkt am Strand genießen kann.
Durch all das zieht die heilige Ganga (der Gangesfluss) ihre mäandernden Bahnen. Unglaubliche Wassermassen strömen aus dem Himalaya mit beachtlicher Geschwindigkeit und unberechenbaren Strömungen bergab. Manchmal ohne jedes Geräusch. Manchmal über Stromschnellen mit einem solchen Getöse, dass man in ihrer Nähe kein anderes Geräusch als das Donnern und Grollen der wild auf Stein stoßenden Wassermassen hören kann.
Meist zeigt sich der Fluss in türkisen Tönen, welche unter manchen Lichtverhältnissen wie außerirdisch wirken. Zu anderen Zeiten, wenn sich die ausgeschwemmten Erden und Gesteine aus unterschiedlichen Zuflüssen verschiedenartig mischen, färben sich die Fluten aus der Ferne betrachtet in ein sanftes Braun. Geht man nah heran, wirkt das Wasser aber immer glasklar. Der Fluss ist so sauber, dass man in dieser Gegend – auch als Westler – sorgenfrei baden kann. Es ist eine wunderbare Erfrischung und ein Segen nach dem Aufenthalt unter der heißen Sonne Indiens, ein Bad in dem kalten Wasser von Ganga zu nehmen und sich auf einem der glatt geschmirgelten Steine wieder trocknen und wärmen zu lassen. Vielleicht lässt sich dann noch einer der vielen Fischreiher ein paar Steine weiter nieder. Mit vollkommener Geduld und Konzentration beobachtet er reglos die vorbeischwimmende Beute. Und mit einem pfeilgenauen, blitzschnellen Zustechen seines Schnabels hat er sie schon erlegt und genießt das Festmahl. In so einem Augenblick könnte meinen, man wäre in der Urzeit gelandet .
Der heilige Vashishta muss auch die Fülle der Natur geliebt haben, wenn er aus seiner Höhle trat und seine innere Versenkung im Nirvikalpa Samadhi in einen Genuss der Erscheinungen im Savikalpa Samadhi überging. Savikalpa Samadhi ist eine meditative Versenkung „mit Formen“ (Kalpas). Sie tritt zum Beispiel bei der intensiven Betrachtung eines Steines, einer Pflanze oder eines Tieres in Erscheinung – oder in der andächtigen Betrachtung des stetig dahinfließenden Ganges. Dabei richtet sich der Geist so sehr auf ein Objekt aus, dass es keinen Raum für Grübeleien, Sorgen, Erinnerungen oder Pläne gibt. Geht diese Versenkung tief, verliert sich der Eindruck von Betrachter, Betrachtung und Betrachtetem. Was bleibt, ist das reine, ichlose Bewusstsein mit dem jeweiligen Inhalt. In dieser Qualität kann sämtliche Vielfältigkeit der Erscheinungen mit gleichmütiger Glückseligkeit gekostet werden.
An Vashishtas Gangesstrand zeigt sich die unbeschreibliche Vielfältigkeit und Schönheit der Erscheinungswelt deutlich. Man kann die Fülle nicht übersehen. Man wird von ihr ergriffen. Die Fülle ist genauso ein Zugang zu spiritueller Tiefe wie die Leere. In den spirituellen Traditionen des Ostens wird das am deutlichsten bei den diesseitsbejahenden tantrischen Ausrichtungen von Hinduismus und Buddhismus. Hier wird gerade das unmittelbare sinnliche Erleben als Zugang zu spirituellem Erleben genutzt. Man könnte sagen, hier geht es darum, „die Tore der Sinne vollständig zu öffnen“, um sich von der göttlichen Energie der Welt ganz durchströmen zu lassen. Auch auf diese Weise wird deutlich, dass es kein Ich innerhalb der Sinnestore gibt, sondern nur reines Gewahrsein, welches alle Erfahrungen hervorbringt, um sie selbst kosten zu dürfen.
Am Anfang unserer Entdeckung spiritueller Tiefe scheinen Leere und Fülle, Sinnesverzicht und Sinnesgenuss, selige Dunkelheit und strahlendes Licht wie Widersprüche daherzukommen. Bis wir merken, dass beide Pole gleichrangige Spielarten des Seins sind. Wir können uns in beiden verlieren und wir dürfen uns in beiden selbst wiedererkennen. Je umfassender unsere Erkenntnis wird, desto mehr wird uns die Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit beider Aspekte bewusst. Und dann dürfen wir sogar diese letzte Unterscheidung in „Leere und Fülle“ beiseitelassen und sie als „Eins ohne ein Zweites“ kosten.
So eröffnet sich uns, was Sri Ramana Maharshi „Sahaja Samadhi“ genannt hat. Das ist die „natürliche Versenkung“, die als unsere wahre Natur immer gegenwärtig ist. Im Vordergrund mögen Formen und Zustände der Fülle auftauchen. Sie wechseln sich mit Formlosigkeit und Zuständen der Leere ab. Im Hintergrund bleibt das absolute Bewusstsein als natürlicher Frieden unangetastet. Hört sich das nach etwas Besonderem an? In Wirklichkeit ist es das Einfachste und Natürlichste überhaupt. Es ist das stille Bewusstsein, welches als der Zeuge aller Denkaktivität immer in uns ruht und nichts zu verstehen braucht. Es ist der natürliche Frieden des Seins, der  – egal wie oft wir uns im emotionalen Drama unseres kleinen Ichs verloren haben – geduldig auf seine Wiederentdeckung wartet. Es ist das große Nicht-Tun, das schon immer anwesend ist und uns endlich wieder von aller Anstrengung der Erreichens oder Vermeidens entspannt.
Eine dritte Tormetapher beschreibt die ungewöhnliche Entdeckung dieser Natürlichkeit. Die Buddhisten sprechen davon, durch „das torlose Tor“ zu gehen. Am Anfang denken wir, es gäbe ein Außen und ein Innen. Meist haben wir uns in einer nach außen gerichteten Bewegung unseres Geistes verloren. Wir gierten nach der Erscheinungswelt, hielten Teile von ihr fest oder wollten andere Teile loswerden. Dann ist es ganz natürlich, dass wir zurück nach innen wollten. Wir ahnen, dass es in unserem „Innersten“ die Ruhe einer unantastbaren Leere zu entdecken gibt. Betreten wir aber dieses Tor zum Inneren und sehen wir uns von innen her um, merken wir, dass das Tor niemals existiert hat. Jede Abgrenzung war nur eingebildet und jedes Tun, um ins Innere zu gelangen, ebenso. Jetzt fallen alle illusorischen Wände weg. Wir haben freien Blick. Es gibt nichts mehr zu tun. Nirgendwo hinzukommen. Wir sind zuhause in der Weite des Seins. Nichts wird gebraucht. Alles kann genossen werden. Und wir erkennen: Alles war schon immer aus Nichts gemacht.     

Torsten Brügge - www.bodhisat.de

 

 

 

 

 

 

 

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Die Vorhut der Ökos, der Grünen war ausgebrannt. Diese Pioniere wollten eine Veränderung in der Außenwelt, in der Politik; sie wollten, dass die Naturzerstörung endlich aufhört. Dabei vergaßen sie, dass auch ihre Innenwelt wichtig ist: Wenn Menschen ihre eigene, innere Natur missachten, um die äußere Natur zu retten, dann muss das schief gehen. Dann verbittern sie und werden gewalttätig oder depressiv. Es musste in der Ökobwegung etwas Neues geben, so etwas wie die Tiefenökologie. Diese von Vorreitern wie Joanna Macy und Thich Nhat Hanh vertretene Richtung des Natur- und Weltbegzugs bezieht das Innere mit ein; sie weiß um den Bezug zwischen innen und außen. Sie erkennt den Organismus der Erde – Gaia – als ein Ganzes und ebenso die Innen/außen-Ganzheit jedes einzelnen Wesens, das dort lebt, fühlt und wahrnimmt. 

 

Gemeinplätze der Popspiritualität

Da nun ein Großteil der »Meme« – der sich ausbreitenden Denk- und Fühlweisen – von Psychos, Spiris und Esos in den Mainstream hineindriften, muss jetzt auch die spirituelle Bewegung eine »Tiefenspiritualität« entwickeln. Was im Mainstream unter dem Begriff »spirituell« angekommen ist, das sind die am leichtesten verdaulichen Gemeinplätze der spirituellen Bewegung, das Anpassbare. Das, was man verkaufen kann. Das, womit der Bürger dieser Konsumgesellschaft seine Komfortzone nicht zu verlassen braucht. Dazu gehören das positive Denken, das Resonanzgesetz, die Bevorzugung einer Kischversion des Herzens gegenüber dem geschmähten Kopf, die Sinnfindung auf Teufel komm raus (»Es gibt keine Zufälle«); das psychoanalysierende Überinterpretieren von Ereignissen, die ganz profane Gründe haben können; die umfassende Akzeptanz, ja Verehrung jeder Art von innerer Stimme oder Eingebung; die Künstlichkeit eines Selbstes, das meint, sich vom Ego absetzen zu können ohne dabei werten zu müssen – und vieles andere mehr. 

 

Neupositionierung von Connection

Zum einen habe ich persönlich das Bedürfnis, mich nicht von einer verflachten, kommerzialisierten oder Kitsch-Version von Spiritualität einlullen zu lassen zu einer Selbstgratulation der Art wie: Jetzt haben wir es geschafft, unsere Zeit ist gekommen, wir Pioniere waren die Vorhut, wir haben die ersten Schneisen ins Unterholz des Mainstreams, das alten, naturzerstörenden und spirit-ignoraten Mainstreams geschlagen. Zum anderen – siehe unseren Aufruf – muss ich nun meine Zeitschrift Connection neu positionieren; diese Zeitschrift, die wie kaum eine andere Vorhut dieser Bewegung war. Gibt es wirklich Bedarf für eine Tiefenspiritualität gegenüber der sich ausbreitenden Popspiritualität?

 

Die Konjunktur von Bauch und Herz

Und nochmal, für alle diejenigen, die noch immer denken, ich kleiner Verleger und Autor würde damit nur die zu hoch hängenden Trauben der Bonanza des Spirits im Mainstream schmähen: Wenn noch mehr Menschen auch nur anfangen, sich mit der Frage zu befassen, was der Vorzug des Herzens gegenüber dem Kopf oder eines Handelns »aus dem Bauch raus« sein kann, ist das gut. 

Wer aber ein bisschen genauer hinschaut, wird sehen: Was wird da mit »Bauch« und »Herz« nicht alles gerechtfertigt! Aus diesen frisch »spirituell« gewordenen Herzen und Bäuchen heraus werden Andersdenkende gedemütigt, ausgegrenzt, entwürdigt, verleumdet, über den Tisch gezogen und für die verschiedensten »unspirituellen« Zwecke benutzt. Nicht immer, aber immer öfter – weil nun der Mainstream sich dieses Jargons bemächtigt, dass »aus dem Bauch raus« irgendwie gut, weil intuitiv ist (wir sind ja alle emotional intelligent) und das Herz ist ja, wie wir alle wissen, viel besser als der Kopf. 

 

Spirituelle Praxis und »zweite Helfer«

Es braucht solche »Zweiten Helfer«, wie Eli Jaxon Bear sie in seinem Artikel zum Titelthema in unserem aktuellen Heft »Erwachendes Bewusstsein« fordert, sonst wird aus der spirituellen Bewegung eine neue bigotte Weltreligion mit ihren ganz eigenen Formen der Heuchelei und Seichtheit, der Massenhypnosen und des Mitläufertums. 

Wer wirklich meditiert und einsteigt in eine große spirituelle Praxis, eine nicht nur tröstende, sondern wirklich transformierende, der weiß, dass eine Wandel des Jargons im Mainstream noch nicht unbedingt einen Aufstieg der Kultur zu höheren Bewusstsein zur Folge hat. Dafür braucht es andere, tiefer schürfende Beobachter und Helfer. Dafür braucht es Tiefenspiritualität. 

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Rettungsaktion wegen starker Resonanz verlängert bis zum 15. Mai:

 

Liebe Leser,

ich möchte hier auch an dieser Stelle - in meinem Connection-Blog - noch mal auf die "Rettungsaktion" für die Printversion der Zeitschrift Connection spirit hinweisen.

Im folgenden findet Ihr die Grafik und unten den Text, den meine Partnerin Padma Wollf und Ich dazu, auf Facebook gepostet haben.

 

Rettungsaktion für die Zeitschrift Connectionspirit

Wir möchten hiermit auf die Rettungsaktion für die Zeitschrift Connectionspirit hinweisen:
Die Connection ist die einzige überregionale spirituelle Zeitschrift auf Deutsch, die konsequent der Transzendenz verpflichtet ist und sich dabei nicht als Vertreterin eines bestimmten spirituellen oder heilerischen Lagers (einer Methode oder Person) versteht.

Aufgrund verschiedener neuer Entwicklungen auf dem Print-Medien-Markt, die vor allem der manchmal seichten „Popspiritualität“ (siehe auch die Beschreibungen des Verlegers Wolf Schneider in seinem Verlagsrundbrief) zu Gute kommen, hat die Zeitschrift im Moment ernste Existenzschwierigkeiten und es droht die Einstellung der Print-Version.

Wir persönlich schätzen die sehr engagierte Arbeit des Verlegers und Redakteurs Wolf Schneider und des gesamten Connection-Teams ausserordentlich und fänden es bedauernswert, wenn die Printversion eingestellt wird.

Wer ähnlich empfindet - oder überhaupt die Öffentlichkeitsarbeit für authentische und tiefgehende Spiritualität fördern möchte - kann die Connection ganz praktisch unterstützen durch einen Abo-Erwerb (für sich selbst oder Freunde). Preis nach Selbsteinschätzung 35,- bis 47,- € pro Jahr. Bis zum 1.5.2013 (jetzt verlängert bis zum 15. Mai) braucht der Verlag 150 neue Abonnomenten, damit es weitergehen kann.

Es gibt noch andere gute Gründe, die für die Connection sprechen. Dazu mehr in dem Verlagsrundbrief, den man sich auf www.connection.de herunterladen kann.
Gerne kann dieser Hinweis auf Facebook und anderen Medien weitergegeben werden.

Torsten Brügge und Padma Wolff www.bodhisat.de

 

 

 

 

 

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 Liebe Leser,

wem meine Blogbeiträge hier auf connection.de gefallen, mag vielleicht auch die Kurztexte auf meinem Twitterkanal anschauen:
 
https://twitter.com/TorstenBruegge

Ich habe vor, in den nächsten Wochen und Monaten wieder regelmäßig zu "tweeten" und die meisten der Kurztexte auch gleichzeitig als ansprechende Grafiken zu gestalten (siehe Bildbeispiele).

Twitter Torsten Brügge

Die Texte verstehe ich vor Allem als kleine, komprimierte "Erinnerungshilfen" (im Sinne eines Er"innerns" als eines Nach-"Innen"-Gehens), welche zum Innehalten und der Entdeckung spiritueller Tiefe einladen - immer wieder frisch, immer wieder weiter, tiefer und klarer.
Bei Gefallen kann man sich diese Grafiken auch herunterladen, ausdrucken, sich irgendwo anheften, als Lesezeichen verwenden, auf dem Smartphone als Hintergrundbild einspielen - oder schlicht verbrennen und sich so für die nächste Offenbarung von Wahrheit öffnen ;-) .

 herzlichen Gruß

Torsten

 https://twitter.com/TorstenBruegge

 

 

 

 

 

 

 

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Bei unserem Besuch in Lucknow/Indien, der hauptsächlichen „Wirkstätte“ Sri Poonjajis (genannt Papaji, 1910-1997) mit unseren Lehrern Gangaji und Eli Jaxon-Bear, ergab sich die Gelegenheit, die Wohnung, in der Papaji lebte und die noch heute von seiner Familie genutzt wird, zu besuchen. Ich war zuletzt 1996 in Lucknow und erlebte Papaji noch „live“. Allerdings besuchte ich damals nur den „Satsang-Bhavan“, eine Art Veranstaltungshalle, in der Papaji damals - für 300 bis 400 Menschen - für Satsang zur Verfügung stand.


Vor allem Papajis Fähigkeit, die radikale Selbsterforschung, in die er von seinem Meister Sri Ramana Maharshi eingeweiht wurde, auf wunderbar verständliche Weise zu vermitteln, und seine Kraft, Menschen oft sehr schnell zu einem direkten Einblick in die natürliche Stille und Einfachheit des Seins zu führen, beeindruckten mich zutiefst.


Im Schlafzimmer seines privaten Wohnhauses empfing er in den 80ziger Jahren die ersten kleinen Gruppen westlicher Schüler, darunter auch Gangaji und Eli Jaxon-Bear. Dieses Mal durfte ich dort am Fußende seines Bettes eine halbe Stunde in Meditation verbringen. Es ist immer wieder ein interessantes Phänomen: Obwohl die tiefste Ebene innerer Stille für mich mittlerweile überall zugänglich ist, bzw. ich sie ganz klar als den allgegenwärtigen Urgrund meines Seins weiß und erlebe, entdecke ich auf der relativen Ebene Orte, an denen diese Stille noch mal mit besonders eindringlicher Kraft präsent zu sein scheint. Papajis Schlafzimmer ist für mich einer dieser Plätze. Hier scheint – mysteriöser Weise - Stille noch stiller, Mühelosigkeit noch müheloser, die Klarheit reinen Bewusstseins noch klarer und bewusster.

 


Dieses vermeintliche Paradox von „schon überall gegenwärtiger Stille“ und „doch noch besonders stillen Orten“ hat mich am nächsten Tag zu folgendem Text inspiriert:


Braucht man für spirituelle Befreiung einen Lehrer oder geht es auch ohne? Sind für tiefe spirituelle Erfahrungen besondere „heilige Plätze“ unterstützend oder ist deren Wirksamkeit bloß Illusion? Solche Fragen tauchen immer wieder im Zusammenhang mit spirituellem Erwachen und Befreiung auf.


Eine Antwort darauf aus einer absoluten Perspektive schmettert die Fragen mit Leichtigkeit vom Tisch. Sie könnte lauten: „Wenn du wirklich erwachst, stellen sich solche Fragen nicht mehr, weil Du weißt, das Alles der Lehrer und Alles gleichermaßen heilig, bzw. leer ist.“ Das ist wahr. Ruhen wir in der direkten Erfahrung regloser Stille, erkennen und erleben wir uns als alldurchdringendes, stilles Bewusstsein. Hier kommt uns jede Frage belanglos vor. Entweder taucht keine Frage auf, eine auftauchende Frage wird aus der Stille unmittelbar beantwortet oder wir sind vollkommen zufrieden damit, dass sich die Frage von alleine auflöst - ohne dass wir den Hauch einer Antwort bräuchten.


Zugleich durchbricht solch transzendente Stille unsere Vorstellungen einer begrenzten Heiligkeit, die sich nur auf bestimmte Aspekte des Lebens beschränkt. Auch der Neigung, Weisheit und Heiligkeit nach Außen zu projizieren, auf erleuchtete Lehrer oder geweihte Orte, wird mit einer solchen absoluten Perspektive der Boden entzogen. Sat (Wahrheit) ist unsere ureigene Natur. Sie durchdringt Alles, ist allgegenwärtig. Diese absolute Ebene zu erkennen, beugt einem naiven Personenkult in Bezug auf „heilige Lehrer“ und der übertriebenen magisch-mythischen Verehrung von „heiligen Orten“ vor.


Zugleich lohnt es sich, das Thema der „Erforderlichkeit“ - oder besser „Nützlichkeit“ von Lehrern und heiligen Orten auch auf der relativen Ebene zu beleuchten. Hier reichen eindimensionale Antworten nicht aus. Wir müssen weiter ausholen und eine Mehr-Ebenen-Betrachtung anstellen. Im Rahmen solcher Reflektionen scheint es immer wieder wichtig, sehr klar zwischen absoluter und relativer Ebene zu unterscheiden, die beiden nicht miteinander zu verwechseln, sondern durch die Beschreibung ihrer gegenseitigen Wechselwirkung eine umfassende Perspektive zu entwickeln.


Wie gesagt, aus einer absoluten Perspektive kann und muss man sagen, dass die Quelle jedweder Erscheinung reines Bewusstsein ist. Dieses Bewusstsein an sich ist der Sat-Guru (der höchste/der wahre Lehrer). Er offenbart sich in allen Formen. Dieses Bewusstsein ist das Heilige - oder das Heilsein - an sich und kann an jedem Ort, an jedem Platz, in jedem Menschen, zu jeder Zeit entdeckt werden. Im Thomas-Evangelium findet sich dazu eine wunderschöne Stelle: "Jesus sprach: Das Reich Gottes ist in dir und um dich herum… Spalte ein Stück Holz und ich bin da. Hebe einen Stein auf und du wirst mich finden."
Zugleich ist uns die Allgegenwart göttlichen Seins nicht immer bewusst. So vieles in unserem Erleben erkennen, bzw. bezeichnen wir  keineswegs als „göttliches Bewusstsein“, sondern eher als „böse Welt“ oder zumindest ablenkende oder störende Umstände. Unseren Beziehungspartner, wenn er gerade schlechte Laune hat. Den lauten Nachbarn. Den Müll auf der Straße. Den Verkehrslärm. Die Katastrophen in der Welt. Den schweren Schicksalsschlag. Bei solchen Gelegenheit neigen wir nicht nur dazu, die „Heiligkeit“ zu übersehen, sondern betiteln sie als „schlecht“ oder „unheilvoll“.


Doch es gibt auch Momente, in denen wir ahnen – oder sogar spürend wissen –, dass es tatsächlich eine tiefere, heilere, wirklichere Dimension des Lebens gibt. Natürlich kann diese auch in all den obengenannten widrigen oder erschwerenden Umständen entdeckt werden. Aber vor allem anfangs fällt es uns oft leichter, zunächst mal auf den Geschmack zu kommen, wenn dieser gerade durch erleichternde Bedingungen gefördert wird: Vielleicht spüren wir bei einem Menschen eine besondere Gelassenheit, Ruhe und Liebe, die auf uns ansteckend wirkt. Oder wir lauschen den Worten eines weisen Redners und gehen in Resonanz mit einer darin schwingenden, befreienden Wahrheit. Manchmal zieht uns auch die Atmosphäre eines Platzes in der Natur oder sonst wo in den Bann. Wir entspannen dort, kommen zur Ruhe und dürfen den Zauber einer mysteriösen Schönheit genießen. In solchen Momenten leuchtet Heiligkeit und Wahrheit auf. Eigentlich scheint sie hervor, wenn unser Geist zur Ruhe kommt. Dann zeigt sich, was unter all seiner ablenkenden Aktivität schon an HeilSein hier ist – was dann auch in den widrigsten Umständen entdeckt werden kann, je mehr wir es wagen, auch darin die Abwehr ruhen zu lassen.


Was ist der Unterschied in unserem Erleben, zwischen den „gewöhnlichen“ oder gar erschwerenden und den „heiligen“ Momenten, zwischen nagender Unzufriedenheit und wohltuendem Frieden,  zwischen Mangel und Erfüllung? Die spirituellen Traditionen wussten es schon immer. Die moderne Hirnforschung bestätigt es in den letzten Jahren mit immer mehr wissenschaftlichem Beweismaterial: So sehr es auch den Anschein hat, es ist nicht das Außen, dass diesen Unterschied ausmacht. Es sind nicht die Menschen, um uns und es ist nicht die Umgebung. Es sind nicht die äußeren Reize, die uns das Leben anbietet, sondern die Art und Weise, wie wir diese Stimuli aufnehmen und verarbeiten. Diese Aufnahme erst legt fest, was und wie wir etwas erleben. Vielschichtige innere Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse – die meisten davon unter unserer Bewusstseinschwelle - formen den Gesamteindruck und bestimmen, was wir am Ende schließlich bewusst erleben.


In der Hypnotherapie wird das z.B. in Bezug auf zwischenmenschliche Kommunikation in einem einfachen Satz zum Ausdruck gebracht: „Den Inhalt der Botschaft bestimmt alleine der Empfänger“. Was mir jemand zuruft, sind genau betrachtet nur bedeutungslose Schallwellen. Im Mittelohr werden sie in rein digitale Nervenimpulse von Nullen und Einsen umgewandelt. Welche Bedeutung diesen eigentlich nichts sagenden Informationen gegeben wird, bestimmen die weiteren Wahrnehmungsprozesse in meinem Gehirn. Ich kann den Zuruf „Du Arschloch!“ als deftige Beleidigung meiner Person verbuchen oder als echte Liebeserklärung meines Bauarbeiter-Kumpels genießen. Die Schallwellen sind die gleichen. Die Erlebensmuster meines Wahrnehmungsapparates und sogar entsprechende Reaktionen in der Physiologie meines Körpers unterscheiden sich massiv. Sie bestimmen, ob ich die Fäuste balle und auf den Urheber der Botschaft losstürme oder ihm nett zulächle und liebevoll zurückknuffe.  


Damit eröffnet sich eine interessante Fragestellung: Wie formen sich diese Erlebensmuster in uns, wenn wir etwas als „weise“ oder „heilig“ erleben? Die hinduistische Advaita-Philosophie hat darauf eine erfrischend einfache Antwort. Sie behauptet, dass wir in unserem durchschnittlichen Bewusstseinszustand in der Trance eines gewohnheitsmäßigen, dualistischen Denkens gefangen sind. Dies besteht in der nahezu zwanghaften Gewohnheit, all unsere Erfahrung durch mentale Einordnungen und Interpretation zu kommentieren und diese mentalen Abbilder für Wahrheit zu halten. Das dualistische Denken basiert dabei auf einer Trennung in Polaritäten. Es unterscheidet in „angenehm/unangenehm“, „gut/schlecht“, „wertvoll/nicht-wertvoll“, „ich/nicht-ich“. Durch diese - meist unbewusste - trennende Verarbeitung erzeugt es einen Schleier (Maya), der sich über die Wirklichkeit (Sat) legt und eine tiefgründigere Wahrnehmung verhindert.


Die gute Nachricht lautet: Dieser Schleier ist nur aus substanzlosen Gedanken gewoben. Das dualistische Denken kann durchschaut werden und zur Ruhe kommen. Wir können eine Wahrnehmung entdecken, die echter, direkter und wahrer ist als das begrenzte Denken in gegensätzlichen Polen. Dann sehen wir auf neue, ganzheitliche Weise, was wir selbst sind, was die Welt ist und wie beide als eine ungetrennte Einheit erlebt werden. In solch einem Moment bekommt Alles den Geschmack von Einssein, Heiligkeit und Wahrheit – oder den Geschmack einer befreienden Leere und Nichtigkeit.


Es ist eine erstaunliche Tatsache, das einige Menschen, z.B. spirituelle Lehrer, und einige Orte, z.B. heilige Plätze oder „Kraftorte“, unser inneres Erleben auf eine solche Weise stimulieren, dass sich unsere verschleiernden Wahrnehmungsmuster entspannen. Damit sind diese „Lehrer“ – ob Menschen oder Orte – eigentlich eher „Leerer“ für unser dualistisches Denken. Sie entleeren uns von trennenden Denkmustern. Sie führen eine Ruhe des Geistes herbei. Dann spüren wir die Wahrheit und Heiligkeit, die ständig Allem zugrunde liegt.


Vielleicht braucht es manchmal einen bewussten oder unbewussten „Vertrauens- oder Glaubensvorschuss“, damit dieser Effekt eintritt. Wir bringen Menschen oder Orten gegenüber eine nicht alltägliche Offenheit und Empfänglichkeit auf. Wir gestehen ihnen die Möglichkeit von Kraft und Ruhe zu. Das fördert es, sie dann auch tatsächlich als „Besonderheit“ zu erleben. Damit projizieren wir Heiligkeit zunächst nach außen und lassen sie dann von dort aus auf unser Inneres wirken. Das unterstützt die Entspannung unseres Geistes und fördert die Entdeckung innerer Heiligkeit und inneren Einsseins, was wiederum  unser Sehen und Erspüren transzendenten Seins im Außen begünstigt. Das kann sich zu einer befreienden Aufwärtsspirale steigern.


Es ist ein lustiges Spiel, das der Geist mit sich selbst spielt: Das Sein verlockt sich selbst nach Hause zu kommen, indem es erst im Außen als Heiligkeit erscheint, die dazu anregt, das Heile im Inneren zu entdecken. Dann verschwinden die Grenze zwischen Innen und Außen und es bleibt nur noch ein einheitliches Heilsein über.    


Dazu fällt mir ein Dialog meines Lehrers Sri Poonjaji (genannt Papaji) mit einem Fragenden ein:
Fragender: „Papaji, bist Du wirklich erleuchtet?“
Papaji: „Wozu willst Du das wissen?“
Fragender: „Ich will unbedingt absolut frei sein und suche Jemanden, der mir das zeigen kann.“
Papaji: „Gut. Dann geh’ davon aus, dass ich erleuchtet bin.“



An anderer Stelle sagte Papaji über die Funktion eines spirituellen Lehrers: „Bisher hat das Sein auf alle möglichen Arten zu Dir gesprochen und Dich eingeladen, es endlich zu erkennen, doch Du hast es nicht verstanden. Deshalb erscheint irgendwann ein Lehrer in Deinem Bewusstsein, der in genau der Sprache zu Dir spricht, die Du verstehen kannst.“


Insofern kann es sehr nützlich sein, das „Erleuchtete“ in anderen Menschen, in Lehrern und Heiligen zu sehen und wirken zu lassen. Dasselbe gilt für besondere Orte, die eine spirituelle Ausstrahlungskraft besitzen. Sie alle verweisen am Ende nur auf das Strahlen des stillen Bewusstseins, das wir selbst sind. So wirken die relativen Erscheinungen als Zugänge zu absoluter Erkenntnis.


Das passt auch zu der kleinen „Vision“, die ich in Papajis Zimmer in Form einer eindringlichen, sich wiederholenden Stimme innerlich hörte. Es schien als würde Papaji zu mir über das Paradox von Lehren und Leeren sprechen: „Use me, use me and then forget me!“ („Nutze mich, nutze mich und dann vergiss mich“).
Ob dies nun meine eigene innere Stimme oder tatsächlich jene von Papaji auf feinstofflichen Ebenen war, ist dabei eigentlich egal  -  letztendlich gibt es auch da keinen Unterschied zwischen Innen und Außen, Schüler und Meister. Mir schien es in diesem Augenblick auf jeden Fall eine wunderbar konzentrierte Antwort auf die Frage „Brauchen wir Lehrer und lehrende Orte?“ zu sein.


Danke Papaji – Om shanti, shanti, shanti


Torsten



 

 

 

 

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Obwohl schon tausendmal gesehen beeindrucken mich die Bilder von Ramana immer wieder aufs Neue. Oft wirken sie so lebendig, als wäre es kein Bild, sondern seine direkte gegenwärtige Präsenz. Und die ist ja tatsächlich auch in unseren Herzen gegenwärtig.
Auch hier in Lucknow/Indien im Restaurant auf der Dachterrasse des Satsang-Bhavans hängt ein wunderbares Foto. Unten in der Halle des Gebäudes stand Sri Poonjaji (genannt Papaji) bis 1997 für Satsang zur Verfügung. Wir verbringen hier etwas Zeit auf dem Retreat „Return to Lucknow“ mit unseren Lehrern Gangaji und Eli.
Durch das Palmendach des Restaurants fallen die Sonnenstrahlen auf das Bild, wie um die überweltliche Schönheit des Weisen Sri Ramana Maharshi noch mehr herauszukristallisieren.



Wer die „Lehre“ Ramanas (1879-1950) nicht kennt, „sollte“ es nachholen, sich damit zu beschäftigen. Es ist eine der radikalsten Ansätze, unsere begrenzte Ich-Identität in Frage zu stellen und die Freiheit zu entdecken, die jenseits der Fehl-Identifikation mit einem persönlichen Ich auf ihre Entdeckung wartet.
Manchmal reicht es aber auch, sich einfach in den Blick dieses Meisters fallen zu lassen und sich zu erlauben, sich darin vollständig selbst zu vergessen.

Jai Jai Ramana Satguru Ki Jai

Herzliche Grüße an Alle

Torsten

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Während unseres Aufenthalts am Ganges im Norden von Indien besuchten wir vor ein paar Tagen einen bekannten Ashram in einem Dorf nördlich von Rishikesh. Hier werden jeden Abend von Schülern einer Sanskrit Schule und ihrem Guru hingebungsvoll Bhajans (spirituelle Lieder) zu Ehren der Göttin Ganga direkt am Fluss gesungen. Dem Gesang zu lauschen und der Hingabe sowohl der Inder, als auch der westlichen Besucher des Ashrams zuzusehen, ist ein Genuss.

 

Dabei sitzt man direkt an den schnell treibenden, türkisen Fluten des Ganges und spürt deutlich, wie der Fluss des Lebens stetig Alles mit sich hinfort reißt. Dieses Wegreißen ist tatsächlich befreiend. Mag sein, dass unser Denken an manchen Stellen sagt „Nein, das will ich behalten. Das will ich nicht hergeben. Es tut weh loszulassen.“ Doch je mehr wir uns der Vergänglichkeit aller Erfahrungen stellen und hingeben, desto freier lassen wir los und desto schöner ist es, die Hände und das Herz offen zu haben für das nächste Geschenk, das uns der Fluss des Lebens entgegen treibt. Außerdem öffnen wir uns erst dann der Möglichkeit, auch all unsere Sorgen und festgefügten, begrenzten Identitäten wegwaschen zu lassen. Dabei wird ganz von alleine die mystische Dimension des unpersönlichen Beobachters offenbar, der unangetastet von allem Kommen und Gehen am verlässlichen Ufer sitzt, in Ruhe und Gelassenheit wissend, dass das Ewige und das Vergängliche eins sind.

 

Am Eingang des Ashrams entdeckte ich eine nagelneue ca. 5 Meter hohe Statue des hinduistischen Affengottes Hanuman. Es ist ein beeindruckendes Standbild besonders wegen der gewaltsame Geste Hanumans: Mit seinen eigenen Händen reißt er sich selbst den Brustkorb in der Mitte auf und legt sein rotes, wundes Herz offen (siehe Foto).

Egal was Hanuman als mythologische Figur im Reigen des indischen Pantheon bedeutet, für mich gab es eine unmittelbar Resonanz dieser Geste mit dem spirituellen Potential der Öffnung für unsere menschliche Verletzlichkeit, die sich mir so oft als Eingangstor zu und Vertiefung von innerem Frieden gezeigt hatte: Die Verletzlichkeit - egal von wem oder von was sie ausgelöst wurde - in voller Gänze zulassen. Sich nicht schützen. Den Schmerz brennen zu lassen, ohne zu flüchten, ohne Gegenwehr, ohne Opfergeschichte, ohne Tätervorwurf, ohne jedes gedankliche Ausweichen oder in-Ordnung-bringen-wollen. Dieses schlichte, reine, manchmal äußerst schmerzliche Brennen befreit tatsächlich. Jedes mal wenn es ganz zugelassen wird, transzendiert es sich selbst in eine heilsame, sich selbst genügende Erfüllung. Das Zulassen von Verletzlichkeit wirkt so als ein direkter Zugang zu dem göttlichen Heilsein, das wir alle sind.

 

Zwei Tage später erfuhr ich noch eine überraschende aber passende Ergänzung zu der  Hanuman-Statue am Ganges: Tatsächlich gibt es in ihr eine elektrisch angetriebene Mechanik, die das rote Herzfleisch Hanumans in regelmäßigen Abständen öffnet und schließt. Wenn es sich öffnet, kommen im Herz die Göttergestalten von Rama und Sita zum Vorschein (auf dem Foto leider nicht zu sehen). Als ich die Statue zwei Tage zuvor sah und fotografierte, gab es allerdings ein für Indien immer noch typischen „Powercut“ (Stromausfall), der die Mechanik außer Kraft setzte. So sah ich nur das rote Fleisch, nicht aber den göttlichen Kern des Herzens.

 

Was für eine Offenbarung: Im brechenden und aufbrechenden Herzen finden wir nur noch mehr Göttlichkeit. Diese Symbolik macht noch mal deutlicher, dass die alten religiösen Mythen nicht nur „naive“ Geschichten zur Erklärung der Welt sind, sondern – richtig verstanden - eine tiefere mystische Erkenntnis zum Ausdruck bringen, bzw. dazu einladen sie unmittelbar zu erfahren.

 

Dass die Öffnung für Verletzlichkeit zutiefst heilsam wirkt, wird nicht nur auf spirituellem Wege deutlich, sondern zeigt sich auf eine überraschend frische Weise sogar in der Wissenschaft.

 

Die Sozialwissenschaftlerin Brene Brown forschte in einer qualitativen Studie danach, welche innere Haltung Menschen zu erfüllten und sich mit anderen verbunden fühlenden Wesen werden lässt. Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie heraus, dass es diejenigen sind, die verletzliche Gefühle, wie Unsicherheit, Angst, Scham, Minderwert, Trauer, Verzweiflung oder Frustration in sich nicht ablehnten, sondern diese aus ganzem Herzen umarmten. Dadurch waren sie fähig, die Schönheit in der Verletzlichkeit zu spüren.

 

Sie konnte die Ergebnisse ihrer eigenen Forschung kaum glauben, da sie in ihrem eigenen Erleben solchen Gefühlen lieber gänzlich aus dem Weg ging und hoffte dadurch glücklich werden zu können. Deshalb öffnete Brown sich neben ihrer beruflichen akademischen Forschung ihrem eigenen inneren Erleben mit Hilfe einer erfahrenen Therapeutin. Über einen längeren teilweise schwierigen Prozess entdeckte sie dann in sich selbst, dass die Öffnung gegenüber Verletzlichkeit tatsächlich enorm heilsam und befreiend wirkt.

 

In kurzen Vorträgen, die sie über ihre Forschungsarbeit und ihre innere Erfahrungen hält, spricht sie auf wunderbar frische und Herz öffnende Weise über „The Power of vulnerability“ (Die Kraft der Verletzlichkeit). Die You-Tube-Videos (leider nur in englisch) sind sehr empfehlenswert.

 

Link zum Video: http://www.youtube.com/watch?v=iCvmsMzlF7o


Grüße vom Ganges

Torsten

 

 

 

 

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Seit vier Tagen sind wir (meine Partnerin Padma und unsere kleine Retreat-Gruppe) wieder in Indien. Wir genießen die wunderschöne Natur direkt am heiligen Fluss Ganges nördlich der  Pilgerstadt Rishikesh. Hier in den ersten hügeligen Ausläufern des Himalaya zeigt sich der Ganges (oder besser: die Ganga, als weiblicher Gottesaspekt) mit Stromschnellen und atemberaubenden weißen Sandstränden noch so naturbelassen und sauber, dass auch Westler gefahrlos in seinen/ihren Wassern baden können. Es ist ein sinnlicher und spiritueller Genuss, in das kühle Nass zu steigen und noch mal mehr alles belastende Denken von der göttlichen Energie in Form eines Flusses wegspülen zu lassen.

Ganges - Torsten und Padma Retreat 2013
Das ist vielleicht das Wunderbarste an Indien: Es ist hier erlaubt, spirituell zu schwelgen. Wir dürfen staunen über das Göttliche. Es ist willkommen, uns der mystischen Dimension des Lebens hinzugeben, in dem sich unser kleines Ich verliert.
Sicher: Ken Wilbers Integralem Modell nach betrachtet, ist das meiste der religiös-spirtuellen Atmosphäre Indiens durch prä-rationale Energien geprägt. Aus der rationalen Sicht zeigt sich hier naiver Glauben an die Wortwörtlichkeit von Mythen, an die Wirksamkeit von Ritualen und an die „wirkliche Wirklichkeit“ von eigentlich symbolischen Göttergestalten. Dies muss und wird durch die Entwicklung der Vernunft kritisch hinterfragt werden – das scheint mir der Evolution nach auch in Indien zu geschehen. Doch im Prärationalen liegt auch noch die Unschuld des unverfälschten Erahnens unserer Göttlichkeit. Das Staunen über das Mysterium  - Gott dankt es – ist noch nicht wegrationalisiert.
Das ist vermutlich der Grund, warum auch der Raum für transrationale, echte mystische Erkenntnis hier manchmal größer zu sein scheint, als in "höher entwickelten" aufgeklärten Kulturen. Diese neigen dazu, jeden Geschmack von Spiritualität, in der guten Absicht, naiven Aberglauben mit kritischer Vernunft  zu transzendieren, wegzudiskutieren. Da wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Es würde mich freuen, wenn sich dieser sprituelle Charakter Indiens noch lange so erhält oder vor allem durch immer mehr transrationale Spiritualität ersetzt wird.
Manchmal schmerzt es fast, wenn wir am Ganges über die Jahre mitbekommen, wie immer mehr neureiche und rational aufgeklärte Inder massenhaft in Rafting-Touren in ihren Gummibooten über die göttlich schönen Stromschnellen von Ganga sausen und nach eher oberflächlichem Vergnügen suchen. Ihr Jauchzen und Johlen bei diesem Abenteuer ist eigentlich ein schöner Klang. Aber wenn es zum Massentourismus wird und man während des stillen Sitzens am Gangesstrand zwei Stunden lang nur noch Jauchzen und Johlen hört ändert sich das spontan. Da kommt kurzzeitig schon mal der Wunsch auf, die Zeit ein wenig zur alten Ursprünglichkeit zurückzudrehen oder sogar der fiese Gedanke, Ganga möge mit ihrer Kraft ein paar von den Grölenden mal schön unterdukern und ihre Suche nach Glück auf Wesentlicheres lenken - was sie sicher manchmal mit Vergnügen tut.
Dann aber entspannt sich der Geist von jenen gemeinen Ideen, genießt das Krächzen der Raben, das rollende Getöse der Stromschnellen und genauso das Jauchzen der Rafter als den perfekten einen Klang des Göttlichen. Wieder mal wird überdeutlich: Es könnte und sollte nicht anders sein. Es ist vollkommen, genauso wie es sich gerade zeigt. Jetzt und immer.

herzliche Grüsse an alle Leser auf connection.de – und vielleicht ein paar prärationale Segnungen  (für die, die’s glauben oder annehmen wollen) – auf jeden Fall transrationale Dankbarkeit

Torsten
 

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