Anmerkung vorweg: Ich hätte mir gewünscht, den Inhalt dieses Blogbeitrages kürzer fassen zu können. Doch nach vielfacher Überarbeitung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Komplexität dieses Thema auch einen entsprechenden Raum braucht. Ich mute dem Leser hier eine gewisse Überlänge zu. Aber auch manch guter Kinofilm wäre ohne Überlänge nur ein Flop geworden. Wer trotzdem gerne ohne genauere Vorerklärungen zu dem Kernpunkt diese Beitrages "Die Wichtigkeit relativer Wahrheiten“ springen will, kann auch ab der Überschrift „Spirituelle Bezeichner" anfangen zu lesen.

 

 

Der Dreisatz des Advaita

 

Im Folgenden möchte ich meinen letzten Blog-Beitrag „Der Erdbeergeschmack des Absoluten“ um eine weitere Perspektive ergänzen. Im Beitrag hatte ich ausgeführt, wie ein differenziertes Verständnis einer absoluten und einer relativen Seinsebene bei der Reflektion spiritueller Selbst- und Welterkenntnis hilfreich sein kann. Dabei ist es wichtig, ein paradoxes Nebeneinander dieser beiden Dimensionen zuzulassen, anstatt in eine einseitige Überbetonung eine der beiden Dimensionen zu verfallen. Ein solches Verständnis kommt übrigens auch in dem klassischen „Dreisatz des Advaita-Vedanta“ zum Ausdruck:

 

1. Die Welt ist unwirklich
2. Nur Brahman allein ist wirklich
3. Brahman ist die Welt

 

Formulieren wir diese Sätze einmal als eine Abfolge von Einladungen zur Selbsterkenntnis, könnte sich das so anhören:

 

  1. Durchschaue, dass unsere herkömmliche, relative Sichtweise der Wellt eine Täuschung ist
  2. Erkenne das unveränderliche, ewig bestehende, absolute Sein
  3. Erfahre, dass die relative Ebene vom absoluten Sein nicht getrennt ist, sondern eine Spielart des Absoluten darstellt und wertschätze so alles Relative auf neue Weise

 

Ich möchte dem Verständnis von relativer und absoluter Ebene eine kleine aber wichtige Variation hinzufügen. Wie so oft habe ich diese ergänzende Sichtweise in großer Klarheit zum ersten Mal in den Texten Ken Wilbers entdeckt. Wilber findet häufig treffende Begrifflichkeiten von „Wahrheiten“, die ich in meiner eigenen Erfahrung selbst intuitiv oft schon erahnt habe, für die mir aber klare Worte fehlten. Ich bin Wilber immer wieder sehr dankbar dafür, dass er für so Vieles einleuchtenden und erleuchtende Begrifflichkeiten findet.

 

Alles illusorische Wahrgebung

 

Auf der relativen Seinsebene – die ich hier auch „Erscheinungswelt“ nennen möchte – nehmen wir voneinander getrennte Objekte und Wesen, Schwankungen von Zuständen, den Fluss von Zeit und die Vielfalt von Phänomen war. Aus der absoluten Perspektive - der Dimension unveränderlichen Gewahrseins – können wir alles Relative als reine Illusion betrachten. Ich werde die Aussage des letzten Satzes später selbst wieder relativieren, möchte aber zunächst begründen, warum sie einen plausiblen Wahrheitsanspruch hat: Die Hirnforschung hat mittlerweile klar festgestellt, dass uns die Erscheinungswelt immer durch den Filter neuronaler Verarbeitung vermittelt wird.

 

Die Welt „da draußen“ ist ein Konstrukt unseres Geistes. Unsere meist unwillkürlichen Denkprozesse bündeln das Chaos unfassbar vieler Sinneseindrücke und deren Assoziationen mit vergangenen Erfahrungen zu Informationen mit Bedeutung..

 

Diese Verarbeitungsprozesse sind dabei von einem derartig umfangreichen Ausmaß, dass zum Beispiel der Hypnotherapeut Dr. Gunther Schmidt die Auffassung vertritt, wir sollten anstelle des Begriffs „Wahrnehmung“ lieber das Wort „Wahrgebung“ verwenden. In seinen Vortragen scherzt er mit seinen Zuhörern: „Wie Sie für mich aussehen, bestimme immer noch ich - beziehungsweise die Verarbeitungsprozesse in meinem Gehirn. Sie können noch so schön sein, wenn mein Gehirn es will, sehe ich Sie hässlich. Oder Sie können noch so hässlich sein, mein Gehirn kann Sie locker schönsehen.“

 

Das macht deutlich, dass der Sinngehalt, den wir unseren Wahrnehmungen zuschreiben, nicht als etwas von vornherein Bestehendes erkannt, sondern immer durch unser Denken als Deutung zugeschrieben wird.

 

Nur scheinbar beständig

 

Dabei vermittelt uns unser gewöhnlicher Gedankenprozess zunächst, dass die Objekte der Welt als scheinbar voneinander getrennte und aus sich selbst bestehende, feste Objekte bestehen würden. Uns erscheinen Objekte der äußeren Welt (Gegenstände, Wesen, Stoffe) und Objekte der inneren Welt (Körperzustände, Gefühlszustände, Geisteszustände) als „echt echt wirklich wirklich“ (ebenfalls ein Zitat von Dr. G. Schmidt). Gedanken wie „Dies ist ein Tisch“ oder „Ich erlebe Angst“ vermitteln uns den Eindruck, dass es einen Tisch oder Angst tatsächlich so gibt, wie es uns erscheint. Auch die Benennung „Ich" und die Ideen „Ich bin dieser Körper“ und „Ich bin diese Person“ sind Teil der vom Denken vorgegebenen Täuschung.

 

Erforschen wir genauer, was die Natur dieser Gedanken ist, dann finden wir in unserer direkten Erfahrung heraus, dass es sich nur um subtanzlose und höchst vergängliche Erscheinungen handelt. Gedanken kommen und gehen. Sinneseindrücke kommen und gehen. Gefühle kommen und gehen. Sowohl durch innere (kontemplative) als auch durch äußere (objektiv wissenschaftliche) Erforschung entdecken wir, dass sowohl jedes innerlichen Erleben als auch jedes äußerlich beobachtbare Phänomen durch Vergänglichkeit gekennzeichnet ist. Der Buddha nannte deshalb „vergänglich“ (sanskrit: annica) als eine der drei Wesensmerkmale aller Erscheinungen. Unsere Gedanken erwecken zwar den Anschein, die Erfahrungsobjekte besäßen Beständigkeit, doch dabei handelt es sich um eine Täuschung.

 

Und gerade diese Gedankenwelt, die uns Festigkeit vorgaukelt, ist das am meisten unfassbare Phänomen. Sobald wir einen Gedanken wirklich innerlich betrachten, löst er sich auf oder wird von anderen abgelöst. Mit meditativem Gewahrsein können wir uns davon jederzeit selbst überzeugen. Diese mysteriöse „geistige Energie“, die unsere Wahrnehmungswelt erschafft, beschreiben manche spirituellen Ausrichtungen als „Licht“ oder „Ton“. Das hat insofern seine Berechtigung, als dass die meisten Menschen gedankliches Geschehen als innere Stimme hören oder als Abfolge von Bildern, Symbolen oder Schriftzeichen vor ihrem inneren Auge sehen. Doch sollten wir dabei nicht vergessen, dass auch die Begrifflichkeiten „Ton“ und „Licht“ wiederum nur konzeptuelle Metaphern sind und keineswegs gegebene, absolute Begrifflichkeiten darstellen. Das werde ich später noch im Zusammenhang mit dem von Wilber als so wichtig erachteteten „Mythos des Gegebenen“ genauer erläutern.

 

Keine Bedeutung ohne Kontext

 

Unser begriffliches Denken versucht eine Vielfalt von Sinneseindrücken zu bündeln und zu einer greifbaren, nutzbaren Vorstellung zu verdichten. Hinzukommt, dass Begriffe nie für sich alleine Bedeutung haben. Ihr Sinngehalt wird erst durch ein Assoziationsnetzwerk mit einer Vielzahl anderer Gedankenkonstrukten erschaffen. Kurz gesagt: Bedeutung ist immer auch kontextabhängig: Ein „Auflauf“ kann etwas vollkommen anderes bedeuten, je nachdem, ob wir damit eine leckere Mahlzeit oder eine Ansammlung von Menschen verknüpfen. Eine „Lösung“ könnte die hilfreiche Antwort auf eine Fragestellung, die Mischung einer Substanz in einer Flüssigkeit oder die Beendigung einer zwischenmenschlichen Beziehung bedeuten. Für sich genommen - ohne Sinnzusammenhang - ist „L ö s u n g“ nur die Kombination von sinnlosen Lauten oder Symbole aus Strichen, Kurven und Punkten. Das ist es, was der Buddha mit „anatta“ (sanskrit: ohne eigenständiges Selbst), dem zweiten Wesensmerkmal aller Erscheinungen, meinte. Damit nahm er die Ansätze modernen systemischen Denkens vorweg: Jedwede Escheinung und die Bedeutung, die sie für uns hat, kann nur als eine Wechselwirkung von miteinander in Beziehung stehenden Elementen verstanden werden. Die Bedeutung eines Begriffes - und damit die Interpretation der Erscheinungswelt - ist immer nur in einem Kontext von anderen Sinnzusammenhängen denkbar. Für sich genommen ist jedes Wort nichts als bedeutungsloser Schall und Rauch – und nicht mal das, denn auch „Schall“ und „Rauch“ gibt es nicht als eigenständige Begrifflichkeiten.

 

Jenseits von Deutungsfiltern

 

Der Kontext von Bedeutung ist nicht etwas fest vorgegebenes, sondern vermittelt sich über ein hochkomplexes Entwicklungsnetzwerk menschlicher Evolution von Kultur und Sprache. Erst dadurch, dass „Begriffswelten“ über viele Menschengenerationen hinweg weitergegeben und verändert wurden entstand genau das Interpretationssystem, durch dessen Filter wir unser Erfahrungen hier und jetzt wahrnehmen und beschreiben. Kurz: Das erste „Ugaahh ugaahh happa happa ugahh“ vor 6 Millionen Jahren brauchte einige Zeit bis es sich zu einem wohlformulierten: „Kommt doch bitte zu Tisch, unser veganer Tofubraten samt grünem Smoothie ist fertig und wir können jetzt essen“.

 

Die Tatsache, dass in diesem Moment die Sätze dieses komplexen Textes durch meinen Kopf gehen und aufgeschrieben werden können, baut auf unzähligen Entwicklungsleistungen der Evolution auf. Der frühscholastische Philosoph Bernard von Chartres hat dazu ein schönes Bild: „Wir sind gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können - freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns zu Hilfe kommt und uns emporhebt.“ Ich könnte auch sagen,  dieser Haufen Sternenstaub hier hat in 14 Milliarden Jahren langsam aber sicher über sich selbst nachdenken und sprechen gelernt.

 

Natürlich könnten auch solche Beschreibungen aus einer absoluten Perspektive in Frage gestellt werden: Gibt es überhaupt Zeit? Gibt es Raum? Gibt es ein Universum? Gibt es Begriffe? Gibt es einen Geist? All das sind wichtige Fragen. Und wir ahnen vermutlich wortlos, dass wir diese aus den tiefsten Ebenen unseres Seins sogar mit einem entschiedenen "Nein" beantworten könnten. Das ist jedenfalls die mystische Schau, die zum Beispiel auch Sri Ramana Maharshi zu Teil wurde und die er mit dem Satz „Nichts ist jemals geschehen“ auf den Punkt brachte.

 

GLEICHZEITIG können wir dieses "Nein" nur Denken und aussprechen, weil wir mit einem bestimmten Aspekt unseres Seins eben doch als ein Mensch in Raum und Zeit erscheinen – auch wenn es statt einer „Raumzeit“ eher eine „Traumzeit“ sein mag. Dieser Mensch lernte als Säugling im Schneckentempo "jjjj...aaaaa“ und "nnnnnn.....ei … ei …ei.....nnnnn" schlicht dadurch, dass er seinen Eltern zunächst sinnlos erscheinende Laute nachplapperte und davon diejenigen auswählte, die eine emotionale Resonanz bei ihnen hervorriefen. Daraus folgt, dass jeder Mensch diesem Konditionierungsprozess von Sprache, die seine Art der Wahrnehmungsfilterung prägt, ausgesetzt ist. Dieser Wahrnehmungsfilterung der konditionierten Denk- und Sprachbildung können wir nicht entgehen! Selbst wenn wir über tiefste philosophische oder spirituelle Erkenntnisse sprechen und zum Beispiel unsere gedanklichen Deutungen als „Ton“, „Licht“ oder „Energie“ bezeichnen, geschieht dies immer im Rahmen unserer sprachlichen Prägung und hat schon deshalb keinen absoluten Wahrheitsanspruch.

 

Der Mythos des Gegebenen

 

In dieser Beziehung weist Wilber auf den „Mythos des Gegebenen“ hin, der bei einigen spirituellen Lehrern und Lehren nicht einbezogen wird. Hier wird manchmal davon ausgegangen, dass bestimmte Begrifflichkeiten und deren assoziatives Netzwerk so etwas wie festgeschriebene, nicht weiter-hinterfragbare Wissen und Wahrheiten darstellen würden. Doch das ist ein Irrtum höchsten Ranges! Er wurde in der westlichen Kultur durch den postmodernen Konstruktivismus aufgedeckt: Kein Verständnis ist einfach nur „so da“, sondern immer nur im konstruierten Kontext unserer geprägten Sprachkultur gedeutet. Dies gilt auch für die Begriffe „Licht“, „Ton“, „Zeit“, „Realität“ und „Illusion“ – und „überhaupt Alles“. Wenn wir über sie so sprechen, als wüssten wir, was sie „wirklich wirklich echt echt“ bedeuten, übergehen wir die Tatsache, dass sie für jeden Menschen, zu jeder Zeit, unter verschiedenen Umständen etwas sehr Anderes bedeuten können und häufig auch tun.

 

Illusion der Illusion

 

Das aber wirft uns zurück auf einen merkwürdigen inneren Widerspruch, der gerade die vermeintlich tiefsten Aussagen über absolute Dimension und Erscheinungswelt des Seins nicht verschont. Denn wenn wir Aussagen machen wie „Die Welt ist nicht real. Alles ist Illusion“ klingt das zunächst verlockend schön nach einer absoluten Wahrheit, an der sich unsichere Seelen endlich festhalten können. „Hurra jetzt weiß ich es: Die Welt ist nicht real. Alles ist Illusion. Das ist es!“. Doch dabei übersehen wir leicht, dass auch „Welt“, „real“ und „Illusion“ genau denselben illusorischen und relativen – weil vergänglichen und kontext-bezogenen – Charakter haben, wie alle anderen Begrifflichkeiten. Insofern ist die Aussage „Die Welt ist Illusion“ selbst pure Illusion und erweist sich als genauso falsch oder richtig wie die Aussage „Die Welt ist real“ oder „Die Welt ist ein halbverbrannter Apfelkuchen“.

 

Solche Betrachtungen machen deutlich, was alle Mystiker in direkter Innenschau entdeckt haben und sich im Tao de King in einem Satz verdichtet findet: „Das Tao, das du benennen kannst, ist nicht das wahre Tao.“ Diese Einsicht ermuntert uns zu einer wunderbaren Achtsamkeit: Egal was sich als vermeintlich absolute Wahrheit in unserem Geist formuliert, es ist letztlich nur ein substanzloses Konzept.

 

Dabei können Wort und Vorstellungen sehr wohl einen Hinweis-Charakter auf die absolute Seinsdimension haben – ob wir diese nun Tao, Buddha-Natur, GEIST, Allah oder Gott nennen. Dann deuten Worte über sich selbst hinaus auf ein WISSEN, das unmittelbarer und vor der begrifflichen Festlegung besteht. Doch sollten wir äußerste Vorsicht walten lassen, dass wir die Worte, die wir für die Beschreibung der direkten Schau benutzen, nicht wieder als „die Wahrheit selbst“ missverstehen. Nach meinem Empfinden gilt das für absolut JEDEN Satz, der uns über irgendeine Art spiritueller Wahrheit im Gehirn aufleuchtet, seinen Weg auf die Zunge, auf ein Blatt Papier oder in den Cyberspace auf einen Blog findet. Lassen wir dies außer Acht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir Wahrheitseinblicke wieder zu neuen Wahrheitskonzepten zementieren und uns und Anderen diesen Kunststeine auf den Kopfhauen.

 

Unfassbares Wissen

 

Dabei dürfen und sollten wir es Wert schätzen, dass Sprachbildung und die Erweiterung begrifflichen Denkens in der Evolution überhaupt stattgefunden haben. Erst dadurch können wir über Realität und Illusion überhaupt begrifflich reflektieren. Jedes intelligente In-Frage-Stellen findet in diesem Sinne also mit Begrifflichkeiten statt, die wir zunächst unhinterfragt angenommen haben. Im Falle tieferer philosophisch-spiritueller Erkenntnisse stellen sich die Begrifflichkeiten dann wieder selbst in Frage, bzw. weisen über sich hinaus auf eine andere Dimension des VERSTEHENS. Ist das nicht ein Wunder in sich selbst? In Entwicklungsmodellen nennt man dies das „Prinzip der Emergenz“ (Emergenz=Emporsteigen). Das besagt, dass auf einer höheren Ebene das Neue immer mehr ist, als die Summe seiner alten Teile. Die alte Ebene wird transzendiert, weil das Neue mehr Weite und umfassendere Freiheitsgrade offenbart. So überschreitet die Ratio sich selbst und emergiert in transrationale Reflektion. Begriffe stellen ihre eigne begriffliche Wahrheit in Frage und die Reflektion weitet sich in mystische Bereiche unfassbaren und doch klaren Wissens.

 

Aber nochmal zurück und weil es etwas komplex ist, hier eine kleine Wiederholung: Wie wir etwas interpretieren und damit wie wir auf der Ebene der Erscheinungswelt „unsere Welt“ sehen, hängt von den Interpretationsfiltern unseres begrifflichen Denkens ab. Diese schaffen die Perspektive. Wenn wir sowohl die Kontextabhängigkeit als auch die Substanzlosigkeit von gedanklichen Phänomenen tiefgreifend erkennen, dann kommen wir zu dem Schluss, dass letztlich jeder Gedanke und das, was er als Wirklichkeit zu erkennen vorgibt, einen illusorischen Charakter hat. Anders gesagt: Ein Gedanke konstatiert nie eine unveränderlich, aus sich-selbst heraus bestehende Wirklichkeit, sondern stellt bloß eine relative Perspektive dar, die vom Subjekt und dessen kulturell-konditionierter Eingebundenheit geformt wird. In diesem Sinne hat eine gedankliche Erkenntnis, wie der Buddha sagt, auch immer einen unbefriedigenden Charakter (das 3. Wesensmerkmal von dukkha = „leidvoll/unbefriedigend“) – zumindest dann, wenn wir von ihr erwarten, dass sie uns eine verlässlichen universale Wahrheit widerspiegeln sollte. Sorry liebe absolute Wahrheit, du hast keine Chance! Dich gibt es nicht!

 

Wahrheit ist kein Gedanke

 

Erstaunlicherweise weist genau die Erkenntnis, dass wir das Absolute nicht gedanklich fassen können, auf die absolute Dimension reinen Gewahrseins hin. Dazu reicht es allerdings nicht aus, sich nur mental an den Rand des rationalen Verstehens zu begeben. Wir müssen uns auch in die lebendige innere Erfahrung und das kontemplative Erkunden meditativer Bewusstseinszuständen fallen lassen. Wenn ich erkenne und spüre, dass alles, was gedacht wird, nicht absolute Wahrheit sein kann, bin ich eher bereit, die Wahrheit „meiner Identität“ und „meiner Welt“ nicht mehr an Gedanken fest zu machen. Dann lasse ich mich ganz von alleine auf eine radikal andere Weise der Wahrnehmung ein. Die spirituelle Lehrerin Byron Katie weist auf diese Öffnung hin, wenn sie fragt „Wer wärest Du ohne Deine Gedanken?“ Hier eröffnet sich uns eine innere Stille, die das Auftauchen von Gedanken nicht mit dem Sehen von Wirklichkeit verwechselt, sondern sich als ein Ruhen in reiner nicht-begrifflicher Bewusstheit offenbart. Natürlich sind auch die Begriffe „innere Stille“ und „reine Bewusstheit“ wieder nur gedankliche „Zeichen“ für eine Wahrheit jenseits vom Denken.

 

Zeichen und Bezeichnetes

 

Die Semiotik, die wissenschaftliche Betrachtung von Zeichensystemen aller Art (zum Beispiel Bilderschrift, Gestik, Sprache), beschreibt es sehr gut. Sie macht einen Unterschied zwischen Signifikant (Bezeichnendes) und Signifikat (Bezeichnetes). Die gedanklichen Zeichen, also zum Beispiel der formulierte Gedanke „Erdbeere“ verweist auf die komplexe Erfahrungsbedeutung, die wir mit diesen Zeichen verknüpfen. Natürlich ist das Wort „Erdbeere“ nicht die Erfahrung der Erdbeere selbst. Diese „Bedeutung“ erschließt sich uns erst, wenn wir uns irgendwann mal auf die direkte Erfahrung einer Erdebeere eingelassen haben und ein komplexes Netzwerk weiterer Erfahrungselemente, wie zum Beispiel die sinnliche Repräsentation von deren Aussehen, Geruch, Geschmack, Konsistenz, usw., geknüpft wurde.

 

Der Sinngehalt eines Zeichens lässt sich also nur aus dem Zusammenhang mit anderen verknüpften Repräsentationen ableiten (Kontextabhänigigkeit, siehe oben). Das nennt man dann Semantik. Und diese lässt sich nur durch ein Regelwerk von Zeichenstrukturen (Syntax), welche die jeweilige Signifikate miteinander verbinden und strukturieren, beschreiben. Das hört sich kompliziert an und ist es - verdammt noch mal - auch. Dennoch hilft uns ein Verständnis dieser Sprachelemente, den Glauben an die Festigkeit unserer gewohnheitsmäßigen Wahrnehmungskonstruktion aufzubrechen und macht deutlich wie grundlegend alles "Wahrgebung" statt "Wahrnehmung" ist.

 

Spirituelle Bezeichner

 

Außerdem kann uns das Wissen um diese Grundlagen der Semiotik deutlich machen, dass spirituelle Begriffe immer nur „Bezeichner“ für Erfahrungen sind, deren direktes Erleben jeweils im Bedeutungsnetzwerk eines jeden Menschen und bezüglich seiner kulturellen Eingebetetheit sehr unterschiedlich sein können. Das ist vermutlich auch der Grund dafür, dass alle authentischen Mystiker und spirituellen Meister ihre direkte Schau von Wahrheit einerseits in ihrer eigenen Sprache mit Nachdruck bezeugen, andererseits aber gleich wieder mit der Ergänzung versehen: „Bitte glaubt meinen Worten nicht! Macht Eure eigene Erfahrung!“ Sie sind sich dessen bewusst, dass ihre Worte nur Hinweiszeichen sind. So sehr diese aus als hilfreiche Inspiration wirken mögen, nur die selben Worte des Lehrers nachzuplappern hilft dem Schüler nicht! Denn Jeder und Jede "muss" ihre ganz eigene Erfahrung selbst machen.

 

Die knifflige Rolle spiritueller Bezeichner bringt Sri Nisargadatta auf den Punkt. Seine vielfältigen Erläuterungen über die absolute und mystische Dimension von Wirklichkeit begann er manchmal mit dem Satz: „Ich versichere Ihnen: Alles was ich sage ist eine Lüge, aber das, worüber ich spreche, ist die Wahrheit.“

 

Offenes Nicht-Verstehen

 

Es gibt vielfältige Zugänge und unterstützende Selbsterforschungen, die das direkte Erfahren der absoluten, nicht-begrifflichen Seinsebene bahnen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass unser Geist loslässt und in seine stille Quelle zurücksinkt. (Man verzeihe mir die Eigenwerbung, aber in meinem Buch „Besser als Glück“ beschreibe ich eine ganze Menge von ihnen). Aus dieser absoluten Ebene heraus können wir mit Fug und Recht sagen: Jede begriffliche Aussage, die eine unumstößliche Wahrheit festlegen will, ist bloße Illusion. Dies gilt übrigens auch für die vermeintlich unumstößliche Aussage des vorherigen Satzes. Und da haben wir es wieder: Den Geschmack des Paradoxen! Ist es wahr, dass nichts wahr ist? Und wenn das wahr wäre, wäre es dann nicht zugleich unwahr, weil dann eben auch nicht wahr sein könnte, dass nichts wahr ist? Sind solche Reflektionen verrückt? Nein. Sie bringen unseren Verstand nicht an den Rand des Wahnsinns, sondern an die Grenzen rationalen Denkens. Und von dort aus darf sich unser Geist gerne in den unfassbaren Raum nicht-zu-verstehender Stille werfen – einfach nur mal eben so. Gerade jetzt. Wer mag, nehme hier also einen tiefen Atemzug und genieße den Wandel kurzer Verwirrung in die Hingabe ans Nicht-Wissen. Sollte da gerade die Ahnung aufleuchten „Dann kann und brauche ich ja gar nichts verstehen!" dann ermuntere ich: Ja, richtig. Wir können und brauchen nichts verstehen! Das ist doch ungeheuer entlastend oder nicht !?

 

Der Wert relativer Wahrheiten

 

Und dann geht’s wieder weiter in die Welt des Verstehens: Bisher haben wir die Ebene vermeintlich fester Wahrheiten als illusorisch durchleuchtet. Es hat sich herausgestellt, wie sehr Bedeutungsgebung und Konstruktion von Sinngehalt unsere Sichtweise bestimmen. Die Dinge sind nicht, wie sie sind, sondern werden von uns mit Bedeutung versehen, je nachdem aus welcher Perspektive wir sie betrachten und deuten. Wir haben vielleicht auch schon eine Ahnung oder sogar ein gespürtes Wissen, um die absolute Ebene reinen formlosen und nicht-begrifflichen Gewahrseins. Doch dazwischen gibt es noch eine andere Ebene, die wir ebenfalls beachten sollten: Die Ebenen der relativen Wahrheiten.

 

Dazu eine kleine Geschichte. Stellen wir uns vor, zwei Personen gehen im Dunkeln durch den Wald. Plötzlich glaubt eine Person, dass vor ihr ein großer Mann mit einem langen Messer steht. Sie bekommt schreckliche Angst, dreht sich schon halb um und will weglaufen.

 

Die andere Person hat eine Taschenlampe. Ihre Reaktion stellen wir uns mal auf zwei Arten vor. Sie könnte anfangen den Anderen spirituell zu belehren: „Pass mal auf. Alles was Du wahrnimmst ist in Wirklichkeit gar nicht real. Das hat schon mein spiritueller Lehrer gesagt. In Wahrheit gibt es Dein Ich, das Angst hat gar nicht. Und es gibt auch nichts, was Dich bedrohen könnte. Deine Angst ist eine eingebildete Illusion. Sehe einfach all Deine Gedanken als nicht-real an und Du wirst Dich beruhigen. Und Du kannst auch nicht sterben, denn Du bist das ewige Bewusstsein hinter den Dingen... Was, das hilft Dir nicht?.... Warte ich erläutere Dir das noch mal anders: Also alles ist nur Energie…“ Es mag sein, dass eine solche Aussage bei dem Anderen ankommt und ihn erreicht, doch die Wahrscheinlichkeit ist eher gering.

 

Die andere Person könnte aber auch einfach ihre Taschenlampe einschalten und in die Richtung des vermeintlichen Angreifer leuchten. Sie erkennt, dass da nur ein Bäumchen steht, welches im Mondlicht ein wenig wie die Silhouette eines Menschen mit einem Messer in erhobenen Hand aussieht. Sie ruft „Warte mal! Da ist gar kein Angreifer, sondern nur ein Bäumchen. Du hast gerade Angst, weil Du glaubst etwas Bedrohliches gesehen zu haben. Doch ich habe hingeleuchtet. Guck doch auch mal hin.“

 

Bei der letzten Antwort, die vermutlich die hilfreichere ist, handelt es sich um eine relative Wahrheit. Die Idee „Das ist ein schrecklicher Angreifer“ ist eine falsche Annahme, eine verzerrte Perspektive, eine relative Unwahrheit. Die Aufklärung "Moment mal, Deine relative Perspektive ist so nicht zutreffend. Schau doch noch mal besser hin" klärt die falsche Annahme und führt zu einer angemessenen und hilfreichen relativen Perspektive.

 

Nochmal: Die erste Aussage beschreibt absolute Wahrheit. Die zweite deutet auf relative Wahrheit. In unserem Beispiel wäre die relative Wahrheit zunächst wesentlich hilfreicher als die Absolute. Die absolute Wahrheit würde unter diesen Umständen vermutlich überhaupt nicht gehört werden können.

 

Führt eine relative Antwort zunächst zu einem relativem Verständnis und einer relativen Beruhigung, könnten die beiden Personen weiter entspannt durch den Wald gehen und vielleicht würde sie dann in Ruhe über die absolute Wahrheit philosophieren und sie gemeinsam erforschen.

 

Absolute Einfühlungsunfähigkeit

 

Manche spirituellen Lehren und Lehrer betonen in ihrer Vermittlung sehr die absolute Ebene. Sie sagen mit Nachdruck „Alles ist Illusion“ und versuchen Alles, um Alles als Illusion zu entlarven. Das hat seinen Wert (wie ich es in meinem vergangenen Blog-Beitrag auch beschreibe). Doch wird diese Betonung einseitig und parteiisch für das Absolute, wird mit der erforderlichen Zurückweisung aller relativen Illusionen, gleich alle Aspekte relativer Wahrheiten mit verdammt. Hier wird mal wieder das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die Illusion der Erscheinungswelt wird zwar transzendiert, aber die relativen Wahrheiten der Erscheinungswelt werden dabei abgespalten, statt einbezogen und Wert geschätzt zu werden.

 

Das bringt eine Reihe von Nachteilen mit sich. Zum Beispiel die mangelnde Fähigkeit, Menschen in ihren jeweiligen Erlebenszustand oder auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe einfühlsam abzuholen und dadurch sanft aber wirksam zu Entwicklung und Befreiung anzuregen. Hier meine ich mit dem Begriff "Entwicklung" sowohl das Reifen zu einem authentischen Ich, als auch die "Ent-Wicklung" als De-Identifikation aus der "Ver-Wicklung" in die Vorstellung eines begrenzten, persönlichen Ichs und damit die Entdeckung der transpersonalen Natur des Bewusstseins.

 

Blind für spirituelle blinde Flecken

 

Wenn diese "absolut absoluten Lehrer" Menschen mit ihrer absolut absoluten Botschaft nicht erreichen, führt das manchmal zu einer tiefen Frustration. Es gibt zwei Weisen auf diese Frustration zu reagieren. Eine besteht darin, sich wieder auf eine neue Weise für die relative Erscheinungswelt zu öffnen, ihre Wichtigkeit und Bedeutung anzuerkennen und sie in das eigenen Leben und Lehren zu integrieren. Dabei darf und sollte das Gegründetsein im Absoluten durchaus Bestand haben und kann sich sogar gerade durch die Einbeziehung des Relativen vertiefen.

 

Die andere Möglichkeit besteht darin, die eigene Frustration zu verleugnen und sich krampfhaft an der absoluten Perspektive festzuhalten. Das führt oft dazu, dass die direkte Erfahrung zu rigiden „absoluten Konzepten“ versteinert. Im Extremfall entsteht daraus ein „Fundamentalismus des Absoluten“ der mit überhöhtem Sendungsbewusstsein Anderen – auch denjenigen, die nach dieser Erläuterung überhaupt nicht fragen - einbimsen will, dass Sie doch bitte Alles als reine Illusion ansehen sollten.

 

Wer sich dann doch der Erscheinungswelt aufmerksam zuwendet, z.B. indem er zwischen relativer Illusion und relativen Wahrheiten unterscheidet, wird aus dem Kreis der „wahrhaft Erleuchteten“ ausgeschlossen, denn er hat ja nicht erkannt, das Alles Illusion ist.

 

Diese Dynamik kann manchmal groteske Züge annehmen, in denen der „absolut Erleuchtete“ wesentlich Teile seiner innere Psychodynamik hartnäckig verleugnet, bzw. unbewusst ausagiert. (Ein Verständnis dafür, wie das zustande kommt, habe in meinem Blog-Beitrag „falsches Ich, wahres Ich und WAHRES SELBST" zu erläutern versucht. Kurz: Weil die relative Ebene in Bausch und Bogen abgelehnt wird, wird auch die Auseinandersetzung mit Schattenanteilen, die auf der relativen Ebene zu einem erleuchteten Dasein wichtig ist, oft sträflich vernachlässigt.)

 

Auch typische Entwicklungskrisen und -störungen können oft nur durch ein begriffliche Perspektiven auf der Ebenen der relativen Wahrheiten erkannt werden. (siehe meinen Artikel "spirituelle Krankheiten" in der Connection). Doch wenn wir jeden Gedanken ausschließlich als „reine Illusion“ abtun, neigen wir auch dazu hilfreiche Entwicklungsperspektiven, die sich mit unterschiedlichen Ebene und deren Emergenz in der Zeit beschäftigt (siehe unten) als pure Illusion zu negieren und ungenutzt zu lassen. Damit werden wir aber blind für die genaue Diagnose von spirituellen Fallen und „Krankheiten“ - und sehen nicht, wenn wir selbst in eine tappen. Denn eine der schwerwiegendsten spirituellen Krankheiten ist gerade die „Kausale Störung“ welche auf einen Alleinvertretungsanspruch des Konzeptes „Die Welt ist Illusion, nur Brahman ist wirklich.“ pocht und dabei die umfassende non-duale Integration alles Weltlichen als Brahman noch nicht vollzogen hat.

 

Wenn wir uns durch Überhöhung einer absoluten Perspektive garnicht nicht mehr mit dem Relativen beschäftigen wollen, sind wir auch meist unwillig, verschiedene Wahrheitsperspektiven auf der relativen Ebenen zu erkunden. Das doch zu tun, kann allerdings äußerst nützlich sein. Erkenntnis-Systeme wie Spiral Dynamic oder Ken Wilbers Integrales Modell können mittlerweile sehr klar die Bandbreite relativer Wahrheits-Perspektiven aufzeigen. Wilber sagt dabei sinngemäß: „Es gibt keine alleingültigen Wahrheiten, sondern nur unterschiedliche Perspektiven auf Wahrheit“. Ein integrales Verständnis achtet und erkundet dabei alle möglichen Perspektiven, weist aber auch darauf hin, dass sie immer nur einen begrenzten Gültigkeitsbereich haben (zum Beispiel nur die Perspektive eines Quadranten, einer Ebene, einer Entwicklungslinie...). Der Anspruch, es gäbe einen Alleinvertretungsanspruch auf die „letztendliche Wahrheit“, wird damit zugleich rücksichtslos, aber auch liebevoll ausgehebelt.

 

Wenn wir bereitwillig sind, uns auch mit diesen relativen Wahrheiten zu beschäftigen fördert dies unser Einfühlungsvermögen für praktisch alle Erkenntnisperspektiven der Menschheitsgeschichte und damit auch für die unterschiedlichen Perspektiven unserer Mitmenschen. Und erst, wenn wir uns in diese hineinversetzen und nachfühlen können, wie unser Mitmensch auf seiner Ebene „tickt“, denkt, spürt, und auch spirituell empfindet, können wir ihm optimal angemessen begegnen und vielleicht zur Weiterentwicklung anregen – und zwar in dem Maß, wie es von ihm gewollt ist. (Neben den Werken von Wilber empfehle ich an dieser Stelle das Buch „Gott 9.0“, das solche Perspektiven mit einem Schwerpunkt auf christliche Perspektiven darstellt)

 

Der fantastische Sandstrand des Seins

 

Und noch mal : Wenn wir von „relativen Wahrheiten“ reden, geht es nicht darum, die jeweilige Wahrheit als „absolut“ zu verkaufen. Das ist sie nicht! Relative Wahrheiten sollten wir immer nur als „Perspektiven“ verstehen, die gewisse Teilaspekte des Seins begrifflich zu erfassen suchen. Jede Perspektive hat dabei ein „Körnchen Wahrheit“ und einen Erkenntnisbereich in dem sie anwendbar ist und wirken kann. Sie hat immer auch Begrenzungen und kann destruktiv wirken, vor allem dann, wenn sie als absolut überhöht wird. Die „ganze Wahrheit“ - also der fantastische Sandstrand des Seins - ist durch relative Teilwahrheiten begrifflich nie zu erfassen. Und wir sollten immer achtsam dafür sein, dass jede begriffliche Perspektive auch immer nur einen Landkartencharakter hat. Die echte Landschaft erfahren wir eher durch das unmittelbare Erleben, sei es sinnlich, emotional, geistig, übersinnlich oder transrational in mystischer Schau.

 

Die relativen Perspektive zeigen relative Teilwahrheiten auf. Sie alle als „gleich illusorisch“ abzutun ist eine simplifizierende Haltung, die der Komplexität der Erscheinungswelt schlicht und einfach nicht gerecht wird.

 

Mit diesem Beitrag plädiere ich in keiner Weise gegen die Erkenntnis des illusorischen Charakters der Erscheinungswelt. Im Gegenteil: Es ist ungeheuer wichtig – und meiner Meinung nach sogar unerlässlich - das spirituelle Lehrer und Lehren diese Wahrheit in ihrer ganzen Tiefe und Radikalität erkennen und zugänglich machen. Dafür sollten wir allen Menschen dankbar sein, die das gut erläutern können und zur direkten Erfahrung dieser Wahrheit einladen. Erst eine radikale De-Identifikation vom Wahrheitsanspruch unserer Gewohnheitswirklichkeit ermöglicht einen gesunden Abstand dazu und eröffnet vollkommen neuen Perspektive. Wozu ich mich hier stark machen möchte, ist es, eine umfassende und weite Perspektive beizubehalten, in der sowohl die absolute Seinsdimension als auch die Wertschätzung der relativen Erscheinungsebene einschließlich einer differenzierte Einbeziehung relativer Wahrheitsperspektiven Platz haben.

 

Forschergeist für Nichts und Alles

 

Wenn wir diese Offenheit entdecken, sind wir fähig, zwei Aspekte des Seins nebeneinander zu erfahren. Wir dürfen die Auflösung aller Begrifflichkeit zulassen und uns als zeitlose, unangetastete Ganzheit absoluten Bewusstseins erfahren. Und es ist ebenso fantastisch, mit Neugier und Forschergeist der weiteren Evolution des Bewussteins unter Einbeziehung aller sich stetig erweiternden relativen Wahrheitsperspektiven beizuwohnen und ein lebendiger Teil davon zu sein.

 

 Torsten Brügge, Hamburg den 3.11.13