Manche Begriffe haben die Kraft, als frische Fingerzeige auf die nicht-begriffliche Wahrheit unseres innersten Wesens zu deuten: SEIN, STILLE, GEWAHRSEIN, GEIST, TAO, BUDDHA-NATUR, GÖTTLICHER URGRUND…

Für mich galt das eine Zeit lang auch für den Begriff "ERWACHEN". Erwachen wir aus einem schlechten Traum zum Wachbewusstsein, ist das eine Befreiung. Wir erkennen, dass alles, was im Traum geschah, unwirklich war. Das Drama und Leiden des Traumes ist zu Ende. Uns wird klar, dass uns das leidvolle Traumgeschehen in Wahrheit nie berührt hat.

Ganz ähnlich können wir vom Leiden der Identifikation mit einem begrenzten persönlichen Ich und dessen schwankender Lebensgeschichte von Schmerz und Vergnügen zu der Weite und Reglosigkeit unseres wahren Selbst erwachen. In dieser Hinsicht macht "Erwachen" für mich immer noch Sinn.

Auf eine andere Weise scheint der Begriff "Erwachen" mehr und mehr konzeptualisiert und korrumpiert zu werden - vor allem dann, wenn er als die Eigenschaft einer Person interpretiert wird. "Hast Du schon gehört? Person X ist erwacht." "Nein, der ist doch noch nicht erwacht. Person Y vielleicht schon, aber X, nee." Oder wir beziehen ihn auf uns selbst "Oh nein, ich bin immer noch nicht erwacht." oder "Ah, weil ich jetzt diesen Einblick in Stille, Ewigkeit und Ich-Losigkeit gehabt habe, bin ich erwacht. Nun gehöre ich endlich zur Gruppe der 'Erwachten'."

Verstehen wir "erwacht" als eine eindimensionale Eigenschaft einer Person, ergeben sich daraus spirituelle Missverständnisse und Verzerrungen. Entweder wir verfallen in Minderwertigkeitsgefühle, weil wir uns nicht erwacht fühlen und machen uns "Erwachens"-Druck, der unser Leiden noch verstärkt. Oder wir überhöhen uns selbst. Wir glauben vielleicht, nur weil wir erste Einblicke in die  Wahrheit unseres Selbst erhascht haben, bedeuten dies, dass alles, was wir sagen und tun, nun Ausdruck reiner erwachter Wahrheit wäre. Daraus kann sich eine Arroganz entwickeln, in der wir eher wieder einschlafen, als endlos weiter zu erwachen.

Ich möchte an dieser Stelle vorschlagen, die Zuschreibung der persönlichen Eigenschaft "erwacht" vollkommen fallen zu lassen. Das entspricht tatsächlich der inneren Stille, die wir unmittelbar Erfahren, wenn die Lebendigkeit des Erwachens durchscheint. Hier brauchen wir keine  Definition unserer selbst. Gedanke wie "Ich bin unerwacht" oder "Ich bin erwacht" sind schlicht abwesend oder (ver)klingen als kosmischer Witz.

Und dennoch gibt es die Neigung, nach solchen Einblicken, sich selbst wieder mit Definitionen des "Bin ich erwacht?" kritisch abzufragen oder zu brüsten - beides meist auf ein höchst simplifizierende Weise. Wie wäre es, das sein zu lassen? Wie wäre es, wenn wir uns die Frage "Bin ich erwacht oder nicht-erwacht?" so nie wieder stellen müssten? Wie wäre  es, wenn wir nie wieder mit der Frage "Ist der oder die Person nun erwacht oder nicht?" auf Andere schauen würden?

Auf "erwacht / nicht-erwacht" als eine vereinfachende Mono-Eigenschaft zu verzichten, bedeutet nicht, dass wir Alles gleichermaßen - und wiederum simplifizierend - als "gleich erwacht oder gleich unerwacht" betrachten müssten. Es gibt tatsächlich massive Unterschiede zwischen erwachten und unerwachten Perspektiven und Erlebensweisen. Wir könnten aber für die Ebene, auf der wir differenziert über Erwachen und Erleuchtung sprechen wollen, eine andere. sinnvollere Betrachtungsweise wählen. Zum Beispiel diejenige von "erwachten Anteilen" oder "durchleuchteten Anteilen" und "unerwachten Anteilen " oder "verschleierten Anteilen" unserer Person.

Wenn wir Erwachen oder Erleuchtung als das klare Hindurch-Leuchten des Absoluten durch die - oft verschleiernden - Schichten der relativen Erscheinungswelt beschreiben, dann könnte man sagen: Durch manche  Menschen, in manchen Bereichen scheint die absolute Ebene klarerer hindurch, als durch andere Menschen, in anderen Bereichen. In diesem Sinn erleben wir - neben der absoluten Erfahrung, dass wir alle schon immer das eine SEIN sind - sowohl erwachte als auch unerwachte Anteile. In den erwachten Anteilen strahlt die Klarheit des Absoluten auf verschiedene Weise durch uns als Person. In den unerwachten Anteilen ist dieses Strahlen verschleiert oder nicht vorhanden. In einer einzigen Person und deren Leben kann es dann sowohl erwachte als auch unerwachte Anteile geben. An ersteren können wir uns erfreuen und sie strahlen lassen. Letztere könnten wir aufrichtig eingestehen und  als Herausforderungen betrachten, auch hier noch mehr Licht des Erwachens durchleuchten zu lassen.

"Erwachen" oder "Erwacht-Sein" wäre dann keine festgeschrieben Eigenschaft einer Person, sondern das Funkeln eines facettenreichen Strahlens des unpersönlichen Wachseins durch Anteile unserer Person und ihres Lebens. Das entspricht übrigens auch modernen Ansätzen der Psychologie. Sie gehen statt von einem  einheitlichem Ich eher von einer Vielzahl von Ich-Anteilen aus, die wir alle in uns tragen und die unterschiedlich weit entwickelt sein können. Ob man diese nun „innere Stimmen“, „Teilpersönlichkeiten“ oder "Ego-States" (obwohl es korrekter eigentlich "Ego-Aspects" heißen sollte)  nennt, das Prinzip bleibt das gleiche. (siehe dazu auch den Artikel "Die Struktur desr Psyche" von Oliver Bartsch / http://www.connection.de/index.php/gesundheit-heilung/1761-die-struktur-der-psyche )

Wenn wir Erleuchtung als Befreiung aus dem Leiden von begrenzten Ich-Konzepten und als Erwachen zu einer transzendenten Seinsebene verstehen, könnten sich „Ego-Aspects“ diesbezüglich in „True-Self-Aspects“ verwandeln. Das wären dann  die individuellen und zugleich überpersönlichen Ausstrahlungen  unseres transpersonalen Wesenskernes,  durch die Facetten unserer Person und deren Anteile hindurch. So wie das Licht eines Diamanten zugleich farblos, aber durch jede seiner Facetten wiederum in einzigartigen Farbschattierungen leuchtet.

Diamant

 

Eine Art sich der Multidimensionalität von Erleuchtung konkreter zu nähern habe ich schon in meinem Artikel in der Connection Ausgabe Mai/Juni 2013 mit dem Thema "Erleuchtung ganz oder garnicht - Erwachen aus der Perspektive des Integralen Modells und das Konzept der Entwicklungslinien" beschrieben. Hier schildere ich, wie man eine differenzierte Betrachtung von Erwachen/Erleuchtung anhand der Entwicklungslinien nach dem Integralen Modell von Ken Wilber anstellen kann.

Das Integrale Modell hält noch weitere Betrachtungen dieses Themas parat, die ich hier nur andeuten will und auf die ich genauer in vielleicht in weiteren Blogbeiträgen eingehen werde: Wilber spricht von den "drei S" der Erleuchtungsentfaltung und meint damit "States, Stages, Shadow" (deutsch: Zustände, Stufen, Schatten)

Mit "States" sind  Bewusstseinszustände gemeint. Hier hat Erleuchtung etwas damit zu tun, ob wir die dualistische Wahrnehmung eines getrennten Ichs überschreiten und  die Einheit allen Seins sowohl in grobstofflichen, feinstofflichen, kausalen (im Sinne eines kausalen ewigen Urgrundes), als auch nondualen Qualitäten erleben können.

Mit "Stages" (Stufen oder Ebenen) bezeichnet Wilber strukturelle, aufeinanderfolgende Ebenen der evolutionären Bewusstseinsentwicklung (grob: archaisch, magisch, mythisch, rational, pluralistisch, integral, superintegral), die wir sowohl individuell als auch kollektiv durchlaufen. Vereinfachend gesagt beschreiben diese Ebenen die Weite unserer Wahrnehmung und Interpretationsmuster mit der wir jeweils die Welt und unsere eigenen Erfahrungen deuten. Hier bedeutet Erleuchtung, die Fähigkeit umfassende Perspektiven einnehmen zu können,  welche prärationale und rationale Sichtweisen transzendieren, sie aber zugleich integrieren. (In diesem Zusammenhang hat der Begriff „Erleuchtung“ (im Englischen „enlightenment“) eher eine Nähe zu dem deutschen Begriff „Aufklärung“ (im Englischen ebenfalls „enlightenment“. Es handelt sich also um eine aufgeklärte Weltsicht, die dem aktuellen Stand der am weitesten entwickelten menschlichen Perspektiven und reflektierten Einsichten entspricht)

Das dritte „S“ (Shadow = Schatten)  hat mit der Psychodynamik des Schattens zu tun. Hier weist Wilber daraufhin, dass neben der Transzendierung der personalen Ebenen auch  die Integration verdrängter Schattenanteil der Person (auch von der rationalen und prärationalen Ebene) und ein sich daraus ergebendes authentisches Ich-Gefühl erforderlich ist, damit spirituelle Entwicklung auch mit psychischer Gesundheit und menschlicher persönlicher Reife einhergeht.

Nach Wilber braucht es in allen drei Bereichen ein erwachtes Bewusstsein, damit man von einer umfassenden Erleuchtung sprechen kann.

Diese Aspekte sind komplex. Sie bedürfen einer intensive  philosophischen Reflektionen und großer Aufrichtigkeit in Bezug auf die eigene Reife. Dabei tut es gut,unseren Geist immer wieder in den kühlen Wassern direkt erlebter Stille eintauchen zu lassen. Hier brauchen wir rein gar nichts zu wissen oder zu reflektieren. Hier erfahren wir uns als das absolute Gewahrsein, das sich ohne jeden Begriff als jenseits jeder Eigenschaft weiß.

Doch um in der Welt der Formen, Begrifflichkeiten und relativen Erscheinungen halbwegs klar über Erwachen sprechen zu können, reicht die simple Dualität "erwacht/ nicht erwacht" bei Weitem nicht aus. Hier brauchen wir ein breites und differenziertes Verständnis. Der integrale Ansatz zeigt viele Aspekte davon auf.

 Torsten Brügge, Hamburg 2013