ein Austausch von Wolf Schneider und Torsten Brügge

Auf meinen vorherigen Blogbeitrag gab es von Wolf Schneider einen interessanten Kommentar, der neben Übereinstimmung auch einen sehr wichtigen Kritik-Punkt enthielt. Ich antwortete Wolf darauf zunächst in einer Email, worauf hin er mich dazu anregte, den kleinen Dialog zwischen uns in einem neuen Blogbeitrag einzustellen. Denn hierbei handelt es sich um die Eröffnung eines eigenständiges Thema, das viele Leser interessieren könnte.

 

Zunächst also noch mal der Kommentar von Wolf und dann die Antwort darauf von mir:

 

Lieber Torsten,

 

danke für diese gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema Spiritualität und Wirtschaft! Das beschäftigt mich, wie du weißt, seit langem. Hier speziell: Advaita und unser Geldsystem. 90 Prozent Zustimmung zu allem, was du hier schreibst. Trotzdem ein Kritikpunkt, auch auf die Gefahr hin, dass ich damit als kleinlich erscheine, aber es ist m.E. ein wichtiger Punkt.

 

Du schreibst: »Die verdunkelnden Geisteskräfte unserer Identifikation mit einer Person können durchschaut und die Wahrheit dahinter kann wieder entdeckt werden.« Mit dieser zentralen Behauptung des Advaita bin ich nicht mehr einverstanden, obwohl ich das viele, viele Jahre lang war. Ob das ein Rückfall in den Herrschaftsbereich des Ego oder ein Fortschritt an Erkenntnis ist? Jedenfalls glaube ich inzwischen, dass die Identifikation mit einer Person etwas sehr Wertvolles ist und keine Verdunkelung des Geistes. Wir sollten diese Identifikation schätzen und würdigen, sie ist eine unabdingbare Voraussetzung für unsere psychische Gesundheit. Und: Es gibt noch viel mehr als diese Identifikation mit nur einer Person. Wir können uns mit noch anderem identifizieren, mit anderen Menschen und Gruppen von Menschen, mit Dingen, Projekten, Überzeugungen, Werten – letztlich mit allem, mit dem »Großen Ganzen«: Das ist dann die mystische Erfahrung. Aber vorher gibt es die Person. Die bitte nicht über Bord werden – und auch, sie als "dunkel" zu bezeichnen finde ich nicht nur richtig, sondern sogar gefährlich.

 

Liebe Grüße

 

Wolf

 

Antwort von mir:

 

Lieber Wolf,

danke für Deine Mail, die Wertschätzung und die Kritik.
Was Du ansprichst ist ein sehr guter Punkt und ich stimme Dir da quasi voll zu, bzw. führe unten auf, wie ich es genau sehe. Vermutlich hast Du mich da auch bei einer "alten Advaita-Einseitigkeit" "erwischt", die ich eigentlich jetzt auch anders sehe, aber vielleicht in meinem Sprachgebrauch doch noch nachklingt.

Um es in Kürze anzureißen:

Tatsächlich ist die Identifikation mit einer individuellen Person ein wichtiger Entwicklungsschritt in der menschlichen Entwicklung und von großem Wert. Diese Tatsache beschreibt das Integrale Modell von Wilber wieder mal sehr schön. Hier liegt die Identifikation mit einer Person auf der personal/rationalen Ebene. Sie hat mehr Reife und Weite als die prärationale/präpersonale Ebene. Denn auf der personalen Ebene erhebt sich die Person zu einer individuellen Vielfalt und Eigenart, die sich aus den Regel- und Rollenmodellen der prärationalen Eingebundenheit in eine vorgegebene Gruppenzugehörigkeit löst. Dazu ein Bespiel: Der Sohn eines katholischen Bauern, der schon in der sechsten Generation den Hof übernehmen soll, aber eigentlich andere Impulse verspürt, bricht aus der Tradition aus. Er sagt: "Ich bin eine Person mit ganz eigenen Fähigkeiten und Wünschen. Ich werde nicht den Hof meiner Eltern übernehmen. Ich bin Künstler, werde in die Großstadt ziehen und auf den Gottesdienst jeden Sonntag verzichte ich auch." Diese Identifikation mit einem individuellen, persönlichen Dasein ist Ausdruck einer erweiterten Freiheit. Das ist in diesem Sinne keine Verdunkelung, sondern tatsächlich eine wunderbare Erhellung und Befreiung aus alten Mustern.
Dennoch ist nach Wilber (und den spirituellen Traditionen) diese Freiheit nur eine relative, zumindest dann, wenn es bei der "begrenzten" Identifikation mit der Person bleibt. Denn auch wenn ich mich als Individuum fühle, bin ich noch getrennt von der Ganzheit des Seins. Oft fühlen wir uns auf einer bestimmten Stufe der Individuation sogar abgetrennter als jemals zuvor, weil sich unsere Sichtweise auf existentielle Perspektiven ausdehnt,ohne dass wir schon einen Geschmack des alles verbindenden Einsseins haben. Wir sind zwar etwas „Besonderes“, aber empfinden uns damit auch abge“sondert“ und wir spüren, dass uns das „Ich bin eine Person“ nicht das tiefste Glück gibt, welches wir uns eigentlich wünschen.

 

Über die Begrenzung hinaus gibt es die Möglichkeit - wie Du schreibst -, sich mit viel "weiteren Kreisen" des Seins zu identifizieren, bzw. zu erkennen, das wir letztlich alles SEIN sind. (Ich würde dies dann eher das "Erkennen der Identität mit ALLEM" nennen, denn dies ist kein Akt des Sich-Gleich-Setzens, sondern eher ein Erkennen des Schon-Immer-Eins-Seins).
Wenn in Advaita-Kreisen oft - und manchmal einseitig - auf den leidvollen Charakter der Identifikation mit einer Person hingewiesen wird, hat das Vor- und Nachteile, bzw. entspricht nach dem Verständnis der Entwicklungsdynamik des Integralen Modells verschiedenen Phasen der Entwicklung.

 

 Nach Wilber findet Entwicklung nämlich in drei Phasen statt.


1. Differenzierung = Abtrennung von der alten (bisherigen) Ebene - das bisherige wird als unwahr und begrenzt erkannt und deshalb zunächst zurückgelassen oder "abgestoßen"

2. Identifikation mit der neuen Ebene = das neue, emergierende Bewusstsein wird als weiter und wahrer erahnt und man setzt sich ganz mit dem Neu-Erlebten gleich (sozusagen eine "Verherrlichung" der neu entdeckten Ebene)

3. Integration der alten Ebenen - die übermäßige Abtrennung von den alten Ebenen verwandelt sich von der höheren Ebene aus in ein liebevolles Umarmen und Wertschätzen der „niederen“ Ebenen, da man auch das Alte als Vorgänger oder Bereiter des Neuen erkennt - nur eben nicht mehr als die höchste, sondern als relative Wahrheit

Die Advaita-Ausrichtungen betonen eher die Differenzierung (Schritt1) von der personalen/rationalen  Ebene der persönlichen Identität (z.B. mit der Neti-Neti-Botschaft: "Ich bin nicht mein Körper... nicht meine Gefühle  .. nicht mein Denken... nicht meine Person“) und die Identifikation (Schritt 2)  mit der transpersonalen Ebene ("Ich bin das Absolute." "Ich bin das alles übersteigende, unpersönliche Bewusstsein"). Dabei wird dann manchmal die Integration der personalen/rationalen  (Schritt 3) vergessen, bzw. wird diese nahezu abgespalten. Das aber ist kein "ganzheitlich heilsamer Advaita" sondern "die kränkelnde Advaita-Krise". Diese Thematik schildere ich noch genauer  in meinem Artikel für die Zeitschrift "Integrale Perspektiven" mit dem Titel "Weisheit durch Nicht-Wissen", der im November rauskommen soll.

Hinzukommt, dass es auch auf der personalen Ebene selbst schon zu "kränkelnden Verzerrungen" kommen kann, die auf ihre Art den "Wert der Person" schmälern oder sie als "verdunkelnde Maske" wirken lassen können. Auch hier hat Wilber wieder hilfreiche Sichtweisen: Er sagt, es ist sinnvoll das "kleine Ich" auf der personalen Ebene in zwei Aspekte zu unterteilen: 1. das falsche Ich und 2. das authentische Selbst (manchmal auch als „einzigartiges Ich“ bezeichnet). Das wahre Selbst wäre dann die Tiefenschicht des unpersönlichen Seins, das die Advaitis gerne betonen.

Das falsche Ich ist dadurch gekennzeichnet, das es durch viele nicht-integrierte Schattenanteile verzerrte, verfälschte Selbst- und Fremdwahrnehmungen enthält. Das authentische Ich hat die Schattenanteile integriert und ist auf der personalen Ebene natürlicherweise heil und ganzheitlich wertvoll.

Die De-Identifzierungs-Betonung im Advaita bezieht sich - meiner Meinung nach - auf zwei Elemente.

1. Es wird geahnt, dass das Ich etwas "falsches" an sich hat, weil man die Person auch als Maske (persona=Maske) oder falsches Ich erkennt.
2. Es wird gespürt, dass es Entwicklungspotentiale zu einer erweiterten Identität gibt, die die - auf die Person begrenzte - Identität überschreitet und zum wahren Selbst führt. Vom authentischen Selbst spricht die Advaita-Tradition wenig oder gar nicht, wahrscheinlich weil sie noch nicht das Wissen der westlichen Psychologie, der Aufdeckung von personalen Strukturen und Psychodynamiken hatte.

 

Die Gefahr bei der Betonung auf die De-Identifikation vom ich liegt darin, dass wir uns manchmal de-identifzieren bevor sich das falsche Ich durch Schatten-Integration zum authentischen Ich entwickelt hat. Das hat kann die Folge haben, dass wir uns schon mit dem absoluten ICH BIN identifizieren, ohne das die erforderliche (und natürliche) Umwandlung des falschen Ichs in das authentische Selbst geschehen ist. Manchmal neigen wir dann dazu diese personale Entwicklung  nicht nachreifen lassen, weil wir  Schattenarbeit auf der personalen Ebene fälschlicherweise für unnötig erachten.

Mit der Identifikation mit dem ICH BIN ohne Nachreifung des authentischen Selbst, de-identifzieren wir uns auch vom Schatten, was der Schatten toll findet, denn so kann er überleben.  Das ist Wilbers Betrachtungsweise und auch hier fasst er etwas in Worte, was ich persönlich ;-) intuitiv erahnt hatte, wofür mir aber die Worte fehlten. Für solche Beschreibungen könnte ich Wilber dann manchmal küssen!

Für mich besteht die Lösung (also ein alles integrierender Sichtweise darin), entweder zunächst das authentische Ich zu entwickeln in dem das falsche Ich seinen Schatten integriert und "danach" die ausschließliche Identifikation mit der Person in eine erweiterte Identifikation mit Allem zu entdecken (was eben auch die De-Identifkation mit der ausschließlichen Identfikation mit einer Person einschließt (mein Gott versteht mich hier noch jemand? ;-) ). Oder aber schon "spirituell vorzustoßen", d.h. schon tiefe Erfahrungen der De-Identfikation von der Person und Einheitserfahrungen mit Allem zu kosten, dann aber unbedingt die Schattenintegration und die Entwicklung des falschen Ichs zum authenischen Selbst "nachreifen zu lassen". (Letzteres war übrigens eher meine persönliche/unpersönliche Erfahrung). Vermutlich ist spirituelle Entwicklung auch immer eine Mischung oder Gleichzeitigkeit von beidem.

Es gibt übrigens auch ein schönes Ramana-Zitat dazu (das ich aber hier nur aus einer nicht wort-wörtlichen Erinnerung zitieren kann):

Frager: "Identifiziert sich der Jnani (Erwachte) überhaupt nicht mehr mit seiner Person?"
Ramana: "Natürlich identifiziert er sich mit seiner Person. Er weiß, dass er seine Person ist, aber er weiß auch, dass er gleichzeitig alles Andere ist."

Also Danke noch mal für Deine Kritik. Ich kann mir vorstellen, dass dies viele Menschen interessiert. Und es ist gut, falls wir über „Ich“, „Selbst“ und „Identifikation“ sprechen, immer genau damit zu sein, ob wir vom falschen Ich, vom authentischen Selbst oder vom wahren Selbst sprechen, sonst wird es verwirrend.

Alles Liebe

Torsten