Gewaltige Naturgestalt

Immer wieder beeindruckt mich die Begegnung mit dem Berg Arunachala im Süden Indiens, an dem wir mit unserer Retreat-Gruppe gerade vor ein paar Tagen angekommen sind.
Körper und Geist fühlen sich von der 24-stündigen Reise von Hamburg, über Frankfurt und Chennai, bis hin zum Tempelort Tiruvannamalai im Inland Südindiens  noch ein wenig müde an. Doch sobald ich mich auf der Dachterrasse des Ashrams, in dem wir wohnen, hinsetze, wird die Präsenz des Berges deutlich spürbar. Von hier aus zeigt sich  ein wunderbarer Ausblick. Der Berg, der in einer Flachebenen die einzige größerer Erhöhung ausmacht, liegt in seiner vollen Pracht dar. In eher sanften Schwüngen doch mit einem deutlich aufragenden Gipfel sehe ich das Steinmassiv vor mir. Man könnte auch den Eindruck haben, man blickt auf einen gigantischen, liegenden Elefanten aus Stein oder auf eine etwas abgeflachte, aber dafür um das tausendfache vergrößerte Pyramide. Mein Körper ruht als winziger Punkt auf der Dachterrasse eines Hauses, das nur wenige hundert Meter vom Fuß des Berges auf der sich absetzenden Flachebene platziert ist.

Wie bei einem Blick in den Sternenhimmel wird sofort klar, wie winzig und unbedeutend der eigene Körper, die eigene Person, das eigene Leben, im Angesicht solch gewaltiger Naturgestalt ist.

Erdkrusten aus heißer Vorzeit

Aus geologischer Perspektive soll das Gestein des Arunachalas mit zum ältesten Teil der Erdkruste gehören. Vielleicht erstarrte hier das Magma unseres glutheißen Planeten vor Milliarden von Jahren zuerst. Inseln von festem Fels bildeten sich. Nach und nach bedeckten sie die Steinschmelze des Erdmantels mit kühlem Geröll. So bereiteten sie den Boden für das kommende Leben auf unserem Planeten. Die Erhebung des Arunachalas war vielleicht ein erstes hohes Eiland im Urzeitmeer der Lava. Selbst das mächtige Himalayagebirge soll noch wesentlich jünger sein. Es ist quasi noch grün hinter den Ohren, wenn man sein Lebensalter mit dem seines Urgroßvaters Arunachala vergleicht.
Der Berg hat wohl den Lauf der gesamten Evolution mitangeschaut. Vielleicht ist es dieses Wissen um Beständigkeit im Anblick der Vergänglichkeit aller Lebensformen, das der Berg so machtvoll ausstrahlt. Er steht einfach da. In sich selbst ruhend. Unerschütterlich. Unbewegt. Reglos. Zugleich wirkt er wie ein Mahnmal der Gegenwärtigkeit. Denn während ganze Erdepochen an Zeiträumen an ihm vorbei brausten, war und ist er stets zugegen - und wird es auch weiterhin sein. Ein lebendiges Symbol für das ewige Jetzt, in dem alle Zeiten geschehen. 

Stille Botschaft

Es kommt einem fast so vor, als würde eine Botschaft vom Arunachala ausgehen: "ICH BIN IMMER HIER." Komme, was wolle: Generationen von Pflanzen, Tieren und Menschen wurden an seinem Fuß geboren, lebten ihr Leben und starben. Den Berg kümmert es nicht. Strahlende Sonnentage trocknen seine Bäche aus, Regenmassen des Monsuns lassen sie wieder anschwellen. Der Berg lässt es geschehen. Er bleibt immer der Gleiche. Einerseits unbeteiligt, andererseits vollkommen gegenwärtig für das, was im jetzige Moment in seiner Präsenz geschieht. Nichts wird abgelehnt oder weggeschoben. Nicht wird anders gewollt, als es sich gerade zeigt. Ob Schreie von Vögeln und Affen die Luft durchdringen, die Nachtruhe alle Geräusche dämpft oder der verrückt hupender, indischer Straßenlärm die Morgenstunden einläuten; ob Menschen auf ihm neue Bäume pflanzen oder ältere abholzen; ob sie an seinen Hängen Gras schneiden oder Wiesen mit Kuhmist düngen; ob Regenschauer in wilden Sturzbächen abfließen oder bei Trockenheit Brände Teile seiner Vegetation verbrennen. Der Berg selbst bleibt still. Kein Kommentar. Keine Bewertung. Keine  Zustimmung. Keine Ablehnung. Vollkommene Akzeptanz. Betrachtet man den Arunachala aus der Ferne, steckt einen diese unbeirrbare Präsenz magisch an. Und auch wenn der ganze Berg von Nebel und Regenwolken eingehüllt ist, so weiß man doch: Er ist immer noch dar und bleibt unangetastet von allen Umständen unbeirrt der, der er immer ist.

Shiva-Bewusstsein

Eine englische Freundin, die seit 20 Jahren am Arunachala lebt, verehrt den Berg als spirituelles Kraftfeld und physische Manifestation Shivas. Sie setzt sich sehr für das Bekanntwerden des Arunachalas ein (siehe ihre Website dazu in Englisch). In einem Gespräch gestern meinte sie: "Der Arunachala steht für die Shiva-Energie. Und „Shiva" ist nur ein anderes Wort für reines Bewusstsein." Ich würde ergänzen: Die Shiva-Symbolik spiegelt den regungslosen, das weltliche Leben transzendierenden Aspekt absoluten Bewusstsein wieder. Das klassische hinduistische Symbol für Shiva ist der Shiva-Lingam: Eine vertikal ausgerichtete phallusförmige Gestalt, die oft als eine Steinsäule für religiöse Rituale verwendet wird. Im Kontrast und als Ergänzung dazu gibt es auch einen eher weiblichen Aspekt reinen Bewusstseins: Die Shakti. Sie spiegelt einen sich ins Leben ergießenden Strom  fließenden Energie wieder. Man könnte sie somit auch als eine horizontale, integrierende Kraft der Immanenz betrachten. Oft wird der Shiva-Lingam dann auch zusammen mit dem eher weiblichen Symbol eines runden Sammelbeckens (Yoni) dargestellt und als Statue geformt. Der Shiva-Lingam ruht in der Mitte der Yoni. Die Figur in ihrer Gesamtheit symbolisiert die mystische Einheit von regloser Stille und bewegtem Bewusstsein, von Transzendenz und Immanenz, vom Aufstieg zum Göttlichen und Absteigen des Göttlichen in die Welt.

Shiva Lingam

Sammelort der Weisen

Die in einer sonst flachen Landschaft ungewöhnlich aufragende Erhöhung des Arunachalas wird von Hindus schon seit Jahrtausende als Manifestation Shivas verehrt. Um seine Erscheinung ranken sich eine Menge Mythen und Legenden mit unterschiedlichsten Bedeutungen. Sicher ist, dass der Berg seit jeher eine starke Anziehung auf spirituell orientierte Menschen ausübte. Hier lebten zahllose Philosophen, Heilige, Weise und ihre Anhänger. So wird zum Beispiel von Adi Shankara (788-820), dem berühmten Begründer der Advaita Philosophie, berichtet, er habe sich am Arunachala aufgehalten und ihn verehrt. In der Neuzeit ist der Berg vor allem durch den indischen Weisen Sri Ramana Maharhsi (1879 bis 1950) bekannt geworden. Ramana erfuhr im Alter von 16 Jahren ein spirituelles Erwachenserlebnis, während dessen er sein wahres Selbst erkannte. Kurz darauf vernahm er einen inneren Ruf, zum heiligen Berg zu kommen. Er brach die Schule ab, verließ seine Familie und machte sich auf eine für damalige Verhältnisse gewagte, abenteuerliche Reise zum Arunachala. Für den Rest seines Lebens sollte dieser Ort seine Heimat bleiben. Ramana verließ den Berg nie wieder. Im Laufe der Jahre wurden viele Menschen von seinem stillen Wesen, seiner friedvollen Ausstrahlung und seiner umfassenden Weisheit berührt, inspiriert und erleuchtet.

Ich lernte zunächst die Lehre und die Gestalt Ramanas Anfang der 90er Jahre kennen - vor allem durch die lebendige Vermittlung meiner Lehrer Sri Poonjaji und Gangaji. Später erfuhr ich, dass Ramana den Berg Arunachala als seinen Lehrer verehrte. Und erst bei meinem ersten Besuch Südindiens 1999 wurde für mich spürbar, welche spirituelle Kraft der Arunachala verkörpert.

Drei kosmische Funktionen

Natürlich unterliegt jede Art von "spiritueller Kraftzuschreibung" der Ausdeutung unseres Denkens. Was wir im Außen erleben ist untrennbar verquickt mit der inneren Haltung, mit der wir uns einem Ort oder Menschen nähern. Wir erleben sozusagen die Auswirkungen unser eigenen Perspektiven. Dennoch erstaunt es mich immer wieder, wie die allgemeine mythologische Bedeutung des Arunachala, einschließlich seiner Zuschreibung zur Shiva-Energie, mit dem direkten, mystischen Erleben an diesem Ort in Einklang schwingt. Shiva wird - neben der Bedeutung als "regloses Bewusstsein" - auch mit der Kraft von Zerstörung und Vernichtung verbunden. Auf einer äußeren, relativen Ebene wird damit die Ureigenschaft der Vergänglichkeit angesprochen, die allen Objekten der phänomenalen Welt eigen ist. Im hinduistischen Verständnis wird diese in den drei kosmischen Funktionen beschrieben, die sich als Verbildlichung in den drei großen Gottgestalten illustriert finden: Brahman ist die erschaffende Kraft. Vishnu ist die erhaltende Kraft. Shiva ist die Kraft der Zerstörung. Ob wir den äußeren Kosmos, also Materie und Lebewesen, oder den inneren Kosmos, also Empfindungen, Gefühle und Gedanken, betrachten: Jedes Phänomen entsteht, scheint sich eine Weile zu halten und vergeht dann wieder. 

Heil der Zerstörung

Auf einer tieferen Ebene können wir die Shiva-Energie dabei durchaus als eine befreiende Kraft verstehen. Besonders betont wird dies im Kontext der Advaita-Philosophie und –Erfahrungslehre. Hier besteht der Schwerpunkt darin, die scheinbare Wirklichkeit der phänomenalen Welt als bloße Illusion zu entlarven. Sinn und Zweck dieser Erkenntnis liegt darin, den darunter liegenden Urgrund des ewig unveränderlichen Bewusstseins aufzudecken und wieder erfahrbar zu machen. Dabei spielt die Wirkkraft der Zerstörung - also Shiva - eine wesentliche Rolle. Denn erst wenn uns bewusst wird, dass alle Phänomene ausnahmslos der Auslöschung und damit der Vergänglichkeit unterworfen sind, verändert sich unsere Sichtweise der Wirklichkeit. Dann können wir einer Erforschung nachgehen, die auch Sri Ramana Maharshi seinen Anhängern als einen Königsweg zur Selbsterkenntnis oft Nahe gelegt hat: "Was bleibt immer dasselbe, während alle Phänome entstehen und wieder vergehen?" "Was ist beständig da, auch wenn alles verschwindet?" Wenn Ramana spirituellen Suchern solche Fragen stellte, zielte er damit auf eine Erforschung ab, die bloßes intellektuelles Nachgrübeln übersteigt. Die Fragen dienten - und dienen auch heute noch - als Eingangstor zu einer intensiven inneren Einkehr. Mit ihnen lud er ein, nach "Innen zu  tauchen" und dem beständigen ICH-ICH nachzuspüren. So bezeichnete er das bezeugende Gewahrsein, das sich der Vergänglichkeit bewusst ist, ohne ihr selbst unterworfen zu sein. Für diejenigen die dieser Selbsterforschung spürend nachgehen, kann dies eine jähe - oder auch allmähliche - Offenbarung einer überweltlichen, inneren Stille eröffnen. Shiva kann in dieser Beziehung auch als jene Energie verstanden werden, die alle verhüllenden Glaubenskonzepte an die Wirklichkeit der Erscheinungswelt zerstört und so die Erkenntnis des absoluten Bewusstseins frei sprengt.

Resonanz mit dem Lehrer

Die unerschütterliche Gestalt des Berges Arunachala stellt in diesem Zusammenhang eine Widerspiegelung des ewigen Bewusstseins im Reich der Materie dar. Und genau das wird an diesem Ort für viele Menschen spürbar. Der Berg steckt diejenigen, die ihn als Meditationsobjekt und Lehrer achten, an, in Resonanz mit dem jedem innewohnenden, unveränderlichen Bewusstseinsgrund zu treten und sich als dieser zu erfahren.

Bahnt sich diese Erkenntnis ihren Weg, wird auch deutlich, dass auch der Berg der Vergänglichkeit unterworfen ist. In makrokosmischen Dimensionen wird auch der Arunachala, samt unserer Erde, unserem Sonnensystem und allen Galaxien des Universums der Vernichtung anheim fallen. In mikrokosmischen Dimensionen erkennen wir, dass auch die Moleküle und Atome seines festen Granits keineswegs unveränderliche Formen besitzen. Sie sind ständigen Veränderungen unterworfen  und auf der subatomaren Eben sogar nichts als fließende Naturkräfte und Energien. Aus einer absoluten Perspektive muss man sogar sagen, dass auch die Existenz des ältesten und härtesten Bergmassives pure Illusion darstellt. Doch genau das ist die Funktion eines spirituellen Lehrers: Er ist eine Erscheinung in der Welt der Illusion, die als Illusion über den illusorischen Charakter der Welt hinaus auf eine höhere, ungetrennte und beständige Wirklichkeit verweist. Damit macht sich der Lehrer selbst überflüssig - im wahrsten Sinne des Wortes. Die Grenzen zwischen äußerem, hinweisendem Lehrer und dem sich im inneren erforschendem Schüler erweist sich als nie wirklich existent gewesene Trennungslinien. Es handelt sich um eine eingebildete Täuschung, wie die rot eingezeichneten Nationalgrenzen auf einem  Kontinent in einem Atlas der Erde. In der Natur gibt es diese Grenzlinien nicht. In Wahrheit ist der Kontinent eins. In Wahrheit ist alles eins.

Es ist höchster Genuss und vielleicht die größte Freude des Kosmos, wenn ein scheinbares Subjekt (Schüler) so sehr in Resonanz mit dem innersten Wesenskern eines scheinbaren Objekts (Lehrer) tritt, dass das Alles seiende stille Gewahrsein offenbar wird. Wer diese Stille einmal bewusst erfahren hat, weiß um den wesentlichen Sinn seines Daseins. Danach geht es nur noch darum, sich genau DEM hinzugeben und seine volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Om Namah Shiva Arunachala Jai Jai

 

Wenn es interessiert: Für 2015 und/oder 2016 sind weitere Indien-Retreats am Arunachala und am Ganges mit meiner Partnerin Padma und mir in Planung. Mehr dazu unter diesem Link:http://www.bodhisat.de/index.php/retreat-indien.html

Ein kleiner Reisebericht über einen Ausflug auf unserem letzten Ganges-Retreat 2013 findet sich hier: http://www.bodhisat.de/index.php/artikel-connection-v.html

 Torsten Brügge, Tirvuvannamalai, Süd-Indien 27.2.2014