Gedanken zum Sinn eines transchristlichen Weihnachtsfestes 

 

Weihnachten ist das auf der ganzen Welt interkulturell am weitesten verbreitete Fest. Auch in China, Japan, Neuguinea und Chile wird es gefeiert, und das auf diesem Fest am meisten gesungene und weltweit bekannteste Lied ist das deutsch-österreichische »Stille Nacht, heilige Nacht«. Erfreulich, dass hier mal ein deutsches Kulturgut, das nichts mit Krieg und auch nichts mit »Vorsprung durch Technik« zu tun hat, die Welt erobert hat – und obwohl christlich, enthält es einen transkulturellen Kern: die Stille.

 

Die unbesiegbare Sonne

Jesus war kein Verkünder der Stille. Das war eher Buddha, der aber in Europa erst seit ein bis zwei Jahrhunderten allmählich heimisch wird. Obwohl keiner den Geburtstag von Jesus kennt, wurde sein offizielles Geburtstagsfest schon im vierten Jahrhundert u. Z. im damals ins Christliche gewendeten Rom auf vier Tage nach der Wintersonnenwende gelegt. Ins Fest des »Sol invictus«, in die Verehrung der »unbesiegbaren« Sonne, die bis zum 21. 12. auf der Nordhalbkugel kontinuierlich immer tiefer sinkt und dann doch wiederaufersteht. In diese dunkelste und in vielen Ländern zugleich stillste Zeit des Jahres, bei uns an den Beginn der Rauhnächte. Im Salzburgischen, wo das Lied der »stillen, heiligen Nacht« entstand, war diese Zeit des Jahres oft verschneit und in den Wäldern war es so still wie sonst übers Jahr nie. 

 

Kern und Wesen des Religiösen

In den USA wird das Weihnachtsfest als »Merry Christmas« eher exaltiert und lärmend gefeiert. Dennoch hat es für viele Menschen auch dort in der Essenz etwas mit Stille zu tun. Das gefällt mir, denn die Stille ist der Kern und das Wesen des Religiösen. Hab ich das zu kategorisch gesagt? Zu wenig still? Dann muss ich es erklären. Stille ist die Abwesenheit von Tönen und Geräuschen. Töne und Geräusche, auch Worte, erklingen immer »in die Stille hinein«, sind von Stille umgeben, entstehen im Kontrast zu ihr (sonst könnte man sie ja nicht als solche erkennen) und verenden darin.

»Stille« bezeichnet die Leere, also die Abwesenheit von etwas, zwar nur im Bereich des Akustischen, aber die meisten Menschen verstehen sie zugleich als Abwesenheit von Inhalten auch im Bereich der anderen Sinne. Das weltweit beliebteste religiöse Fest und beliebteste Fest überhaupt hat also im Kern etwas mit Mystik zu tun. Nicht mit Mystizismus, dem Verebeln von Tatsachen, sondern mit Mystik: dem Vergehen oder Verschmelzen aller Formen im Formlosen. 

 

Mystik ist die Essenz

Um auch nur die nächsten fünfzig Jahre zu überleben, werden die Weltkulturen sich im Bereich des Religiösen auf etwas einigen müssen, das alle gut finden. Christen wie Muslime, Juden, Hindus und Buddhisten und auch die säkularen Atheisten müssen etwas Gemeinsames finden, gemeinsame Werte, Rituale, Feste. Wenn das keine erzwungenen oder geheuchelten Einigkeiten sein sollen, bleibt als Schnittpunkt nur die Mystik. Die ist zwar unbestritten der Kern des Religiösen und aller Religionen, sie lässt sich aber auch als Kern und Ausgangspunkt jeder säkularen Wahrnehmung verstehen. Auch wenn sie außer in ihren Auswirkungen nicht wissenschaftlich erfassbar ist, so ist sie doch der freundlich zugewandte und insgesamt unentbehrliche Gegenpol der Wissenschaft. 

 

Kitsch, Kommerz und Wahrheit

Deshalb meine ich, dass auch Weihnachten, trotz all der damit verbundenen Kommerzialisierung und trotz des dort so exzessiv verabreichten religiösen Kitsches in der Essenz geeignet ist, die Weltkulturen friedlich zusammen zu bringen, und zwar durch die Stille. Weihnachten ist Kommerz, aber nicht nur. Weihnachten ist Krippenkitsch mit Jesus und Engelein, Rentieren und rotbemäntelten Weihnachtsmännern aus Schokolade, die mit der Botschaft von Jesus so wenig zu tun haben wie die heutige KP von China mit der Philosophie von Marx und Engels oder wie das Weihnachtsgeschäft mit der Aussage, dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel kommt – und doch gibt es inmitten von alledem eine Stille in dieser Nacht, die als heilig empfunden werden kann.

 

Das »Fest der Liebe«

Ich selbst habe in den vergangenen zwanzig Jahren Weihnachtsfeste eher vermieden. Ich habe zu Weihnachten nichts verschenkt und wollte nichts geschenkt bekommen, ich mag diese Stress verursachenden Konsumexzesse nicht. Auch die Gelage um die Weihnachtsgans, während unter dem Christbaum der Verpackungsmüll den Wohnzimmerboden bedeckt, und die Völlerei mit Alkohol und Süßigkeiten mag ich nicht und auch nicht die Tage, in denen das Familienleben sich vor allem vor dem Fernseher abspielt und im Streit, welches Programm einzustellen ist. So wundert es mich auch nicht, dass zu Weihnachten, zum »Fest der Liebe«, die häusliche Gewalt ihren jahreszeitlichen Höhepunkt erreicht. Dennoch: Gehe einmal am 24. 12. ein, zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen! Die sind dann so still, wie sonst nicht mal während des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft. Hinter den Fenstern die Lichter, manchmal sogar Gesang, und inmitten all des Lärms und der Stimmen aus den Fernsehern ist auch Kinderlachen und Freude zu hören. 

 

… und des Friedens

Weihnachten kann auch ein Fest der Stille sein. Und wenn nicht hier, in diesem Fest, das schon so viele kulturelle Schranken überwunden hat, wo sonst werden die Weltkulturen denn Frieden finden? Weihnachten wird auch von Muslimen, Buddhisten und Kommunisten gefeiert. Wenn Liebe nicht nur ein Wort ist, das den Weihnachtskommerz antreibt und dann in der Enttäuschung über ein falsches Geschenk oder die vermisste Wahrhaftigkeit an der Realität des Heiligen Abends anbrandet, so wie die Gischt der hohen Wellen aus den Weiten des Meers unserer Sehnsüchte an der Hafenmauer des Alltags, wo sonst sollen wir denn Frieden finden, wenn nicht hier? 

Retreats sind gut, Rückzug ist gut, Innerlichkeit ist gut, aber auch ein solches Fest, das ja nicht nur Kult und Kommerz ist, sondern auch eine Party, sollte und kann uns beheimaten. Ist es doch der Verlust an Heimat und die vermisste Liebe, was für so viele Menschen Weihnachten zu einem Fest des Schmerzes, der Heuchelei und Trennung macht. Ohne Stille ist Heiligkeit eben nicht zu finden. 

Ohne Mystik gibt es nichts tief Religiöses und kein bei-sich-selbst-Ankommen – und das alles gibt es nicht ohne eine innere Stille, die auch äußeren Lärm erträgt, und die, wenn der Lärm abebbt, wieder ganz bei sich ist.