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Oliver Bartsch

Oliver Bartsch

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Posted by on in Wolf Schneider

ein Blogbeitrag von Torsten Brügge

Auf einen vor Lebensgefahr flüchtenden Menschen aus den "Südstaaten" kommen 99 in relativ sicheren Verhältnissen lebende Menschen in den "Nordstaaten"

Dieser Tage werden die Nachrichten von Bildern beherrscht, auf denen immer wieder große Mengen von Flüchtlingen zu sehen sind. Dies erweckt leicht den Eindruck einer "Überschwemmung" mit "Flüchtlingswellen" der westlichen, europäischen Gesellschaft mit flüchtenden Menschen aus südlichen Krisenregionen.

Ich kam auf die Idee, die tatsächlichen Zahlen aus einer größeren globalen Perspektive zu betrachten und fragte mich: Wie viele Flüchtlinge gibt es weltweit? Und wie steht diese Zahl im Verhältnis zu der Einwohnerzahl jener Staaten, die die Kapazitäten für eine Aufnahme der Flüchtlinge hätten? Rechnen war angesagt.

Meine 13 Punkte für Mathe im Abi-Zeugnis sind Jahrzehnte her. Die synaptischen Verbindungen in meinem Gehirn, die es im Alter von 16 noch liebten, sich in mathematischen Beweise oder komplizierten Integralrechnungen zu verzweigen, sind wohl längst wieder verschrumpelt. Doch etwas Addition und auch ein wenig Prozentrechnung schafft mein Geist heutzutage noch gerade so eben.

Ich gebe zu: Folgende Zahlen entstammen einer Kurzrecherche von ca. 2 Stunde im Internet und dürfen gerne korrigiert werden. Auch die simplen Rechenbeispiele sind weder hohe Mathematik, noch tun sich durch sie realpolitische Lösungen auf. Aber trotzdem will ich die Zahlenspiele hier aufführen. Das könnte hitzige Gemüter, die angesichts der  anstehenden "Flüchtlingswellen" - oder vielleicht besser den "Flüchtlingstropfen" -  dazu neigen, in Panik zu geraten und darüber manchmal auch in eine aggressive Haltung Flüchtlingen gegenüber zu verfallen, vielleicht etwas beruhigen.

Hier also meine Rechenspiele: Auf unserer Mutter Erde leben im Moment ca. 7 Milliarden Menschen. Nach Bericht der UNHCR* sind davon ca. 60 Millionen Menschen auf der Flucht oder haben einen "Flüchltings ähnlichen" Status. Davon haben ca. 80 bis 85 % nicht die Möglichkeit, ihre Region oder ihren Staat zu verlassen - es sind also "Binnenflüchtlinge". Gehen wir deshalb mal von 20% "mobilen" Flüchtlingen aus. Nach Adam Riese kommt man dann auf 12 Millionen "mobile Flüchtlinge" weltweit. Deren "Mobilität" sieht traurigerweise oft so aus, dass sie sich auf brüchigen Schlepperbooten oder in dubiosen  Schlepperlastwagen in höchste Lebensgefahr begeben müssen - und nicht selten kommen sie darin um. Wenn sie es doch bis an die Grenzen der Zufluchtsländer schaffen, müssen sie sich oft im Tränengasnebel durch rasiermesserscharfe Stacheldrahtgrenzzäune zwängen.

Nehmen wir mal an, all diese 12 Millionen Flüchtlinge - und für den Großteil stimmt das - kommen aus den meist armen und krisengeschüttelten Südstaaten und bitten in den meist wesentlich wohlhabenderen Nordstaaten um Asyl. Die Gesamtzahl der Einwohner in den - von mir unten aufgeführten Nordstaaten- , zu denen die Flüchtlinge meist wollen, lautet: 1402 Millionen (Addition von: 742 Millionen Europa, 530 Millionen  Nordamerika, 130 Millionen Japan)

Setzt man die weltweit 12 Millionen mobilen Flüchtlinge zu den 1400 Millionen Einwohnern der Nordstaaten ins Verhältnis, ergibt sich die beeindruckend kleine Zahl von 0,85%. IM KLARTEXT: Würden alle Flüchtlinge 2015 weltweit gleichmäßig gemäß der nationalen Einwohnerzahl auf alle relevanten Nordstaaten aufgeteilt, müssten jeweils 99 Bürger einer Nation ungefähr EINEN Flüchtling aufnehmen.

(Ich sage hier übrigens nicht, dass ein solcher Verteilungsschlüssel gerecht wäre. Fairer wäre zum Beispiel auch die Wirtschaftskraft einzelner Staaten einzubeziehen.)

Diese Zahl macht doch eines deutlich: Vorausgesetzt es gäbe eine internationale Solidarität, müsste es locker möglich sein, dieses EINE PROZENT Flüchtlinge aufzunehmen, ohne dass es dadurch zu erheblichen Verwerfungen im sozialen Gefüge der Nordstaaten kommen sollte?

Und selbst wenn Deutschland wegen der Berücksichtigung seiner Wirtschaftskraft vielleicht zwei oder drei Flüchtlinge auf 100 Einwohner aufnehmen müsste, wäre das wohl kaum der Untergang unserer Sozialsysteme. Hinzukommt das Asyl ja auch bedeutet, dass bei einer Beruhigung der politische Situation in den Fluchtländern, die Asylanten meist selbst wieder zurückkehren wollen oder auch zurückreisen müssten.

Sicher stellt es eine enorme Herausforderung da, die Flüchltingstropfen wirklich fair auf alle Nationen - und bitte auch mit auf die USA - zu verteilen. Denkbar wäre es aber allemal.

Mit diesen Zahlen will ich nicht in Abrede stellen, dass sich die Herausforderung in den nächsten Jahren zahlenmäßig wesentlich größer darstellen könnte. Auch der Sachverhalt, dass eine Gesellschaft ab einem gewissen Grad der Aufnahme von Flüchtlingen überfordert sein könnte, muss diskutiert werden. Wesentlicher scheint mir sogar, die Ursachen für die Krisen, welche diese Flüchtlinsbewegungen auslösen, zu erkunden und Lösungen zuzuführen. Dabei würden wir vermutlich herausfinden, dass die "Nordstaaten" eine erhebliche Mitverantwortung für die Entstehung von Krisen und Armut in den südlichen Regionen tragen.

Hier nur mein Plädoyer für den Moment: Lasst uns die "Flüchtlingsbewegungen" immer mal wieder im Gesamtverhältnis zu der Menge von Menschen sehen, die - Gott sei Dank - in relativ sicheren Verhältnissen leben und das Potential hätten zu helfen.

Torsten Brügge, Hamburg 11.9.2015

* http://www.unhcr.de/home/artikel/f31dce23af754ad07737a7806dfac4fc/weltweit-fast-60-millionen-menschen-auf-der-flucht.html

 

 

 

 

 

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Posted by on in Torsten Brügge

ein Text von Torsten Brügge und Padma Wolff

Dieser Tage wird einem tragischen Flugzeugabsturz viel Aufmerksamkeit zuteil. Dabei kamen am 24.3.2015 150 Menschen ums Leben. Die meisten Deutsche und Spanier, darunter 16 Schülerinnen und Schüler. Der Schock und der Schmerz der Hinterbliebenen stößt auf große Anteilnahme. Unzählige Menschen fühlen mit ihnen. Die Betroffenheit in Deutschland, Spanien, Frankreich und darüber hinaus ist riesig. Angehörigen der verstorbenen Passagiere, Mitschülern und den Kollegen des getöteten Flugpersonals wird psychologische Krisenbegleitung angeboten. Es wird viel getan, um das Leiden der Hinterbliebenen in einem natürlichen Trauerprozess erträglicher zu machen und in Richtung einer heilsamen Integration zu bahnen. Das ist gut so. Der Umgang mit dem Schicksalsschlag von Seiten der Politiker, Berichterstatter, Helfer und anderen Beteiligten kommt uns fast schon vorbildhaft vor. Verständnis wird spürbar. Privatsphäre wird respektiert. Gefühle dürfen fließen. Im Schmerz zeigt sich sogar tiefe Verbundenheit, wie auch Herr Gauck anerkannte. Hier kommt der humanistische Geist unserer westlichen Gesellschaft wohltuend zum Ausdruck. Das berührt uns positiv.

Kein Aufwand, keine Kosten werden gescheut, um die Ursachen herauszufinden. Lösungsversuche werden vorgeschlagen, damit so etwas nicht wieder passieren kann.

Zugleich kommen uns die vielen Toten in den Sinn, die in unseren wohlhabenden Ländern immer wieder nur allzu leicht vergessen werden. Zahlen sprechen da eine deutliche Sprache: Bei dem Flugzeugabsturz kamen an einem Tag 150 Menschen ums Leben. Am selben Tag starben - wie an jedem anderen Tag im Jahr - ca. 8000 Kinder unter fünf Jahren weltweit an den Folgen von Unterernährung (Zahlen von 2013*). Das sind schier unvorstellbare Zahlen: JEDEN TAG sterben weltweit durchschnittlich 8000 KINDER unter fünf Jahren an Hunger. Und nochmal: JEDEN TAG 8000 KINDER! Das sind 2,9 Millionen im Jahr. Und das sind nur die Kinder unter fünf Jahren. Die Anzahl der älteren Kinder und Erwachsenen, die verhungern, sind uns aktuell nicht bekannt.

Wie oft hören wir davon in den Tagesnachrichten? Wer spricht darüber seine Anteilnahme und sein Mitgefühl aus? Welche Politiker reisen zu den Sterbeplätzen dieser Kinder? Welche Journalisten berichten über diese tragischen Schicksale? Welche Medien widmen dieser Katastrophe ihre Schlagzeilen? Welche Hilfe erhalten die Geschwister, Eltern und Freunde der verstorbenen Kinder? Und was unternehmen wir und unsere Politiker an ernsthaften Bemühungen dagegen? Wo bleiben die Schweigeminuten, Trauergottesdienste und Vorbeugemaßnahmen gegen die [tägliche!] Wiederholung dieses Entsetzens?

Anteilnahme am Leiden direkt bei uns vor Ort ist wichtig. Wir wollen uns keineswegs dagegen aussprechen. Im Gegenteil: Wie wäre es, wenn wir dieses Mitgefühl ab jetzt sogar ausweiten könnten? Es ist auch nur natürlich, dass Mitgefühl leichter zugänglich wird, wenn uns das Unglück näher betrifft, wenn uns bewusst wird, wie leicht es auch uns und unsere Liebsten hätte treffen können. Nur wie wäre es, diese Gelegenheit auch zu nutzen, uns das Leiden "da draußen im Rest der Welt" von Zeit zu Zeit ebenso ins Bewusstsein zu rufen. Was wenn uns diese Menschen genauso nahe stünden? Wenn wir ebenso leicht in ihre Situation hätten hineingeboren werden können? Genau genommen kennen die meisten von uns sie nicht weniger persönlich als die Toten dieses Flugzeugabsturzes.
 
Wie wäre es, wenn die Hauptnachrichtensendungen die nächsten Tage jedes Mal mit dem Aufmacher beginnen würden: "Heute sind wieder 8000 Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung gestorben." Nur eine Woche lang nur dieser eine Satz. Jeden Tag neu. Jedes Mal mit echter Anteilnahme. Jedes Mal mit einer Träne mehr im Auge. Vielleicht stellen sich am Ende dieser Woche ein paar mehr von uns die Frage: "Was kann ich tun, um diese Zahl zu verringern?" Und sei es noch so klein, was wir dazu beitragen können. Aber wollen wir nicht zumindest unseren Teil dazu tun, dass dieses Leiden so vieler unserer Mitmenschen nicht weiter einfach totgeschwiegen wird, als ob es uns nichts anginge?

Also, jetzt wissen wir, dass wir es können: Mitfühlen und Anteilnehmen. Jetzt noch mal für alle Menschen bitte!

 

Torsten Brügge & Padma Wolff, Hamburg 28.3.2015


*(Durchschnittszahlen 2013 Quelle: Levels & Trends in Child Mortality, UNICEF 2013)

Welthungerkarte 2013
Link zur Karte in hoher Auflösung (als PDF)
 

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Posted by on in Wolf Schneider

Da schlachten sie einander ab – in Syrien, im Irak und an so vielen anderen Orten in der Welt gibt es Wirtschafts- und Religionskriege. Jetzt schlägt der Hass bis nach Paris durch und metzelt ausgerechnet diejenigen nieder, die das vielleicht einzige, was uns aus diesem Wahnsinn retten kann, unverdrossen vertreten: den radikalen, vor keinem Tabu zurückschreckenden Humor. 

Was bringt die Menschen eigentlich zu all diesen verrückten Glaubensvorstellungen: Jihad, Paradies, Hölle, Jüngstes Gericht? Dann stellen sie auch noch Gesetze auf, die aus dem Jenseits begründet werden und beharren darauf, damit Recht zu haben. Wer nicht erfahren hat, was Buddha und Jesus, Rumi und Meister Eckhart, Walt Whitman und Osho erfahren haben, wird nicht verstehen, was religiöse Menschen antreibt. Und was einen Abu Bakr al-Baghdadi, den Kalifen des IS in Syrien, von einem Dalai Lama unterscheidet. Beides sind hochreligiös motivierte Menschen, der eine bringt ungeheuren Schaden über die Menschheit, der andere unermesslichen Segen. 

Warum wird das nicht erforscht? Warum gibt es keine wissenschaftlichen Institute, die sich damit befassen, keine TV-Serien, Zeitschriften, Welt-Konferenzen hierzu? Auch in den Antworten auf das Massaker von Paris, die man jetzt überall liest, dämmert kaum irgendwo eine Lösung auf. Die Gewalt, der wir im Islam begegnen, ist auch schon in der jüdischen und christlichen Religion beheimatet. Das christliche Alte Testament (die jüdische Tora), strotzt vor Gewalt, ebenso wie der Koran. Solange noch Mächtige irgendeine dieser alten Erzählungen für eine Heilige Schrift halten, der wir heute zu folgen hätten, wird es religiöse Kriege geben und religiös begründete Massaker. Und sei es, wie so oft bei Kriegen und anderen Schandtaten, dass die Gründe wirtschaftliche sind, man die eigenen Motive aber aufwertet mit der Metaphysik einer anerkannten sozialen Gruppe. 

Die drei gewalttätigsten Religionen der Erde beziehen sich alle drei auf Stammvater Abraham, der dafür geehrt wird, dass er fast seinen eigenen Sohn abgemurkst hätte, weil ihm in einer Vision ein Phantom erschien, welches das verlangte. Kein Wunder, dass diese drei Religionen gewalttätig sind! Wir sollten lieber Väter und Mütter ehren, die ihren Kindern niemals sowas antun würden, egal welche Visionen sie haben. 

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Posted by on in Torsten Brügge

von schmutziger Massenvernichtung zu sauberer Energie

In den Tagesnachrichten vom 20.10.15 ist folgende Meldung aktuell: "Deutschland hat im ersten Halbjahr 2015 fast so viele Rüstungsgüter ins Ausland verkauft wie im ganzen Jahr zuvor. Das ist eine wesentliche Erkenntnis aus dem Rüstungsexportbericht für Januar bis Juni 2015." Der folgende Blogbeitrag von Ende 2014 bleibt damit hoch aktuell:

29. Dezember 2014:

Gerade zu Weihnachten sind Moral-Predigten eher nicht angebracht. Doch dieses Thema lässt mich nicht kalt: Deutschland ist der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Zwar mit großem Abstand zu den USA und Russland, aber diese zweifelhafte Bronzemedaille ist "uns" im Moment sicher.

Traurige Rekorde

Allein von den "guten deutschen" G3-Sturmgewehre sind heute 15 bis 20 Millionen Stück in der Welt im Umlauf und werden zum Töten von Menschen eingesetzt. Noch „besser“ ist das G36. Mit ihm kann man ein Menschleben per gezieltem Kopfschuss auf 400 Meter Entfernung auslöschen. Gerade bei den Kleinwaffen sind die deutschen Waffenbauer ganz groß. Doch das harmlose „klein“ hat es global gesehen in sich. Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan erklärte 2006: „Auf Grund des Gemetzels, das sie anrichten, könnten Kleinwaffen tatsächlich treffend als ‚Massenvernichtungswaffen’ bezeichnet werden.“

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Quelle: Kleinwaffen sind Massenvernichtswaffen
http://sicherheitspolitik.bpb.de/konventionelle-waffen/hintergrundtexte-m5/kleinwaffen-die-wahren-massenvernichtungswaffen
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Doch die deutsche Rüstungsindustrie kann viel mehr. Panzer, Raketen, U-Boote und Flugzeuge, militärische Überwachungs- und Aufklärungssystemen, Computerlösungen für Kriegsprobleme und militärische Dienstleistungen Runden das Rüstungsexportpaket ab. 2006 lieferte Deutschland an 141 Länder Waffen (Zahl gesichert). 2013 waren es wohl „nur“ ca. 110 (Zahl ungesichert). Zur Erinnerung: Wir haben im Moment 193 Staaten auf diesem Planeten. Nach Adam Riese hat Deutschland 2006 an ca. 70% aller Staaten Waffen geliefert. Darauf soll ich als Deutscher stolz sein? Tut mir Leid. Dafür würde ich mich eher in Grund und Boden schämen, würde ich mich mit meiner nationalen Zugehörigkeit identifizieren.


Terrorzucht durch Bombenwahnsinn
 
Und wofür werden diese Waffen eingesetzt? Im Zwischenbericht der Bunderregierung zum Waffenexport im ersten Halbjahr 2014 steht unter zahlreichen Empfängerländern an erster Stelle – ratet mal! - ISRAEL. Für welchen Wahnsinn diese deutschen Waffen mit eingesetzt werden haben wir ja gerade im Sommer 2014 gesehen: Die militärische Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und Israelis – oder besser der „Bombensturm auf Gaza“. Auf Spiegel-Online gibt es eine Grafik zur Bilanz der Opferzahlen und Zerstörungen: Todesopfer auf palästinensischer Seite rund 2000. Todesopfer auf israelischer Seite ca. 70. Auf das Verhältnis von Leicht- und Schwerverletzten schauen wir lieber erst gar nicht. Es würde vermutlich um ein Vielfaches mehr zu Ungunsten der Palästinenser ausfallen. Die Israelis werden durch die „eiserne Kuppel“ geschützt. Dieser Raketenschirm ist sehr effektiv. Er fängt bis zu 90% (Zahl von 2012 / heute wahrscheinlich noch mehr) der palästinensischen Raketenangriffe direkt ab. Der Rest landet meist in unbewohntem Gebiet. Wenn trotzdem Israelis getötet oder verletzt werden, ist jeder Einzelfall davon zu bedauern und zu betrauern. Aber womit fangen die Menschen im Gaza-Streifen die tonnenweise fallenden Bomben der Israelis ab? Diese Menschen werden mal gerade von dünnen Betondecken geschützt. Die Explosion der Bomben fegen diese mit Leichtigkeit weg. Dann durchbohren wie Zahnstocher weiche Butter Bombensplitter Menschfleisch. Manche spielende Kinder am Strand wurden auch mal ganz direkt von israelischem Beschuss zerfetzt.
Und das ist ja nicht alles: In Gaza wurden in dieser Zeit  knapp 8000 Gebäude von israelischen Bomben getroffen. Davon ca. 3700 vollkommen zerstört,  1900 schwer geschädigt und 2100 leicht beschädigt. Die israelischen Gebäudeschäden zeigt die Grafik von Spiegel-Online gar nicht erst auf – ihre Zahl ist vermutlich vernachlässigbar.

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Quelle: Die Welt – Nov 2012 - Eiserne Kuppel – Der modernste Raketenschirm der Welt
http://www.welt.de/politik/ausland/article111262008/Eiserne-Kuppel-der-modernste-Raketenschirm-der-Welt.html
Quelle: Spiegel-Online / Zerstörungen in GAZA 2014
http://www.spiegel.de/politik/ausland/gaza-streifen-grafiken-ueber-zerstoerung-und-zu-opferzahlen-a-988399.html
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Wie kann man eine solche Unverhältnismäßigkeit von Vernichtung und Zerstörung rechtfertigen? Tut mir Leid, mir fällt da nichts ein. In mir lösen diese Zahlen immer mal wieder verzweifelte Wut, Trauer und Hilflosigkeit aus. Und wenn ich dann noch in Betracht ziehe, dass deutsche Waffen diesen Wahnsinn unterstützen, macht mich das noch betroffener!

Ich bin mir auch sicher, dass solche brutale Gewalt nur wieder mehr Gegengewalt hervorruft. Der Journalist Jürgen Todenhöfer nennt diese Taktik „Terrorzuchtprogramm“. Deshalb ist es langfristig auch für die Israelis eher schädlich, wenn sie derart unverhältnismäßig töten, verletzen und zerstören.
Der Mainstream der deutschen Massenmedien lässt solche Fakten links liegen oder gewichtet sie viel zu wenig. Da werden dann schon Opfer- und Zerstörungszahlen angegeben, aber oft ohne die dahinter stehende Unverhältnismäßigkeit offen zu legen. Deshalb möchte ich diese hier ins Bewusstsein rufen. Die Betroffenheit – so meine Zuversicht - kann dann manchmal zu neuen Perspektive und politischer Orientierung führen.

Rüstungswirtschaft ade

Wie wäre es mit einer frischen aus dem Slogan der Friedensbewegung der 80er Jahre abgewandelten Redewendung, die auch eine politisch-wirtschaftliche Neuausrichtung einfordert: „Sturmgewehre zu Windkraftanlagen“. Wir könnten es auch auf Demo-Plakate schreiben:

„S T U R M G E W E H R E    Z U    W I N D K R A F T A N L A G E N“

Das ist gar nicht so unrealistisch: Die Frankfurter Rundschau veröffentlichte einen Artikel über die Bedeutung der deutschen Rüstungswirtschaft. Sie kommt zu dem Schluss: „Trotz Milliardenumsätzen ist die deutsche Rüstungsbranche eher unbedeutend für die Gesamtwirtschaft.“  Von 42 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland kommt die Rüstungsindustrie nur auf einen Anteil zwischen 0,2 und 0,8 Prozent.

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Quelle: Frankfurter Rundschau -
http://www.fr-online.de/politik/waffenexporte-deutschlands-waffenschmiede,1472596,28166416.html
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Wie wäre es, wenn man dieses Arbeits- und Wirtschaftspotential auf andere Wirtschaftsbereiche umfokussieren würde? Wohin? Eine äußerst sinnvolle Alternative wären erneuerbare Energien. So weist zum Beispiel der Historiker, Friedens- und Energieforscher Dr. Daniele Ganser seit Jahren auf einen wesentlichen globalpolitischen Sachverhalt hin: „Bei immer mehr Menschen verfestigt sich die Einsicht, dass Erdöl endlich ist und dass unser täglicher Verbrauch von 88 Millionen Fass (das sind 44 Supertanker TÄGLICH!! Ergänzung des Blogautors)  längerfristig nicht stabilisiert werden kann. Erdölkriege wie im Irak 2003 haben mehr als 100'000 Tote gefordert. Und auch der Klimawandel zeigt deutlich: Wir sollten das Erdöl verlassen, bevor es uns verlässt.“ Er plädiert dafür sobald, wie möglich lokal, national und global auf erneuerbare Energien umzusteigen. Das sieht er auch als Beitrag zu globaler Friedenarbeit. Ich finde er hat Recht!

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Quelle: Artikel von Daniele Ganser Jan. 2013 auf www.ee-news.ch
„Peak Oil ist beim konventionellen Erdöl erreicht“
zum Download auf http://www.danieleganser.ch/presse.html
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Der Finanz- und Wirtschaftsexperte Dirk Müller macht im zweiten Teil seines Buch „Showdown: Der Kampf um Europa und unser Geld“ deutlich, welche riesigen wirtschaftlichen Potentiale in der Investition in erneuerbare Energie liegen. Dafür sprechen viele Vorteile: Nachhaltige Vermeidung von Klima schädlichen Gasen und anderen Umweltschäden. Energieunabhängigkeit von ausländischen Energiequellen. Innovationsaufbau von deutscher Expertentechnik mit dem Potential des langfristigen Exports in andere Staaten. Dazu macht Müller auch gleich handfeste Vorschläge der finanziellen Umsetzung, wie z.B. die Schaffung von Energiefonds mit einer staatlichen Risikoabdeckung und vielen anderen Ideen.
Die Umsetzung einer Versorgung mit erneuerbaren Energie wird in Deutschland viele Herausforderung mit sich bringen. Für Energieerzeugung, Energiespeicherung, der nationalen Energieverteilung bis zu den verschiedenen Endverbrauchern braucht es neue Ideen und zahlreiche neue Lösungsansätze. Dazu wird die Branche der erneuerbaren Energien Erfinder, Ingenieure, Maschinenbauer, Programmierer, Handwerker, Arbeiter und Verwaltungskräfte brauchen. Diese sind doch in der Rüstungsbranche massig zu finden. Wären all diese Menschen dort nicht vielleicht viel glücklicher, wenn sie zu gemeinnützigen, äußerst sinnvollen Zielen beitragen können, als Maschinen zur immer effizienteren Tötung anderer Menschen zu erfinden und zu bauen. Ich glaube: Ja, ja, ja!
Und ehrlich gesagt: Wenn bei mir noch mal Nationalstolz aufkommen sollte, dann doch bitte für ein Deutschland, dass es geschafft hat, die Waffenherstellung einzustellen und stattdessen sich selbst und andere mit sauberer und günstiger Energie versorgen kann. Das wäre mal was! Dafür würde ich sogar auf den Titel „Fußballweltmeister“ für „uns“ in den nächsten 3000 Jahren verzichten.

Torsten Brügge, Baden-Baden 29.12.2014

Mögen alle Wesen ihre wahre Natur erkennen.
Mögen alle Wesen in Frieden leben.

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Posted by on in Torsten Brügge

Liebe Blog-Leser,

als kleines "Weihnachtsgeschenk" von der Connection und mir hat Wolf Schneider schon jetzt der Online-Veröffentlichung meines gerade in der Print-Version der aktuellen Ausgabe der "connection spirit" erschienenen Artikels zugestimmt. Das Thema "Frieden" passt ja auch gut zu den kommenden Feststagen.

Titel des Artikels: "Frieden - innen und außen. Was die Politischen von den Spirituellen lernen können – und umgekehrt"

Ich wünsche allen Lesern ein friedvolles Weihnachtsfest, die Entdeckung und Vertiefung von innerem Frieden, der dann auch von ganz allein ins Außen ausstrahlt.

herzlich

Torsten Brügge

Im folgenden ist der Artikel als Textversion aufgeführt. Er kann aber auch als PDF mit grafischem Layout hier heruntergeladen werden.

Frieden - innen und außen.
Was die Politischen von den Spirituellen lernen können – und umgekehrt


Die Kluft ist uralt. Schon als Diogenes zum Griechenherrscher Alexander sagte »Geh mir aus der Sonne«, waren die einen mehr innenweltorientiert (so sehr Diogenes auch die Sonne schätzte), die anderen mehr außenweltorientiert. Auch heute noch ist das so, und der Respekt voreinander ist meist sehr gering. Unsere heutige prekäre Weltlage verlangt jedoch, dass die beiden Seiten einander nicht mehr verachten. Die Meditierer können von den Aktivisten lernen und die politisch Engagierten von den Meditierern

Leute, die sich für das Wohl der Menschheit engagieren, könnte man – so scheint es mir manchmal – in zwei Lager aufteilen: »die Politischen« und »die Spirituellen«. In beiden Gruppen sollte man zunächst zwischen weniger hoch und höher entwickelten Formen des Engagements unterscheiden.
Unreife politische Einstellungen spiegeln sich in fundamentalistischer Geisteshaltung wider. Hier werden die eigenen Grundsätze als die einzig wahren verstanden. Man hält an vorgegebenen Regeln und Ideologien fest oder fordert eine Rückbesinnung auf diese ein. Wer das akzeptiert, verhält sich gesellschaftskonform und genießt Unterstützung. Die Gesinnung zu hinterfragen ist unerwünscht. Fremde Überzeugungen lässt man nicht gelten. Andersdenkende werden ausgeschlossen. Im Extremfall kämpfen Fundamentalisten mit radikalen und gewalttätigen Mitteln um gesellschaftliche Vormacht.

Reife Politik
Menschen mit einer reifen politischen Einstellung verfügen über eine offene Grundhaltung. Sie hinterfragen bestehende Denkmuster und lassen Kritik an eigenen Wertvorstellungen zu. Sie interessieren sich für die Sichtweisen anderer. Sie wollen sie nachvollziehen, um ihren eigenen Horizont zu erweitern. Dadurch entwickeln sie Toleranz auch für abweichende Meinungen. Reife politische Entscheidungsfindung erwächst aus argumentativem Austausch. Man schaut über den Tellerrand der eigenen Gruppeninteressen hinaus und bezieht das Wirken komplexer Systemzusammenhänge ein. Widersprüche zwischen Thesen und Antithesen lösen sich in umfassenderen Synthesen auf. Geschieht dies nicht, bleibt die Möglichkeit zu demokratischer Mehrheitsbildung.
 
Befreiende Spiritualität
Auch im Feld der Spiritualität gibt es unreife und reife Ausformungen. Erstere sind von egozentrischen Wunscherfüllungsfantasien durchzogen. Hier herrscht magisches Denken vor. Man glaubt, alles Ersehnte – quasi per Knopfdruck – kraft der eigenen Gedanken herbeizaubern zu können. Oder solche Allmachtsfantasien werden nach draußen projiziert, dann sollen Götter oder gottgleiche Gurus einen erlösen. Dazu muss man ihnen gefallen und sich unterwerfen. Zu dieser Art von Spiritualität gehört die Faszination für Symbole und Rituale. Religiöse Schriften werden wortwörtlich interpretiert. Wer daran glaubt, wird selig. Alle anderen werden als ungläubige Zweifler verbannt. Extreme Verzerrungen unreifer Spiritualität führen zu Heiligem Krieg und Terror im Namen der eigenen Gottesbilder.
Das Integrale Modell nach Ken Wilber bezeichnet diese Art der Spiritualität als prärational (prä = vor, ratio = Vernunft). Manchmal wird sie mit reifer, transrationaler (trans = über/hinaus) Spiritualität verwechselt, weil beide Formen einen nicht-rationalen Charakter haben. Doch beide unterscheiden sich wie Tag und Nacht. Reife spirituelle Erkenntnis achtet den Wert der Vernunft, entlarvt aber auch ihre Begrenztheit. Sie gewinnt einen befreienden Abstand zu Denkprozessen. Die Ratio wird vom Herrscher im Kopf zum Diener einer höheren Intelligenz. Dabei wandeln sich Entweder-oder-Standpunkte zu – manchmal paradox erscheinenden – Sowohl-als-auch-Sichtweisen. Weitsicht und Intuition blühen auf. Schließlich erfährt Bewusstsein sich selbst jenseits von gedanklichen Reflexionen. Im Aufleuchten stillen Gewahrseins kommen sämtliche trennenden Vorstellungen zur Ruhe. Sogar unser sonst fragloses Ich-Gefühl, eine von der Welt und anderen getrennte Person zu sein, wird als Illusion erkannt. Der Glaube an seine Realität löst sich im Erleben eines alles verbindenden Einsseins auf. Daraus erwächst umfassendes Mitgefühl. Der persönliche Wille gibt sich dem größeren Gefüge des göttlichen Plans hin. Sowohl wiederauftauchende Selbst- und Weltbilder als auch persönliche Bedürfnisse werden jetzt in der Weiträumigkeit innerer Freiheit und natürlicher Erfüllung erfahren.

Egozentrische Weicheier
Eigentlich sollte man meinen, dass Menschen mit einem reifen politischen bzw. spirituellen Engagement viel gemeinsam hätten. Doch noch in jüngster Vergangenheit konnten sich beide Lager häufig nicht riechen. Klischees führten zu gegenseitiger Abwertung (wenn hier im Folgenden von »den Spirituellen« und »den Politischen« die Rede ist, sind damit die unreifen Formen von Engagement gemeint):
Die Politischen sahen die Spirituellen als eine Art egozentrischer Weicheier. Sie warfen ihnen vor, auf Yogamatte und Meditationskissen ihre Bestellungen beim Universum bloß für ihr eigenes Wellness-Glück zu tätigen. Bedürfnis nach innerer Versenkung mit einem Buddhalächeln auf den Lippen? Das sind doch bloß Sehnsüchte nach der Rückkehr in die Gebärmutter. Gewaltfrei kommunizieren? Das ist feige Vermeidung echter Konfrontation. Mit Schattenarbeit die eigenen Gefühle annehmen? Nichts als unnütze Nabelschau. Im Urlaub zum Schweige-Retreat ins Kloster? Ist verantwortungslose Weltflucht. In der Arbeitspause die TAZ liegen lassen und auf den Atem achten? Noch so ein bequem eigennütziger Spinner. Auf einen Satz wie »Der Yogi im Himalaya trägt genauso zum Weltfrieden bei wie der Friedensaktivist bei Amnesty International« erntete der Spirituelle ein verächtliches Kontra: »Noch alle Tassen im Schrank? Wer wirklich Eier in der Hose hat – oder einen gesunden Eierstock im Rock –, geht auf Demos, besetzt Häuser oder setzt sich sonstwie konkret für Gerechtigkeit und Freiheit ein!«

Zwangsaktivisten mit Helfersyndrom
Auch die Spirituellen konnten gut über die Politischen lästern: Das sind doch alles Zwangsaktivisten mit Helfersyndrom. Gegen das Leid in der Welt ankämpfen? Wie unbewusst. Hehre politische Motive sind allein auf unverarbeitete, seelische Schattenanteile zurückzuführen. Der Spiri ist sich sicher: Politische Aktivisten bekämpfen im Außen (der Spiri-Jargon spricht gerne von »dem Außen«), was sie im Inneren nicht integrieren können. Gelassenheit und Glück unabhängig von äußeren Bedingungen in sich selbst finden? Ist bei diesen Getriebenen doch Fehlanzeige. Stehen ihnen Frust und Unzufriedenheit nicht ins Gesicht geschrieben? Voller Groll und Ängste ziehen sie in die Schlacht für Frieden und Freiheit in der Welt – wie soll das denn gelingen? Das ruft doch nur das hervor, was sie da einbringen: noch mehr Groll und Ängste, weitere Feindbilder, neuen Hass und neue Kriege. Eine Partei gründen und sich für Unterdrückte einsetzen? Ach ja, das Helfersyndrom. Oberflächenkosmetik für die eigene Hilflosigkeit und Abwehr des eigenen Schmerzes. Der Einladung der Aktivisten: »Komm doch auch mal zur Friedensmahnwache oder poste was politisch Aufgeklärtes im Web« entgegnete der Spirituelle mild lächelnd: »Wahre Freiheit ist nur in Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung zu finden. Schau nach innen! Erst wenn du mit dir selbst in Frieden bist, kannst du Frieden in der Welt bewirken!«

Homo spiripolitens?
Auch heute finden sich noch Spuren dieser Lagerkämpfe. Zugleich hat sich die spirituell-politische Landschaft verändert. Es wäre verfrüht, schon jetzt einen neuen Homo spiripolitens oder Homo polispiritens auszurufen. Doch es gibt immer mehr politisch engagierte Menschen, die auch eine spirituelle Grundhaltung an den Tag legen. Und die spirituell Engagierten fühlen sich zunehmend zu politischen Betrachtungen und Handlungen hingezogen.
Um besser zu verstehen, wie politisches und spirituelles Denken und Handeln zusammenhängen, liefert uns die buddhistische Philosophie wertvolle Hinweise. Die »vier edlen Wahrheiten« sind die ersten Erörterungen des Buddhas kurz nach seinem Erwachen. Sie werden als wesentliche Zusammenfassung von Buddhas Lehre gesehen. Kurz lauten sie:

1. Das (unerwachte) Leben im Daseinskreislauf ist letztlich leidvoll.
2. Ursachen des Leidens sind Gier, Hass und Verblendung.
3. Erlöschen die Ursachen, erlischt das Leiden.
4. Zum Erlöschen des Leidens führt der Edle Achtfache Pfad.

Besonders die zweite der vier edlen Wahrheiten über die Ursache des Leidens kann uns die Augen öffnen. Wir brauchen nämlich Gier, Hass und Verblendung nur aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, um klar zu sehen, was die Spirituellen und die Politischen verbindet und unterscheidet.

Eine Wirklichkeit – zwei Welten
Was sind diese zwei Perspektiven, die das Puzzle vervollständigen? Die Antwort ist nahezu banal: innen und außen. Der Unterschied ist einfach. Nehmen wir an, wir schließen die Augen und spüren in uns hinein. Was entdecken wir da? Haben wir gerade warme Hände oder frösteln sie? Drehen sich unsere Gedanken darum, wie dieser Text weitergeht, oder um den letzten Streit mit nahen Menschen? Ist unsere Stimmung eher heiter, getrübt oder ganz unauffällig? Wir spüren Empfindungen unserer Sinne. Wir beobachten unsere Gedanken und inneren Bilderwelten. Wir fühlen Stimmungen. Wir spüren die schlichte Tatsache, bewusst zu sein. Das ist die Innenwelt.
Öffnen wir die Augen, sehen wir die Außenwelt. Wir schauen wieder auf die Buchstaben dieses Textes, in der Zeitschrift oder auf dem Bildschirm. Wir hören Geräusche. Wir riechen die Luft. Säßen wir gerade in einem Café, würden wir beobachten, was Menschen um uns herum tun. Stellen wir uns vor, wir würden aus unserem Stuhl heraus in die Luft schweben, immer weiter nach oben. Erst sehen wir die nahe Umgebung, unsere Stadt oder unser Dorf. Wir steigen weiter empor. Wir sehen auf unser Heimatland hinab. Dann auch auf Nachbarländer und ganze Kontinente. Jetzt beobachten wir das politische Weltgeschehen. Wir gucken auf wohlhabende Länder, in denen Frieden herrscht. Dort geht es vielen Menschen gut. Wir sehen auch arme Gegenden mit chaotischen Verhältnissen. Hier werden Menschen unterdrückt. Sie leiden Mangel. Sie hungern, sie verhungern. Es gibt auch Kriegsgebiete. Wir sehen Panzer rollen und Bomben explodieren. Häuser werden zerstört, Körper zerfetzt, Leichen verfaulen. Beim Betrachten der Welt fällt unser Blick auf entsetzlich viel Leid.
Die zwei Grunddimensionen von innen und außen sind für den amerikanischen Philosophen Ken Wilber wichtige Elemente seines »Integralen Modells des Bewusstseins«. Nach Wilber sollten wir bei Betrachtungen der Wirklichkeit immer beide Perspektiven – die äußere und die innere – gleichberechtigt würdigen. Sie besitzen beide Gültigkeit. Denn beide untersuchen die Wirklichkeit. Beide wollen Klarheit. Und beide wollen Freiheit vom Leiden! Nur eine der zwei Perspektiven als »die einzig wahre Wahrheit« zu verklären, führt zu verengter und irreführender Erkenntnis.

Gier, Hass und Verblendung lösen
Jetzt brauchen wir nur noch die Dimensionen von innen und außen mit der zweiten edlen Wahrheit des Buddhas von den Ursachen des Leidens zu verknüpfen. Schon wird uns klar, was es mit den Spirituellen und den Politischen auf sich hat. Beide Lager haben vieles gemein: Sie sind beide feinfühlig für das Leiden des Menschen. Sie erkennen beide Gier, Hass und Verblendung als wesentliche Ursachen dieses Leidens. Sie streben beide die Freiheit von Gier, Hass und Verblendung und damit das Erlöschen des Leidens an.
Doch die Weise, wie sie das tun, unterscheidet sich: Die Spirituellen betonen die Innenperspektive. Sie wollen über den gewöhnlichen inneren Kummer und die menschliche Unzufriedenheit hinausgehen. Sie plädieren für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Dynamiken von Gier, Hass und Verblendung. Sie erkennen, dass das ständige Verlangen nach mehr und mehr nur zu mehr und mehr Leiden führt. Sie lösen sich vom Zwang, stets haben und verändern zu wollen. Sie lassen auch die ewigen Selbst- und Weltverbesserungsprogramme zur Ruhe kommen. Und, oh Wunder: Sie entdecken eine innere Erfüllung, die sich selbst genug ist. Sie spüren ein Glück, das keine äußeren Ursachen braucht.
Die Spirituellen erforschen auch ihren Hass. Sie erkennen, wie Widerstand, Abwehr und Ablehnung innerliche Enge erzeugen. Sie lernen loszulassen, sich zu öffnen, anzunehmen. Selbst den heftigsten Schmerz umfangen sie mit Einverständnis und Liebe. Dadurch schmilzt Zorn hinweg. Darunter kommt allumfassender Frieden zum Vorschein. Die Spirituellen erhellen mutig die dunkelsten Ecken ihrer Psyche. Sie durchschauen die Verblendung durch zunächst weitgehend unbewusste Glaubenssätze des Mangels, Misstrauens und Kampfes. Sie lösen sich von der Identifikation mit einer begrenzten und von anderen getrennten Form. Das mündet in der mystischen Erfahrung unbegrenzter Weite und des Einsseins aller Wesen.

Empörung und Entsetzen nutzen
Auch die Politischen sind feinfühlig gegenüber Gier, Hass und Verblendung. Sie erkennen diese schädlichen Gifte und ihre Auswirkungen in der Außenwelt. Sie empören sich darüber, wie Habsucht in der Welt zu Ungerechtigkeit führt. Sie sind entsetzt darüber, dass Menschen unter Willkür und Brutalität leiden müssen. Sie hören die Lügen und Propaganda der Mächtigen und sind erschüttert. Das alles zu Recht! Es gibt verdammt viel herzzerreißendes Leid in der Welt. Dafür empfinden die Politischen Mitgefühl. Sie wollen helfen. Ihre Lösungsversuche sind – gemäß ihrer Wahrnehmungsausrichtung – auf die Außenwelt bezogen. Sie treten für bessere Gesetze und gerechtere Machtverhältnisse ein. Sie wollen eine ausgeglichene Verteilungspolitik, ein faires Wirtschaftssystem, friedliche Formen der Konfliktlösung. Sie fordern Transparenz für politische und wirtschaftliche Abläufe. Ihnen sind Nachhaltigkeit und Umweltschutz wichtig. Die Politischen wollen, dass alle Menschen in Fülle, äußerem Frieden und mit freiem Zugang zu Informationen leben. Das sind achtenswerte Ziele. Für einen kleinen Teil der Menschheit – vor allem im westlichen Kulturkreis – gilt das heute schon in einem erfreulichen Ausmaß. Dafür dürfen wir den politisch engagierten Vorreitern und ihrem oft selbstlosen Einsatz dankbar sein.

Das Gift der Einseitigkeit
Die Politischen und die Spirituellen haben beide gute Absichten. Beide laufen aber Gefahr, in die Falle der Einseitigkeit zu geraten. Vor allem dann, wenn eine Seite glaubt, sie hätte einen Alleinvertretungsanspruch auf die Wahrheit gepachtet. Das Motto der Spirituellen »Erst inneren Frieden, dann Engagement für die Welt« führt im Extrem zu egozentrischer Nabelschau. Dann geht es nur noch um das persönliche Glück. »Das Leiden der Welt ist doch bloß Illusion. Hauptsache, ich habe meinen Frieden in mir.« Das ist die traurige Losung einer halbgebackenen und damit giftigen Spiritualität.
Die Politischen neigen zum anderen Extrem: »Erst wenn der Weltfrieden hergestellt ist, können wir auch innere Erfüllung erleben.« Das ist ein Aufschieben von Glück im Namen einer falsch verstandenen Selbstlosigkeit. Es verleitet dazu, das Innenleben außer Acht zu lassen. Eigene Schattenanteile von Wut, Angst und Hilflosigkeit werden unerkannt nach außen projiziert. Leben die Politischen Empörung, Entsetzen und Erschütterung ohne innere Weisheit aus, fördert dies neue Feindbilder und den Krieg von gegensätzlichen Standpunkten. Die Folge sind zerstörerische Lösungsversuche. »Einige böse Menschen sind immer noch für die Todesstrafe. Das regt mich echt auf. Wir sollten diese Schweine umbringen!« Solche oder auch schon harmlosere ähnliche Gedanken sind der Anfang von abermaligem Faschismus. Statt Frieden zu säen, streuen die Politischen wieder mal den Samen der Gewalt und wundern sich über die Ernte. Der buddhistische Weise Nagarjuna sagte im zweiten Jahrhundert: »Es gibt nur eine falsche Sicht: die Überzeugung, meine Sicht ist die einzig richtige.«

Sowohl als auch
Werden wir uns der schädlichen Auswirkungen der Extreme bewusst, verlassen wir die Irrpfade wieder. Wir entdecken eine heilsame Weitsicht: Anstelle des Entweder-oder zwischen Spiritualität und Politik eröffnet sich uns ein kraftvolles Sowohl-als-auch. Beide Seiten können voneinander lernen. Die Politischen brauchen ein höheres Maß an klärender Innenschau. Ein bewusster Umgang mit Wut, Angst und Hilflosigkeit kann ihre Handlungsweisen von zerstörerischen Impulsen bereinigen. Ein Verständnis für das Innenleben des Menschen fördert gegenseitiges politisches Einfühlen von Konfliktpartnern. Das erleichtert friedvolle Kommunikation und wirksame Lösungsentwicklung. Nicht zuletzt dürfen auch die Menschen, die sich stark politisch engagieren, sich erlauben, in der schon jetzt zugänglichen Erfüllung unseres spirituellen Wesenskernes zu ruhen. Was nützt es ihnen und ihren Zielen, wenn sie, getrieben von guten Motiven, sich für politische Ziele verausgaben und dabei unzufrieden sind und ausbrennen? Außerdem sind sie weniger glaubhaft, wenn sie frustriert sind und auch so wirken. Politisch engagierten Menschen, die mit der spirituellen Quelle in sich verbunden sind, steht viel mehr Kraft zur Verfügung. Sie strahlen Freude aus, so dass man Lust bekommt mitzumachen und sie zu unterstützen, was ihre Wirkung verstärkt.
Aber auch die Spirituellen können von den Politischen lernen: Die feinfühlige und genaue Innenschau des geübten Meditierers kann sich auch auf die Wahrnehmung der Außenwelt richten. Erwachen und Bewusstwerdung heißt auch, eine weite, vorurteilslose Sicht auf das regionale, nationale und globale Weltgeschehen zu entwickeln. Bei Themen wie Informationsvielfalt, Meinungsfreiheit, Verteilungsgerechtigkeit, demokratischer Mitbestimmung, Konfliktbewältigung, Umweltschutz und vielen mehr ist auch praktisches Handeln angesagt. Dazu können die Politischen anregen und mit ihrem Fachwissen unterstützen. Der Spirituelle darf auf seinem Meditationskissen gerne ein bewusstseinserweiterndes »Ooooom« hauchen und in die Tiefen reinen Seins abtauchen, aber wenn er zugleich sein Geld zum Zwecke maximaler Rendite bei einem Mensch und Umwelt rücksichtslos ausbeutenden Unternehmen »arbeiten lässt«, ist er halbseitig blind: Die Außenwelt ist die andere Hälfte des zu Betrachtenden. Ein hohes Maß an Unbewusstheit in Bezug auf die Außenwelt stellt auch die Tiefe der besten Innenschau in Frage. Hier muss der Spirituelle sich vom Politischen aufklären und Taten folgen lassen.

Raus aus dem Hinterstübchen
Je mehr spirituelle Weisheit und politisches Verständnis zusammenfließen, desto echter und wirksamer entfalten sich innerer und äußerer Frieden. Vereinzelt gab es schon immer Persönlichkeiten mit dieser potenten Mischung: Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, Aung San Suu Kyi und der Dalai Lama bewirkten und bewirken Großes – vermutlich gerade durch ihre spirituelle Tiefe. Heute scheint die Zeit reif dafür, dass mehr und mehr Menschen den Mut haben, spirituelle und politische Sichtweisen zu verbinden, und das nicht nur im Hinterstübchen eines intimen Freundeskreises. Das kann eine Herausforderung sein. Der politisch aktive Künstler Konstantin Wecker schrieb 2014 auf seiner Online-Plattform: »In der linken Szene ist es teilweise Ehrensache, in Sachen Spiritualität rationalistisch drüber oder wenigstens gleichgültig danebenzustehen. Auch in diesem Webmagazin hatten wir teilweise mit Gegenwind zu kämpfen, wenn wir es wagten, den Bereich des Geistigen oder Göttlichen nicht ausschließlich in den Kategorien einer Verschwörung zwischen Kapital und Vertröstungstheologie zu betrachten.« Das ist auch der Grund für sein neues Buch »Mönch und Krieger«, wo Wecker ganz offen die These aufstellt, dass »Spiritualität in der politischen Arbeit nicht nur erlaubt ist (quasi als verschämtes Gebet zwischen zwei Demos), sondern diese sogar befeuern kann.« (http://hinter-den-schlagzeilen.de/2014/06/20/konstantin-wecker-politik-braucht-spiritualitaet-22/). Seit August 2014 arbeitet Konstantin in der Redaktion von Connection Spirit mit. Auch das werte ich als ein Zeichen, dass diese beiden Seiten endlich zusammenwachsen. Es ist höchste Zeit dafür!

Für alle Wesen
Die Wirklichkeit, die da zu sich selbst erwacht, hat zwei Gesichter: ein inneres und ein äußeres. Es ist ein einziges, unauflösbar miteinander zusammenhängendes Sein, das sein selbst erschaffenes Drama des Leidens in menschlicher Form zu durchschauen beginnt und transzendieren will. Mein Lehrer Sri Poonjaji begann seine Veranstaltungen mit spirituellen Suchern meist mit dem tiefen Brummen eines langgezogenen Oms. Er beendete die Treffen mit den Worten »Mögen alle Wesen in Frieden und Harmonie leben. Mögen alle Wesen ihre wahre Natur erkennen. Om Shanti.« (Shanti ist das Sanskrit-Wort für Frieden.) Dieses kleine Gebet floss ganz natürlich aus seiner tiefen Erkenntnis bedingungsloser Erfüllung und Liebe. Es deutet die Ahnung an, dass Frieden – innerer und äußerer Frieden – nicht nur für einige wenige Auserwählte möglich ist, sondern sich auf alle Wesen erweitern kann. Möge es so sein.


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Gedanken zum Sinn eines transchristlichen Weihnachtsfestes 

 

Weihnachten ist das auf der ganzen Welt interkulturell am weitesten verbreitete Fest. Auch in China, Japan, Neuguinea und Chile wird es gefeiert, und das auf diesem Fest am meisten gesungene und weltweit bekannteste Lied ist das deutsch-österreichische »Stille Nacht, heilige Nacht«. Erfreulich, dass hier mal ein deutsches Kulturgut, das nichts mit Krieg und auch nichts mit »Vorsprung durch Technik« zu tun hat, die Welt erobert hat – und obwohl christlich, enthält es einen transkulturellen Kern: die Stille.

 

Die unbesiegbare Sonne

Jesus war kein Verkünder der Stille. Das war eher Buddha, der aber in Europa erst seit ein bis zwei Jahrhunderten allmählich heimisch wird. Obwohl keiner den Geburtstag von Jesus kennt, wurde sein offizielles Geburtstagsfest schon im vierten Jahrhundert u. Z. im damals ins Christliche gewendeten Rom auf vier Tage nach der Wintersonnenwende gelegt. Ins Fest des »Sol invictus«, in die Verehrung der »unbesiegbaren« Sonne, die bis zum 21. 12. auf der Nordhalbkugel kontinuierlich immer tiefer sinkt und dann doch wiederaufersteht. In diese dunkelste und in vielen Ländern zugleich stillste Zeit des Jahres, bei uns an den Beginn der Rauhnächte. Im Salzburgischen, wo das Lied der »stillen, heiligen Nacht« entstand, war diese Zeit des Jahres oft verschneit und in den Wäldern war es so still wie sonst übers Jahr nie. 

 

Kern und Wesen des Religiösen

In den USA wird das Weihnachtsfest als »Merry Christmas« eher exaltiert und lärmend gefeiert. Dennoch hat es für viele Menschen auch dort in der Essenz etwas mit Stille zu tun. Das gefällt mir, denn die Stille ist der Kern und das Wesen des Religiösen. Hab ich das zu kategorisch gesagt? Zu wenig still? Dann muss ich es erklären. Stille ist die Abwesenheit von Tönen und Geräuschen. Töne und Geräusche, auch Worte, erklingen immer »in die Stille hinein«, sind von Stille umgeben, entstehen im Kontrast zu ihr (sonst könnte man sie ja nicht als solche erkennen) und verenden darin.

»Stille« bezeichnet die Leere, also die Abwesenheit von etwas, zwar nur im Bereich des Akustischen, aber die meisten Menschen verstehen sie zugleich als Abwesenheit von Inhalten auch im Bereich der anderen Sinne. Das weltweit beliebteste religiöse Fest und beliebteste Fest überhaupt hat also im Kern etwas mit Mystik zu tun. Nicht mit Mystizismus, dem Verebeln von Tatsachen, sondern mit Mystik: dem Vergehen oder Verschmelzen aller Formen im Formlosen. 

 

Mystik ist die Essenz

Um auch nur die nächsten fünfzig Jahre zu überleben, werden die Weltkulturen sich im Bereich des Religiösen auf etwas einigen müssen, das alle gut finden. Christen wie Muslime, Juden, Hindus und Buddhisten und auch die säkularen Atheisten müssen etwas Gemeinsames finden, gemeinsame Werte, Rituale, Feste. Wenn das keine erzwungenen oder geheuchelten Einigkeiten sein sollen, bleibt als Schnittpunkt nur die Mystik. Die ist zwar unbestritten der Kern des Religiösen und aller Religionen, sie lässt sich aber auch als Kern und Ausgangspunkt jeder säkularen Wahrnehmung verstehen. Auch wenn sie außer in ihren Auswirkungen nicht wissenschaftlich erfassbar ist, so ist sie doch der freundlich zugewandte und insgesamt unentbehrliche Gegenpol der Wissenschaft. 

 

Kitsch, Kommerz und Wahrheit

Deshalb meine ich, dass auch Weihnachten, trotz all der damit verbundenen Kommerzialisierung und trotz des dort so exzessiv verabreichten religiösen Kitsches in der Essenz geeignet ist, die Weltkulturen friedlich zusammen zu bringen, und zwar durch die Stille. Weihnachten ist Kommerz, aber nicht nur. Weihnachten ist Krippenkitsch mit Jesus und Engelein, Rentieren und rotbemäntelten Weihnachtsmännern aus Schokolade, die mit der Botschaft von Jesus so wenig zu tun haben wie die heutige KP von China mit der Philosophie von Marx und Engels oder wie das Weihnachtsgeschäft mit der Aussage, dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel kommt – und doch gibt es inmitten von alledem eine Stille in dieser Nacht, die als heilig empfunden werden kann.

 

Das »Fest der Liebe«

Ich selbst habe in den vergangenen zwanzig Jahren Weihnachtsfeste eher vermieden. Ich habe zu Weihnachten nichts verschenkt und wollte nichts geschenkt bekommen, ich mag diese Stress verursachenden Konsumexzesse nicht. Auch die Gelage um die Weihnachtsgans, während unter dem Christbaum der Verpackungsmüll den Wohnzimmerboden bedeckt, und die Völlerei mit Alkohol und Süßigkeiten mag ich nicht und auch nicht die Tage, in denen das Familienleben sich vor allem vor dem Fernseher abspielt und im Streit, welches Programm einzustellen ist. So wundert es mich auch nicht, dass zu Weihnachten, zum »Fest der Liebe«, die häusliche Gewalt ihren jahreszeitlichen Höhepunkt erreicht. Dennoch: Gehe einmal am 24. 12. ein, zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen! Die sind dann so still, wie sonst nicht mal während des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft. Hinter den Fenstern die Lichter, manchmal sogar Gesang, und inmitten all des Lärms und der Stimmen aus den Fernsehern ist auch Kinderlachen und Freude zu hören. 

 

… und des Friedens

Weihnachten kann auch ein Fest der Stille sein. Und wenn nicht hier, in diesem Fest, das schon so viele kulturelle Schranken überwunden hat, wo sonst werden die Weltkulturen denn Frieden finden? Weihnachten wird auch von Muslimen, Buddhisten und Kommunisten gefeiert. Wenn Liebe nicht nur ein Wort ist, das den Weihnachtskommerz antreibt und dann in der Enttäuschung über ein falsches Geschenk oder die vermisste Wahrhaftigkeit an der Realität des Heiligen Abends anbrandet, so wie die Gischt der hohen Wellen aus den Weiten des Meers unserer Sehnsüchte an der Hafenmauer des Alltags, wo sonst sollen wir denn Frieden finden, wenn nicht hier? 

Retreats sind gut, Rückzug ist gut, Innerlichkeit ist gut, aber auch ein solches Fest, das ja nicht nur Kult und Kommerz ist, sondern auch eine Party, sollte und kann uns beheimaten. Ist es doch der Verlust an Heimat und die vermisste Liebe, was für so viele Menschen Weihnachten zu einem Fest des Schmerzes, der Heuchelei und Trennung macht. Ohne Stille ist Heiligkeit eben nicht zu finden. 

Ohne Mystik gibt es nichts tief Religiöses und kein bei-sich-selbst-Ankommen – und das alles gibt es nicht ohne eine innere Stille, die auch äußeren Lärm erträgt, und die, wenn der Lärm abebbt, wieder ganz bei sich ist. 

 

 

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Wahnsinn Wachstumszwang

Sind wir daran interessiert, wie sich eine erwachte, spirituelle Sichtweise auch auf politische Felder ausdehnen könnte, so gehört die Beleuchtung des Themas „Wirtschaftswachstum“ dazu.

Eine natürliche „spirituelle Intuition“ bestand für mich schon lange Zeit darin, dass hinter der ewigen Forderung des Politik- und Wirtschaftsmainstream nach stetigem Wirtschaftswachstum ein riesengroßes Fragezeichen auftauchte.

Meine inneren spirituellen Erfahrungen zeigten mir, dass es bei der Entdeckung wahrhafter Befriedigung darum geht, aus dem Zwang zum ewigen „mehr, besser, weiter“ auszusteigen. Der Ehrgeiz, immer mehr besitzen und sein zu wollen ist vielmehr Hürde als Hilfe. Die Erkenntnis unserer wahren Natur eröffnet sich eher durch die Demut, alles Wollen hinzugeben. Innere Freiheit offenbart sich durch Loslassen unserer alten Vorstellungen über uns und die Welt – und auch den Ideen darüber, dass uns materieller Wohlstand echtes Glück garantieren könnte. Insofern ist vieles am Erwachen eher Abgeben anstelle von Herholen, Entrümpeln anstelle von Anhäufen, Verringern anstelle von Vermehren, Verlieren anstelle von Gewinnen.

Es stimmt auch, dass mit – oder meinetwegen auch „nach“ – dem Erwachen, wieder inneres Wachstum und natürliches Wollen auftaucht. Hier fühlt sich tatsächlich vieles auf einmal größer, reicher und umfassender an als je zuvor. Das ist wunderbar! Doch dieses „mehr“ ist von gänzlich anderer Art, als das gewohnte Selbstverbesserungs- und Gierprogramm unseres kleinen Ichs. Fülle kommt von alleine. Sie ist ein Geschenk unseres wahren Selbst an uns als Person. Es belohnt unsere Bescheidenheit mit Reichtum – zumindest mit innerem Reichtum.

Ersatzspiritualität Konsum

Wir können dafür dankbar sein, dass wir in einer Kultur leben, die viele der natürlichen Grundbedürfnisse des Menschen, z.B. nach Nahrung, Schutz, Obdach, Zugehörigkeit und relativer individueller Freiheit, zu großen Teilen befriedigt. Sicher gibt es auch auf diesen Feldern zahlreiche Verbesserungsmöglichkeiten. Zugleich scheint es mir – und das wird durch soziologische Forschung bestätigt –, dass eine Steigerung materiellen Wohlstands ab einem bestimmten Niveau das subjektive Wohlbefinden nicht weiter erhöht. Im Gegenteil! In Unkenntnis über unsere wahre Natur, geraten viele in unserer heutigen, westlichen Überflussgesellschaft in die Falle des Konsums. Die Gier nach den neusten oder schicksten Verbrauchsgütern macht uns dann sogar unruhiger, unzufriedener und unglücklicher, als manche Menschen, die mit viel weniger Wohlstand gestraft - oder auch  „gesegnet“ - sind.

Konsum – sowohl materieller, als auch solcher der auf soziales Prestige abzielt – kann man hier als Ersatzbefriedigung für eine fehlende spirituelle Rückverbindung zu unserem wahren Wesenskern verstehen. Die verrückte Überbetonung des Wirtschaftswachstumszwangs ist insofern verständlich, weil die Vertreter des Wachstumsimperatives, aufgrund ihrer mangelnden Rückverbindung zum spirituellen Wesenskern, im Glauben an die Konsumersatzbefriedigung gefangen sind.

Erleuchtetes Wirschaftswachtum

Wachstumskritiker gibt es mittlerweile erfreulich viele. Doch oft dümpeln sie in ihren eigenen kleinen Dunstkreisen vor sich hin. Nur wenige finden Zugang zu den breiten Medien. Hier herrscht immer noch eine abergläubische Wachstumsreligion. Der Götze Wirtschaftswachstum wird angebetet und herbeibeschworen. Droht er, nicht zu kommen, bricht die pure Angst aus. Die meisten Menschen in verantwortlichen Stellen in Politik, Wirtschaft und Medien geraten mit in Panik. Sie wagen es nicht, den blinden Glauben an Wachstum zu hinterfragen.

Es wird Zeit, dass mehr Menschen zu diesem Thema eine wache Sichtweise entwickeln. Wir müssen das Licht erleuchteten Gewahrseins auch in diese verstaubten Ecken selbstverständlicher Wirtschaftsdenkmuster scheinen lassen. Dieses „erleuchtete Wirschaftswachtum“ – ich betone …wachtum … - wird neue Fragen und Sichtweisen auf viele Themengebiete eröffnen: Was ist Geld überhaupt? Wie wirkt sich Zins und Zinseszins auf Wachstumsdruck und Umverteilung von Arm und Reich aus?  Was hat unser Wirtschaftswachstum mit der Einzigartigkeit des Energierausches durch fossile Brennstoffe zu tun? Wie erhält die Forderung nach kontinuierlichem Wirtschaftwachstum den Status quo der Kapitalverteilung aufrecht?  (Anregungen zu weiteren Perspektiven und Fragestellungen finden sich in meinem Blogbeitrag:
"innerer und äußerer Wohlstand – eine spirituelle Perspektive auf Geld- und Wirtschaftssystem)

 

Andere Quellen des Glücks

Ich freue mich immer, wenn Wachstumskritiker auftauchen, die eine gewisse Bekanntheit oder Akzeptanz in breiteren Kreisen haben, zum Beispiel Politiker oder Hochschulprofessoren. In letzter Zeit sind mir in den Medien zwei Personen aufgefallen. In seinem Buch “Hybris: Die überforderte Gesellschaft“  weist Meinhard Miegel auf die schädlichen, gesellschaftlichen Auswirkungen von Größenwahn und Selbstüberschätzung hin. Er lädt zur Kunst der Beschränkung und der Rückkehr zu einem menschlichen Maß an.
In einem Fernseh-Interview sagte Miegel: „… wir müssen andere Quellen des Glückes finden, als unsere gewohnten Konsumgewohnheiten.“ Diesen Satz finde ich sehr treffend. Es ist eine Aufgabe spiritueller Vermittlung, auf diese Quellen hinzuweisen und sie Menschen zugänglich zu machen. Das Erwachen zu unserer wahren Natur und die dadurch eintretende Eröffnung eines nachhaltig erfüllten Lebens ist – meiner Auffassung nach – die verlässlichste Quelle von Glück. Erst wenn wir aus ihr trinken, befreien wir uns individuell und kollektiv aus destruktiver Konsumsucht.

Beachtenswert sind vielleicht auch die Ansätze einer „Postwachstumsökonomie“ von Niko Paech, Gastprofessor an der Uni Oldenburg. Er spricht viel von „Entrümpelung und Entschleunigung“ unserer gewohnten Konsumansprüche und macht andere konkrete Vorschläge, wie eine Ökonomie aussehen kann, die sich nicht mehr vom Wachstumszwang bestimmen lässt.

Ich kenne die Haltungen beider Autoren bisher nur in Ansätzen und es könnte sein, dass sie die hier angeführte „spirituelle Rückbesinnung“ nur wenig oder garnicht erwähnen, dennoch schildern sie wertvolle Sichtweisen.

Für eine Befreiung aus dem Wachstumsimperativ sollten wir alle - individuelle, kollektive, innerliche und äußerliche - Anregungen nutzen. Spirituelle Selbsterforschung und die Entdeckung einer inneren Erfüllung, die nicht an die gewohnten Konsumvorstellungen von nur persönlichem Glück und Wohlstand gebunden sind, spielen dabei eine wichtige Rolle.

 

      Torsten Brügge, Hamburg 25.11.2014

(
Bildquelle: © freshidea - Fotolia.com)

 

 

 

 

 

 

 

 

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Bildquelle: Hartwig Kopp-Delaney flickr-Photostream

  

Auf das mystische Erleben der Ich-Losigkeit wird aus vielen konzeptuellen Perspektiven geschaut. Allgemein bekannt sind hier zum Beispiel die »anatta-Lehre« im Buddhismus und auch die verschiedenen Sichtweisen des klassischen »Advaita vedanta« und des so genannten »Neo-Advaita«. Ihnen gemein ist der Ansatz, auf die Formlosigkeit des Ich-Erlebens beziehungsweise das Aufgehen des Ichs im All-Einen hinzuweisen.  

Einen ganz anderen Versuch unternehmen die Stufenmodelle von Entwicklungs-Theoretikern: Ihnen geht es in ihren Konzepten um die Wandlung der Ich-Erlebens-Formen im menschlichen Lebenslauf. Eines davon möchte ich hier mal heraus greifen, weil ich es phänomenologisch besonders gut einfühlbar finde: „Die Entwicklungs-Stufen des Selbst“ von Robert Kegan. Er zeichnet sein entwicklungspsychologisches  Modell als aufsteigende Spirale, die durch 6 verschiedene Stadien führen kann.  

Die 6 Stufen nennt er Subjekt/Objekt-Gleichgewichtszustände. Was ist damit gemeint? Robert Kegan unterscheidet die wichtigen Etappen in unserem Ich-Erleben danach, welche Wahrnehmungen und Erlebnisse wir jeweils als zu uns gehörig, subjektiv oder »meinhaft« erleben und was uns als objektiv, und nicht zu uns gehörig, erscheint. Auf alles, was einem Subjekt als ein Objekt vorkommt, kann es Bezug nehmen.

Entwicklungspsychologen gehen heutzutage davon aus, dass bei einem Neugeborenen alle Wahrnehmungen in einem subjektiven Raum auftauchen und noch keine Unterschiede zwischen »innen« und »außen« gemacht werden. Hunger, der von innen kommt, wird ähnlich unangenehm erlebt, wie zum Beispiel grelles Licht, das von außen auf es einwirkt. Genauso ist es mit angenehmen Erlebnissen. Diesen Gleichgewichtszustand nennt er die Stufe 0 bzw. das »einverleibende Selbst«. Die Außenwelt wird hier völlig ins Ich-Erleben integriert oder anders ausgedrückt: Alles ist »ich«, es gibt noch kein »du«. 

Stufen 1 bis 4 – die »normal-menschliche« Entwicklung 

Die Stufen 1 – 4 in Kegans Modell könnte man grob mit »Kleinkind« (1: impulsiv), »Schulkind« (2: autonom), »Jugendlicher« (3: zwischenmenschlich) und »Erwachsener« (4: institutionell) betiteln. Ihre Organisationsformen unterscheiden sich vor allem dadurch, dass sich die Grenze zwischen wahrgenommenem »ich« und erlebtem »nicht-ich« immer weiter nach innen verschiebt: Der als »zum ich gehörige« Teil des Erlebens wird also im Laufe des Lebens immer kleiner, die Bezugs-Welt (Objekt-Bereich) dieses »ich« immer größer.  

Robert Kegan beschreibt in seinem Modell eindrucksvoll, wie sehr die jeweilige Ich-Stufe, die Wahrnehmung (Konstruktion) unserer Innen- und Außenwelt verändert. Ein Kleinkind (Stufe 1) erlebt sich noch in einer sehr raumgreifenden Innenwelt, die von Emotionen und Impulsen geprägt ist. Seine Außenwelt tritt vornehmlich als Erfüllungsgehilfe seiner Wünsche, bzw. grenzsetzende Instanz in Erscheinung. Für das Schulkind (Stufe 2 - autonom) hat die soziale Umgebung schon eine viel größere Reichweite: Da gibt es neben der Kleinfamilie Gleichaltrige (eine peer-group), mit denen man sich arrangieren muss und Autoritätspersonen wie Lehrer fordern erste gesellschaftliche Anpassungsleistungen. Der Jugendliche (Stufe 3) entdeckt und erlebt das »Du« als bedeutungsvolles zwischenmenschliches Gegenüber, und die Freude und das Leid, das ihm dort Angenommen-Sein und Zurückgewiesen-Werden bereiten können.  

Als die besondere Errungenschaft des Erwachsenen-Alters stellt Kegan heraus, dass sich hier das »Ich« zum ersten Mal als eine »Institution« erlebt: Die Bedeutungsentwicklung erreicht hier „eine Stufe, auf der das Selbst einen stimmigen Zusammenhalt auch dann wahrt, wenn es an verschiedenen Beziehungen mit anderen beteiligt ist; damit erlangt das Selbst Identität. Kennzeichnend für dieses Selbst ist die eigene Autorität - wir haben nun ein Selbstempfinden, wir besitzen Selbstständigkeit, wir gehören uns selbst. Nicht mehr »ich bin meine Beziehungen«, sondern »ich habe Beziehungen«. Das neue Ich ist die Instanz (Institution), die dieses Haben verursacht.“ Gefühle werden nun „durch einen übergeordneten Bezugsrahmen relativiert, nämlich durch die psychische Institution und durch zeitgebundene Konstruktionen wie Rolle, Norm, Selbst-Konzept, Selbst-Kontrolle, die diese Institution aufrechterhalten.“ (S. 141/142) 

Entwicklung bedeutet Wandel und Umbruchskrisen 

An der wiederholten Verschiebung der Ich-Grenzen wird schon deutlich, wie wenig Sinn es macht, das »Ich« als eine feststehende Instanz zu betrachten. In dieser Sichtweise ist es ein sich ständig wandelnder Bezugspunkt. Den Begriff  »Mensch« definiert Kegan als »eine immer fortschreitende Bewegung, die ständig einer neuen Gestalt entgegenstrebt« (S. 27). 

Die Umbrüche und Wandlungen der Stadien im »Selbst-System Mensch« verlaufen immer krisenhaft, wie er eindrucksvoll aufzeigt. Die »Krise« wird hier also als ein Normalfall betrachtet, der immer dann eintritt, wenn eine Organisationsform sozusagen ausgedient hat und im Lebensfluss durch eine neue ersetzt werden wird: Das Alte greift nicht mehr recht, das Neue ist noch nicht stabil vorhanden. Kegan lehnt sich dabei an den bekannten Schweizer Pädagogen Jean Piaget an, der das in vielen eindrucksvollen Experimenten für die kognitive Entwicklung des Menschen nachgewiesen hat.  

In den instabilen Übergangsphasen ist auch die Wahrnehmung und Konstruktion des Bedeutungssystems variabel: Mal wird die Wirklichkeit nach dem alten Bezugsrahmen interpretiert, dann wieder nach dem neuen. Immer braucht es einiges an Einübung, bis sich ein neues Gleichgewicht auf neuem Niveau stabilisiert hat. Die Übungsaufgaben stellt das Leben selbst. Einem Kind muss niemand sagen, wie es etwas zu lernen hat. Seine Entwicklung wird – wenn keine Störeinflüsse eintreten – von einem inneren, natürlichen und schöpferischen Prozess geführt, der nach einem »Stirb-und-Werde-Prinzip« abläuft. 

Die Entwicklung zum überindividuellen Gleichgewicht – Stufe 5 

Aus der Perspektive des an spirituellen Themen interessierten Erwachsenen erfährt im Entwicklungsmodell Robert Kegans der Übergang zur Stufe 5 ein besonderes Augenmerk: Was passiert den nun hier in der Bedeutungsbildung unserer Ich- und Selbstbezüge, wenn eine als Identität erlebte innere »Institution« abdanken muss und durch welches neue Gleichgewicht wird sie dann eigentlich ersetzt?  

„Nun beginnt man mit dem Entwurf einer Weltanschauung, welche Widersprüche und Gegensätze integrieren und sich nach mannigfaltigen Denksystemen richten kann. Zunehmend sieht man ein, dass es bei dem »Projekt Leben« nicht darum geht, den Fortbestand einer bestimmten Form des Selbst zu verteidigen, sondern um die Fähigkeit, das Selbst an sich buchstäblich transformativ sein zu lassen. Das Selbst könnte man als eine Art Durchschreiten verschiedener Bewusstseinsformen beschreiben und nicht als die Identifizierung mit einer dieser Formen, die es dann zu verteidigen gilt.“ 

Das Verlassen der institutionellen Stufe des Erwachsenen-Ichs bedeutet also in diesem Modell die Des-Identifikation von jeglicher Form und das Zulassen eines sich ständig-wandelnden Bewusstsein. Am Anfang der Übergangsphase dorthin werden alle Formen erstmal verlassen und aufgelöst, um sie dann in eine neue Perspektive zu re-integrieren. „Wenn man sich dieser konstruktiv-transformativen Seite annähert, dann erlangt man die Fähigkeit, mit all jenen Ideologien erneut in Beziehung zu treten und zu erkennen, dass sie alle unvollständig und einseitig sind.“ 

Entmystifizierung der Ich-Losigkeit 

Die laufende Um-Organisation unserer Selbst-Wahrnehmung und das Eintreten in ein Bewusstsein, in dem sie mit keiner Form mehr identifiziert ist, wird hier also als ganz natürliche Entwicklungsmöglichkeit im Erwachsenenalter betrachtet. Kein mystischer Hokuspokus, kein Besonders-Sein! Allerdings haben Kegans Forschungen auch ergeben, dass nur etwa 20% der erwachsenen amerikanischen Bevölkerung überhaupt die vierte Organisations-Stufe (die erwachsene Ich-Organisation!) erreicht haben und nur ein verschwindend geringer Anteil davon, sich darüber hinaus entwickeln kann. Ein voll verwirklichtes überindividuelles Ich-Bewusstsein kann er selbst sich nur mühsam vorstellen, eine Entwicklung darüber hinaus nicht mehr (vgl. WIE-Interview).  

Entwicklung zur Selbst-Losigkeit 

Die höchste Gleichgewichts-Stufe  in diesem Modell kennt keine Grenze mehr zwischen Subjekt und Objekt und sie umfasst die Errungenschaften aller vorherigen Stufen. Ein Kreis schließt sich. Diese Integration enthält auch den Säugling, das Kleinkind, das Schulkind, den Jugendlichen und den Erwachsenen in uns. Selbst-Losigkeit bedeutet, mit keinem davon identifiziert sein – schon gar nicht mit dem, vom Leben verletzten und bedürftig gebliebenen, kindlichen Anteil.   

Gleichzeitig beinhaltet sie die Vielfalt aller menschlichen Seins-Weisen: Hingebungs- und vertrauensvoll wie ein Säugling, impulsiv und abgrenzend wie ein Kleinkind, die Außenwelt erobernd wie ein Schulkind, sich der Leidenschaft und Beziehungen hingebend, wie ein Jugendlicher, verantwortungsvoll und gesellschaftliche Rollen übernehmend wie ein Erwachsener.  

Alles zu seiner Zeit! 

*****

 Literatur:

Kegan, R.: Entwicklungsstufen des Selbst. München, 1994, 3.Aufl.
WIE-Was ist Erleuchtung 8: Bist du bereit, dich jetzt zu ändern? Zur Dynamik menschlicher Transformation, Frühjahr 2003.

 

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Posted by on in Marianne Gallen

 

Ich hatte schon immer eine besondere Vorliebe für Stufenmodelle. Als kleines Kind stand ich stundenlang im Treppenhaus meiner Großmutter und studierte fasziniert obiges Bild – immer wieder:  Jedes Lebensalter wird hier in seiner Besonderheit gewürdigt. Einen zentralen Platz bekommt die Begegnung zwischen Alt und Jung. Das Junge kommt, das Alte geht – im gegenwärtigen Moment gibt es eine tiefe Berührung. 

 

Entwicklung zum Ursprung 

Der menschliche Lebenslauf macht für mich eindrucksvoll deutlich, dass es eben gerade nicht um ständiges Wachstum geht, wie uns das die Leistungsgesellschaft gerne vorgaukeln will. Das Leben verläuft viel eher zyklisch: Kreise schließen sich, immer wieder. Am vermeintlichen Ende beginnt alles von neuem. 

Und dennoch gibt es Abfolgen und Stufen, die nicht umkehrbar sind. Das eine ist die Weiterentwicklung des anderen, bringt etwas qualitativ Neues und schließt dennoch Vorangegangenes mit ein. Zum Schluss kehrt alles jedoch wieder zu seinem Ursprung zurück. Eine Paradoxie, die gedanklich schwer zu fassen ist und doch beim Betrachten des Lebenslauf-Bildes ganz selbstverständlich erscheint.

 

Würdigen des jeweiligen Standpunkts 

Neugeborene und Babys scheinen völlig zufrieden mit ihrem gegenwärtigen Dasein zu sein, solange für ihre Bedürfnisse gut gesorgt wird. Andere kümmern sich um ihr Überleben. Als Erwachsene sehnen wir uns manchmal in diese Unbeschwertheit zurück. Sobald das Kind sich jedoch bewegen lernt, will es irgendwo hin, woanders als es gerade ist, der Kreislauf des Leids (Samsara) ist geboren. Hört man Kleinkindern zu, die gerade sprechen gelernt haben, dann kommt häufig der Satz: „Wenn ich mal groß bin …“ Groß-Sein ist aus Kinder-Perspektive sehr attraktiv. 

Was mich an der Darstellung »Stufenjahre des Menschen« besonders fasziniert: Obwohl sie sicher in einer Zeit entstanden ist, in der die Lebenserwartung eines Erwachsenen durchschnittlich um die 60 Jahre betrug, hat der Lebenslauf eine absolute Symmetrie. Der aufsteigende Ast und der absteigende Ast sind gleich lang und damit im Gleichgewicht abgebildet. Keiner erscheint dadurch höherwertiger als der andere. Die Jugend hat im Lebenslauf genauso ihren Platz wie der Greis – auch wenn dieser zum »Kinderspott« wird. 

Die jeweiligen Stufen symbolisieren für mich das Innehalten – Standortbestimmung in der Gegenwart: Wo stehe ich gerade? Was bringe ich mit? Was ist mir möglich? Was steht an? Sich umsehen, genau hinsehen, an der Stelle des Zeitkontinuums, an der ich mich gerade befinde, stoppt das Hamsterrad des Woanders-hinwollens. Das Leben findet im gegenwärtigen Moment statt. 

 

Modelle spiritueller Entwicklung 

Stufenmodelle gibt es auch im spirituellen Bereich:  Das Kundalini-Modell, der »Aufstieg auf den Berg Karmel« des Johannes v. Kreuz, die »Ochsenbilder des ZEN-Buddhismus«,  die integrale Ich-Entwicklung eines Ken Wilber, um nur einige zu nennen. Häufig werden sie nur so gelesen, als wäre das Ankommen auf irgendeinem Gipfel das Ziel, die »himmlische Hochzeit«, die »Erleuchtung«, das »Aufgehen im Eins-Sein«. Aber auch hier gibt es nicht nur die Entwicklung des Werdens, sondern auch die hin zum Sterben, die immer parallel läuft. Wer den Berg erklimmt, muss den ganzen Weg dann wieder herunter steigen. Alles was entsteht, vergeht auch wieder.  Die Zeit schreitet unweigerlich voran, wir können nichts festhalten.  

Ein Weiser  erlebt nicht einfach einen kontinuierlichen Zuwachs an Weisheit, sondern er vergisst gleichzeitig, dass es so etwas wie Wissen überhaupt gibt. Ein anonymer englischer Mystiker nannte sich einmal – diesen Umstand beschreibend – die »Wolke des Nicht-Wissens«.  Mein Systemtheorie-Lehrer bezeichnete diesen Vorgang als die »Evolution des Vergessens« und nahm an, dass Gott sie besonders amüsant findet.  

 

Die Dimension der Zeitlosigkeit 

Der Perspektiven-Wechsel: Vom Standpunkt des Non-Dualen (Nicht-Zwei) gesehen, erkennen wir sowohl unsere Konzepte einer kontinuierlich ablaufenden Zeit, als auch den Entwicklungsgedanken als selbst-täuschende Illusionen.  

In einer radikal-konstruktivistischen Sicht klingt das so: „In der Meditation wird versucht, diese Grundtäuschung und damit das Empfinden einer kontinuierlich ablaufenden Zeit zu durchschauen. Die Beobachterinstanz, welche diesen Ablauf der Zeit durchschauen kann, wird als zeit-los betrachtet. Wenn es dem Menschen gelingt, sich mit der letzten Beobachterinstanz zu identifizieren, kann er dadurch aus der Gefangenheit in der Zeit ausbrechen. …  In der Vollendung kann das Zeitempfinden sozusagen fließend ein- und ausgeschaltet werden, ja löst sich eigentlich die Unterscheidung zwischen Zeit und Nicht-Zeit auf. Dieser Zustand, das Erwachen oder die Erleuchtung genannt, muss nicht den Ausstieg aus der irdischen Daseinsform bedeuten, sondern einen Ausstieg aus der inneren Gebundenheit daran.“ Quelle 

Die Perspektive des Nicht-Zwei kennt also keine Zeit- und auch keine Entwicklungsdimensionen. Daher gibt es hier auch kein »unreif-reifer«, kein »vorher-nachher«, kein »unerwacht-erwacht«. All diese Kategorisierungen sind (mögliche) Perspektiven des Dualen.  

Immer, wenn wir das Wachsen und Werden des Lebendigen beobachten und erforschen wollen, bewegen wir uns also im Bereich der Relativität. Entwicklungs-Betrachtung ist anders nicht möglich.

 

Stufen der Ich-Entwicklung 

Mein bevorzugtes Stufen-Modell der Ich-Entwicklung stammt aus einem pädagogisch-psychologischen Kontext:  »Die Entwicklungsstufen des Selbst« von Robert Kegan. In diesem Modell geht es um die qualitativen Veränderungen unseres Ich-Erlebens während des Lebenslaufs, die nach der Auffassung des Autors einige Stufen durchlaufen. (Ich werde das in einem weiteren Blog-Beitrag noch ausführlicher darstellen.) 

Auch hier findet eine »Evolution des Vergessens« statt: ICH vergisst sich selbst. Es hört auf, sich für eine Institution (Form) zu halten. Gleichzeitig bleiben die Errungenschaften und Qualitäten aller früheren Stufen bestehen: Das Vertrauen und die Hingabe des Säuglings, der Trotz und das Autonomiebedürfnis des Kleinkinds, die Weltfähigkeit des Schulkinds, die Liebes- und Beziehungslust des Jugendlichen und sogar die Fähigkeiten zur Verantwortlichkeit, Rollenübernahme, Selbst- und Fremd-Reglementierung, die dem erwachsenen Ich-Gefüge zugeschrieben werden.  

Jede Evolution beinhaltet ein Werden und ein Sterben gleichzeitig. Wenn man Stufenmodelle auf diese Weise interpretiert und benutzt, dann hören sie auf, ein ehrgeiziges »höher, schneller  und weiter« vorzugaukeln. Sie dienen so einfach als Landkarten, die nützlich sein können, gerade stattfindende Bewegungen im Menschenleben wahrzunehmen und zu würdigen.  

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Dieses digitale Bild hat der Künstler „focus of attention“ genannt – Fokus der Aufmerksamkeit.  

Wir Menschen besitzen die wunderbare Freiheit, unseren Aufmerksamkeitsfokus zu verlagern.  

Je nachdem, welchen Blick-Winkel ich einnehme, verändern beobachtendes Ich und Wahrgenommenes ihre Beziehung zueinander. Wenn sie zusammenfallen, wird die Welt der Erscheinungen als Eins (Nicht-Zwei) erfahren.  

Die Perspektive des Nicht-Zwei 

In der Perspektive des Nicht-Zwei (Non-Dualität), fallen außen und innen, ich und der andere, Licht und Schatten, alle Polaritäten der Erscheinungswelt in sich zusammen. Stille macht sich breit, welch eine Entspannung! Erscheinungen werden aus dieser einen Quelle geboren und kehren wieder dorthin zurück. In Bewegungslosigkeit verharrend, scheint das Wechselspiel der Phänomene wie ein Tanz, an dem Niemand teilnimmt.  

Das Leiden am Ich und an der Person hört hier auf, sie existieren nicht mehr. Schmerzfreiheit? Kummer und Sorgen, Zwischenmenschliches, die Mühsal des Lebens, werden zu einer kleineren Welle im großen Ozean des Gewahrseins. Das Leben und der Tod: Ereignisse in einem Kontinuum des Ungetrennten.  

Die Perspektive der Zweiheit 

Zweiheit kann aus verschiedensten Blickwinkeln wahrgenommen werden. Jede davon eröffnet ein anderes Erlebens-Universum. Die mikroskopische Betrachtung erschließt den Mikrokosmos, der Blick in die Weite den Makrokosmos. Ein nach innen gerichtetes Auge rückt das subjektive Erleben in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der Szenenwechsel in die Außenwelt lässt Gegenstände erscheinen. Wird scharf fokussiert, entstehen klare Formen und Konturen im Bewusstsein, bei weicherer Einstellung verschwimmen die Eindrücke.  

Die Wahrnehmungswelt spaltet sich auf in Subjekt und Objekt: Jemand erkennt etwas und nimmt es in sein Bewusstsein auf. Der Beobachter kann dabei unterschiedliche Brillen auf der Nase haben, die wie Filter auf die Inhalte einwirken oder sie in einem speziellen Licht erscheinen lassen. Konzepte, an die wir glauben, nehmen Einfluss auf die erkannte Realität.

 

Die gefestigte Perspektive 

Halten wir fest an der einen, immer gleichen Perspektive, dann laufen wir Gefahr, sie mit einer Wahrheit oder Realität zu verwechseln. Für manche ein Ideal: Ein Mensch mit einer gefestigten Meinung. Sein Aufmerksamkeits-Fokus ist zementiert im immer gleichen Blickwinkel. An-Sichts-Sache: Die Meinung zu einem Inhalt ergibt sich aus dem Referenz-Punkt des Betrachters.  Der so erkannte Wirklichkeits-Ausschnitt, hat keine Chance, sich zu wandeln.  

Ebenso ist es mit dem toten Winkel dieses Zusehers. Das Ausgeblendete befindet sich immer an der gleichen Stelle, der blinde Fleck auch. Manchmal wird so ganz vergessen, dass es auch ganz und gar Unbemerktes im Wahrnehmungsfeld gibt – Schattenphänomene und Verborgenes.  

Die Freiheit  

Durch den Wechsel der Perspektiven wird hier die Freiheit zurück erobert: Mal von innen, mal von außen, mal im Kleinen, mal im Großen, mal von unten, mal aus dem Vogelflug betrachtet, verändert sich das Aussehen der Dinge. Die Vielfalt ihrer Erscheinungsweisen, ihr Tanz im Universum wird so gesehen. Die Angst vor der erstarrten Form verschwindet. 

Auch Einsichten und Meinungen dürfen sich wandeln. Nichts muss mehr in Zement gegossen werden. Fest gefahrene Kommunikation kommt so wieder ins fließen. Verständnis wird möglich, wo vorher nur Gegensätze aufeinander prallten.  

Und wenn die eine Perspektive „gold“ sagt und die andere „weiß“, entstehen keine Unversöhnlichkeiten mehr, sondern reine Freude über die Vielfalt des Lebens.

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Dualistische Sichtweisen in politischen Konflikten entlarven

Eine "spirituelle Durchdringung" politischer Themenfelder hat für mich auch immer etwas damit zu tun, typisch dualistische und damit trennende Denk- und Sichtweisen aufzudecken. Die finden sich meist dort, wo einseitige Informationsverbreitung betrieben wird. Man klopft abwertende Feindbilder fest und hüllt sich selbst in ein idealisiertes Mäntelchen von Rechtschaffenheit und Unschuld. Im Extremfall werden solche verblendeten Perspektiven als "berechtigte Kriegsgründe" für die Anwendung von grausamer Gewalt missbraucht.

Spirituelle Klarheit durchdringt diesen Schleier, da sie einen Abstand zu den sonst oft so selbstverständlichen, politischen Glaubenssätzen schafft. Sie durchschaut die Propaganda und öffnet sich für die Wahrnehmung eines breiteren Feldes von Perspektiven. Daraus ergibt sich ein Einfühlungsvermögen für alle Seiten eines Konfliktes und die Achtung aller berechtigten Bedürfnisse. Die Wahrscheinlichkeit für friedliche Lösungen wächst. Manchmal geschieht diese Öffnung einfach dadurch, dass wir uns Informationsquellen zuwenden, die nicht dem Mainstream der Einseitigkeit huldigen.

 

Wachsam für einseitige Berichterstattung

Immer noch bin ich der Ansicht, dass wache Menschen sich bezüglich des Ukraine-Konflikts keineswegs auf die Berichterstattung in den Massenmedien verlassen können, sondern auch alternative Informationsquellen nutzen sollten. Auf meiner Facebook-Seite habe ich dazu schon mehr gepostet, will aber auch in diesem Blog mal deutlich darauf hinweisen.
In dem hier verlinkten Video geht es um 8 amerikanische (!!!) ehemalige Geheimdienstexperten, die Hintergründe des Konflikts aufdecken. Es wird deutlich welche Unzulänglichkeit bis hin zu bewussten Falschdarstellung es von angeblichen Beweisen bezüglich der Lage gibt. Die behauptete eskalierende Rolle Russlands ist damit immer wieder stark zu hinterfragen. Man muss zumindest ebenso das eskalierende Gewicht westlichen Vorgehens und westlicher Fehlinformationen in Betracht ziehen. Es scheint mir tatsächlich eher, dass hier westliche Interessenseinmischungen die auslösenden und weiterhin wirkenden, gewichtegeren Komponenten der Krise ausmachen. Gerade das von westlicher Seite geschürte Gut-Böse-Denken mit der Rollenverteilung "Wir sind die Guten und drüben wartet der böse, böse Russe nur darauf, uns zu fressen" wird durch alternative Informationensquellen häufig ad absurdum geführt. Das Interview ist nicht ganz aktuell, sagt aber Wesenliches aus und mahnt zu einer Wachsamkeit gegenüber angeblich sicheren Fakten, die uns Massenmedien immer wieder schnell verkaufen wollen. Das gilt besonders dann, wenn solche "Fakten" als Begründung für politisches oder gar militärisches Handeln herangezogen werden.

Torsten Brügge, 30.9.2014

 

 

 

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Eigene Standortbestimmung im Feld von Spiritualität und Politik

In nächster Zeit werde ich in den meinem Blog hier, in Facebook-Gruppen (zum Beispiel in der von mir neu gegründeten Facebook-Gruppe „Spiritualität und Politik“) und auch in Zeitschriftenartikeln vermutlich einiges zu äußerlichen Aspekten von Politik und Weltpolitik veröffentlichen. Mein Tätigkeitsschwerpunkt als spiritueller Lehrer und Begleiter liegt eigentlich eher auf der Einladung zur Bewusstwerdung innerer spiritueller Wesenqualitäten. Diese Orientierung wird auch weiterhin so bleiben. Dennoch werde ich mich zunehmend wahrscheinlich auch zu anderen Themen äußern. Da wird es dann um Geostrategie gehen, um den Kampf um Welt-Energie-Ressourcen, um imperiale Wirtschaftsdominanz, ja sogar um die Arbeit von Geheimdiensten und deren verdeckter Kriegsführung. Manche meiner Leser wird diese Behandlung von handfesten weltpolitischen Themen vielleicht überraschen – ehrlich gesagt verwundert es mich selbst. Aber anscheinend ist es für mich an der Zeit, dort auf Perspektiven hinzuweisen, die ich als wichtig erachte. Für diese Öffnung für weltpolitische Themen möchte ich in diesem Blogbeitrag eine klärende Standortbestimmung aufzeigen, wie Weltzugewandtheit und Weltabgewandtheit im Rahmen spiritueller Erkenntnis verstanden werden können.


Drei Phasen von Weltbeziehung

Mir scheint es so, dass die Entfaltung spiritueller Erkenntnis in Bezug auf das Feld gesellschaftlichen und politischen Engagements grob in drei Phasen aufgeteilt werden kann. Die Übergänge solcher Phasen sind fließend. Manchmal können Teilstränge der einen Phase schon innerhalb einer anderen Phase auftreten. Wem die folgende Beschreibung als „zeitliche Phasen“ zu gewagt vorkommt, kann sie auch als drei „grundlegende Weltbeziehungsqualitäten“ betrachten, die wir jeden gegebenen Moment verschiedenartig erfahren können. Wie jedes einfache Modell, handelt es sich um ein nur grobes Schema für in Wahrheit vielschichtigere Phänomene. Zur Vereinfachung macht es aber durchaus Sinn, es schematisch als Ablauf in der Zeit zu sehen. Dann könnten wir drei Phasen unterscheiden:

   Phase I    –  egozentrische Weltzugewandtheit
   Phase II   –  befreiende Weltabgewandtheit
   Phase III  –  selbstlose Weltzugewandtheit  


Phase I: Ich muss die Welt verbessern

In der Phase der egozentrischen Weltzugewandtheit wollen wir die Welt retten. Wir erkennen Mangel, Ungerechtigkeit und Unterdrückung im Außen und haben das Gefühl, dagegen ankämpfen zu müssen. Uns drängt es, Menschen in unserem nahen Umfeld oder gesellschaftliche Verhältnisse überhaupt zu „etwas Besserem“ hin zu verändern. Unser eigenes Wohlergehen und Überleben und das der menschlichen Gesellschaft auf diesem Planeten ist der Fokus unserer Aufmerksamkeit und wird als äußerst wichtig erachtet. Oft ist diese Phase auch durch eine Unbewusstheit für unser inneres Erleben geprägt. Ein Teil unseres  Veränderungsdrangs beruht nämlich auf verdeckten egozentrischen Motiven. „Wenn nur endlich die Welt in Ordnung wäre, wenn es im Außen nur noch Friedern, Wohlstand und Harmonie gäbe, dann könnte auch ich endlich glücklich sein“  hoffen wir. Außerdem wehren wir durch unseren zwanghaften Helferdrang auch die innere Begegnung mit eigenem existentiellem Schmerz ab. Die Strategie lautet: „Wenn ich das Leid in der Welt abschaffe, dann brauche ich endlich nicht mehr die schrecklichen Gefühle eigener Verletzlichkeit, Hilflosigkeit und Angst zu spüren“. In egozentrischen Weltzugewandtheit liegt auch Arroganz verborgen. Wir meinen, aus der Kraft unseres Ichs und unserer Idee, der Handelnde zu sein, den Lauf der Welt nach unseren eigenen Vorstellungen beeinflussen zu können. Der Song „Ich muss nur noch kurz die Welt retten“ besingt diese Vorstellungen recht heiter. Doch es hat eine ernste Seite. Solange wir das glauben, sind wir nach Aussage der Advaita-Philosphie in den Fängen von Maya (die Welt als leidvolle Illusion). Dann leiden wir und oft erzeugen wir weiteres Leid.


Phase II: Keine Welt, kein Ich

Egozentrische Weltzugewandtheit laugt uns auf Dauer aus. Es ist eine Sisyphos-Arbeit, das Leiden der Welt beenden zu wollen. Egal wie sehr wir uns auch anstrengen mögen, uns begegnet im Außen im wieder Herabsetzungen, Ungerechtigkeiten und Gewalt. Wir schaffen es einfach nicht, die Welt so zu formen, wie wir es uns vorstellen. Diese Frustration hat auch eine gute Seite. Sie kann uns zum Innehalten und zur Innenschau einladen. Wenden wir uns tiefgreifender spiritueller Selbsterforschung zu, geht diese meist mit einer natürlichen Abwendung von der Welt und ihren Ereignissen einher. Statt uns zu fragen, was im Außen geschieht und wie wir es verändern könnten, erforschen wir uns selbst und unser Innenleben. Wer oder was ist dieses Ich, das so krampfhaft versucht, die Welt zu verändern? Gibt es dieses Ich überhaupt?  Was ist, wenn wir unsere Identität als „die Welt rettende Person“ und sämtliche andere persönlichen Identitäten hinterfragen und loslassen? Was zeigt sich, wenn wir uns erlauben, nichts und niemand zu sein?
Wir entdecken, wie befreiend es sich auswirkt, unser Innenleben -  und auch das Geschehen in der Welt - mit Annahme und Liebe zu begegnen. Gerade die Hingabe unseres egozentrischen Willens – auch dem Willen, die Welt zu retten – stellt sich als segensreiches Geschenk heraus. Wir entdecken einen Seelenfrieden, für den es gar nicht mehr wichtig ist, wie es um unseren persönlichen Willen, um unsere persönliche Befindlichkeit oder um die Außenwelt bestellt ist. Damit ändert sich auch unsere Perspektive auf das Weltgeschehen. Wir erkennen, dass unser persönliches Leben, ja die gesamte Menschheit und Evolution des Lebens auf diesem Planeten und der Planet selbst nur ein bedeutungsloser Funkenschlag im gigantischen Lebens- und Todesfeuer des Kosmos darstellt. Was für ein Witz, uns selbst da so wichtig zu nehmen!
Und auch das Lichtspiel sämtlicher kosmischer Erscheinungen, so  ahnen wir es auf der tiefsten Ebene von Selbsterkenntnis, ist wie ein Traum, den niemand jemals geträumt hat. Davor, danach und währenddessen darunter ist die Dunkelheit absoluten, unfassbaren Nicht-Seins. Hier ruhen wir in totaler Weltabgewandtheit, die nicht einmal den leisesten Hauch von Welt oder Ich weiß. Diese nicht-begriffliche Erfahrung – oder besser Nicht-Erfahrung – der Leere wird im Advaita „nirvikalpa samadhi“ (formlose Versenkung) genannt. Doch sie ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Radikale Weltentsagung, so wichtig sie auch sein mag, kann zur Weltflucht  entstellt werden. Vor allem dann, wenn wir nun das leere Nicht-Sein dem Sein und Werden vorziehen. Dann sind wir in eine spirituelle Falle getapst.
Doch schließlich erkennen wir, dass es zwischen der Leere reinen Gewahrseins und der Fülle der Erscheinungswelt keinerlei Trennungslinie gibt. Die Fülle kommt aus der Leere. Fülle ist Leere und Leere ist Fülle. Sie sind eins. Dann erleben wir die Welt mit dem Geschmack des wahrhaft non-dualen „sahaja samadhis“ (natürliche Versenkung): Wir ruhen als Leere und sind in Frieden mit dem, was erscheint.


Phase III: Innere Fülle verändert die Welt

In der Phase der befreienden Weltabgewandtheit haben wir uns vom Drang zwanghafter Welt- und Selbstverbesserung befreit und sind in die natürliche Leere und Fülle unseres essentiellen Wesens eingetaucht. In der Folge zeigt sich oft eine wiederkehrende - jetzt selbstlose - Weltzugewandtheit. Die Motivation für diese erneute Hinwendung zum menschlichen Leben und der Welt beruht nicht mehr auf Mangel, sondern ist ein Überfließen innerer Fülle. Wir haben keine Angst mehr vor existentieller Vergänglichkeit, weil wir um unser ewiges Sein wissen. Wir suchen nicht mehr nach Liebe und Anerkennung, weil wir die Quelle davon in uns selbst entdeckt haben. Wir brauchen nichts mehr von der Welt. Und gerade deshalb können wir unsere Lebenskraft frei an die Welt verschenken. Genauer gesagt: Wir spüren, wie sich Leben durch uns an sich selbst verschenkt. Wie genau und in welchen Lebensfeldern sich das ausdrückt bleibt ein Mysterium. Vielleicht pflanzen wir  ein paar bunte Blumen an Stellen, die sonst lieblos grau geblieben wären. Vielleicht zeigen wir eine Geste der Hilfsbereitschaft für einen bedürftigen Menschen. Oder wir finden neue Möglichkeiten des kreativen Ausdrucks, die andere Menschen beglücken. Vielleicht zieht es uns auch zu deutlich sichtbarem, sozialem Engagement. Wir begleiten Menschen in ihrer Entwicklung oder unterstützen sie auf andere Art. Und es mag auch sein, dass wir politisch aktiv werden. Dann mischen wir  uns ein in gesellschaftliche Debatten oder politisches Handeln regional, national oder international. Das alles kann jetzt selbstlos geschehen. Die neue Weltzugewandtheit geschieht von alleine, ohne dass wir krampfhaft an vorgestellten Ergebnissen festhalten oder auf persönliche Belohnung hoffen.


Neue Weltgewandtheit

Diese Art der wohlwollenden Zuwendung zur Welt scheint manchmal merkwürdig paradox: Einerseits wissen wir aus einer absoluten Sichtweise heraus um die schon jetzt vorliegende Vollkommenheit allen Seins. Andererseits kann unser Leben zugleich dafür genutzt werden, diese relative Welt zu einem vollkommeneren Ausdruck von Freiheit und Liebe – zu einer „besseren Welt“ - werden zu lassen. Beides sind die Seiten ein und derselben Wahrheitsmedaille. Vollkommenheit kann dann beides bedeuten: Das Streben nach höheren Facetten von Vollkommenheit vollkommen zu lassen und höhere Vollkommenheit voll kommen zu lassen. Dann verschmelzen Weltabgewandtheit und Weltzugewandtheit vielleicht zu einer vollkommen neuen Art der Weltgewandtheit. Wir werden sehen.

Torsten Brügge, Baden-Baden September 2014

 

 

 

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Herzzerreißende Rache
Die neusten Entwicklungen im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erlebe ich als herzzerreißend schmerzlich. Drei israelische Jugendliche wurden entführt und kaltblütig umgebracht. Entsetzen und der Schmerz der Angehörigen und anderer Israelis sind wohl kaum zu ermessen. Die Wut auf die Ausführenden solcher Gräultaten ist zunächst verständlich. Der archaische Anteil unserer menschlichen Psyche reagiert auf solchen Schmerz rasch mit Gedanken an gewalttätige Rache. Noch schmerzhafter ist, dass es in Nahost nicht bei Rache-Gedanken bleibt. Tatsächlich gab es grausame Vergeltungsschläge. Die lösen dann rasch die typische Spirale von Gewalt und Gegengewalt aus. In diesen Tagen schraubt sie sich wieder mächtig in die Höhe. Beide Parteien gehen nach demselben primitiven Prinzip vor: Rache.
Im Angesicht dieses schon Jahrzehnte andauernden Schlagabtausches kam bei mir der Gedanke auf "Das ist wie im alten Testament: Auge um Auge. Zahn um Zahn." Die Bibelstelle im 2. Buch Mose klingt wie eine genaue Handlungsanweisungen für einen Schlachter oder Folterknecht: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.“ Doch dann wurde mir klar: Das Auge-um-Auge-Prinzip entspricht keineswegs den Vergeltungsmaßnahmen der gegnerischen Parteien im nahen Osten. Bei den Israelis ist das vordergründig sehr offensichtlich. Mit Zahlen von Todesopfern zu hantieren ist eine heikle Sache, da sie den dahinter liegenden Schmerz der Betroffenen mit kühler Statistik ausblenden. Doch die nackten Ziffern haben in diesem Konflikt eine Aussagekraft, die man nicht ignorieren kann.


Schlimme Unverhältnismäßigkeit
Die „Zeit“ schrieb Ende 2012: „Auch wenn die Israelis einen Preis zahlen, steht er in keinem Verhältnis zu dem der Palästinenser. Die – bisher – beispiellose Gewaltanwendung während der Offensive Gegossenes Blei im Jahr 2008/2009 zeigte sich allein schon im extrem ungleichen Verhältnis der Opferzahlen: Den 1.400 palästinensischen Toten standen 13 israelische gegenüber.“ (http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-11/israel-gaza-militaer-hamas-angriffe) In den anderen Phasen des Konflikts war das Zahlenverhältnis nicht derart extrem, doch es fiel immer massiv zu Ungunsten der Palästinenser aus. Und diese Opferzahlen sind kein Zufall, sondern auf den bewussten Einsatz der vielfach stärkeren Militärmittel Israels zurückzuführen.


Von wegen faire Vergeltung
Ich will hier keineswegs das Vorgehen der Palästinenser mit ihren ebenso grausamen Selbstmordattentaten und dem wiederkehrenden Raketenbeschuss israelischer Wohnviertel rechtfertigen. Sie gehen ebenso nach einem archaischen Racheprinzip vor. Würden die radikalen Kräfte in Palästina über zerstörerische Mittel verfügen, würden sie vermutlich ebenso unverhältnismäßig töten. So stellt auch die ständige Gewaltbedrohung der  israelischen Bevölkerung durch palästinensische Extremisten ein große Belastung da. Doch die Unverhältnismäßigkeit der Gewaltanwendung zu Ungunsten Palästinas scheint für mich erschreckend offensichtlich.
In den nächsten Wochen wird sich zeigen, wie viele Menschen auf beiden Seiten im Zuge der Gewaltspirale, die auf den Mord an den drei israelischer Jugendlichen folgt, sterben müssen. Schon jetzt während ich schreibe sind neben den 3 Todesopfer auf israelischer Seite 120 Todesopfer auf palästinensischer Seite zu beklagen. Ganz zu schweigen von dem Leid all der Verwundeten und den langfristigen Kriegsfolgen der massiven Zerstörungen. Heute habe ich die Nachricht gehört, dass mittlerweile 1100 Luftangriffe mit insgesamt 800 Tonnen Bomben auf den Gazastreifen, ein Gebiet halb so groß wie Hamburg, gefallen sind. Dort gibt es keine Bunker oder Schutzräume! 
Erst durch die Offensichtlichkeit der drastischen Unverhältnismäßigkeit wurde mir klar: Das Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Prinzip dient tatsächlich als intelligente Abmilderung ausufernder archaischer Blutrache. Auf der Ebene von Vergeltung bringt dies immerhin eine gewisse Fairness: „Schlägst Du mir einen Zahn aus, darf ich Dir auch einen ausschlagen. Aber wirklich nur einen!" Wenn schon auf Vergeltung nicht verzichtet wird, wäre es doch wünschenswert, sich wenigstens an dieses biblische Prinzip zu halten! Das würde die Gewalt um vieles mindern.


Innehalten im Racheimpuls
Zugleich ist eine nachhaltige Befriedung der Gewalt erst in Sicht, wenn das Vergeltungsprinzip grundsätzlich hinterfragt und auf Racheakte verzichtet wird. Die Gestalt Jesu im neuen Testament bietet genau dieses andere Modell: „Wenn dich einer auf rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die linke hin“. Damit lädt Jesus zu einem radikalen Innehalten im Rachereflex ein. Das bedeutet nicht, dass Gewaltverzicht immer die Lösung ist. Kommt Gewaltlosigkeit nicht aus innerer Überzeugung, sondern ist nur äußerliche verordnet, wird sie nicht nachhaltig wirken. Doch wenn rachsüchtige Vergeltung als unvermeidliche Lösungsstrategie dargestellt wird, so zeigt Jesus hier eine andere reifere Wahlmöglichkeit auf.
Im Racheimpuls innezuhalten ist wahrlich keine Kleinigkeit. Denn damit verzichten wir auf Verteidigung und Gegenwehr. Sich nicht zu wehren, bedeutet die Verletzlichkeit und Vergänglichkeit unseres Seins als körperliches und soziales Wesen zuzulassen. Wir gehen das Risiko ein, dass unsere Identität als Körper und unsere erweiterten Identitäten mit Partnerschaft und Familie ausgelöscht werden. Das ist die direkte Begegnung mit Todesangst und Verlustserdenschmerz. Um trotz Todesbedrohung innezuhalten, braucht es die Bereitwilligkeit den Schmerz, der den Racheimpuls antreibt, unmittelbar zu spüren. Schrecken. Trauer. Hilflosigkeit. Verzweiflung. Das sind tiefere Schichten brennender Gefühle, die wir gewöhnlich durch das Ausagieren des Zornes oberflächlich entladen oder kontrollieren wollen.
Solches unmittelbare Fühlen ist schon in eher harmlosen Alltagssituationen eine Herausforderung: Unser Chef stutzt uns Recht. Unser Nachbar will uns vervollkommnen. Unser Lebenspartner hat schon wieder etwas an uns auszusetzen. Blitzschnell taucht ein Racheimpuls auf. Als archaische Überlebensstrategie ist das ganz natürlich. Wir alle verfügen über das Stammhirn eines Alligators als einen Teil unseres dreiteiligen Gehirns. Das hat einen Beißreflex und schlägt gerne blitzschnell um sich, wenn es sich bedroht fühlt. Meist mildert unser sozialeres Säugetiergehirn den Impuls ab. Es weiß, dass wir uns auch anpassen müssen, wenn wir in der Herde überleben wollen. Wir bleiben freundlich und zugewandt. Unsere Großhirnrinde korrigiert auch mit gedanklichen Kommentare: „Das kannst du jetzt nicht so einfach rauslassen.“ Oft finden wütende Racheimpulse dann über einen Umweg doch ihren Ausdruck. Wir sind beleidigt. Wir zürnen heimlich. Wir schmollen und grollen. Meist in der Hoffnung, der Andere möge dadurch doch endlich seine Schuld einsehen und sich anders verhalten.


Alchemie des Schmerzes
Doch es gibt auch die Möglichkeit, den Rachegedanken – so normal ihr auftreten auch ist - nicht zwanghaft zu folgen. Dann eröffnet sich eine mystische Alchemie. Wir erfahren, wie ein Innehalten in Wut, Schmerz und Angst uns erstaunlicherweise zu innerem Frieden durchbrechen lassen kann. Das ist keine Zauberei, sondern eine Sache psychologisch-spiritueller Reife und direktem Erleben. Es ist möglich, in mitten von Trauer und Verzweiflung süße, transzendente Liebe zu erspüren. Es ist möglich, durch das freie Zulassen von Wut zu gelassener Kraft und liebevoller Klarheit zu finden. Es ist möglich, Angst unmittelbar zu erleben und durch sie hindurch zu allumfassendem Vertrauen in die Unberechenbarkeit des Lebens zu erwachen. Durch solche „inneren Alchemie“ weitet sich unser Identitätsgefühl von einem um sein Leben fürchtenden kleinen Ichs zum großen ICH-ICH des ewigen Seins. Von dort aus ist es ganz natürlich, ohne die schädlichen Auswirkungen von Schuld- und Vergeltungsgedanken zu leben und zu handeln. Das ist jedenfalls meine Erfahrung mit all den Wellen von heftigen Gefühlen, die in meinem Leben aufgetaucht sind.
Zugleich weiß ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn – wie in Nahost -  mir nahestehende Menschen willkürlich von Fremden entführt und getötet oder durch ihre Bomben zerfetzt würden. Würde in mir trotz solcher extremen Umstände die Bereitwilligkeit zum Innehalten wach bleiben? Würde ich etwaige Vergeltungsimpulse spüren, ohne sie zerstörerisch auszuleben? Wäre die Erkenntnis meiner wahren Natur als stilles, liebevolles Gewahrsein immer noch derart präsent, dass sie archaische Rachegelüste ins Leere auslaufen lässt? Ich weiß es nicht. Doch ich spüre die Kraft, dass es so sein könnte.


Innere Friedensförderung
Ein schönes Beispiel für das Potential des Innehaltens im Angesicht entsetzlicher Lebensereignisse zeigt der Film „Mein Leben ist meine Botschaft“ auf. Er dokumentiert das Wirken des vietnamesischen, buddhistischen Mönches Thich Nhat Hanh. In dem von ihm in der Nähe von Bordeau in Süd-Frankreich gegründete Praxiszentrum „Plum Village“ bietet er Meditations-Retreats an. Tausende Menschen habe diesen Ort schon besucht. Der Film schildert die berührende Begegnung von israelischen und palästinensischen Friedenaktivisten, die gleichzeitig an einem solchen Retreat teilnehmen. Die Schilderungen machen sehr deutlich, wie das Innehalten inmitten des schlimmsten Schmerzes zu einer tieferen Ebene von menschlicher Verbundenheit und Frieden führen kann.
 (Der Film ist hier zu erwerben: http://www.auditorium-netzwerk.de/AutorInnen/S-T/Thich-Nhat-Hanh/Thich-Nhat-Hanh-Mein-Leben-ist-meine-Botschaft-Thich-Nhat-Hanh-erzaehlt-sein-Leben::1554.html)
Diese Welt braucht Menschen, die die spirituelle Tiefe besitzen, sich nicht in Racheimpulsen gehen zu lassen, sondern auch durch den Schmerz hindurch den transzendenten Wesenskern des Menschen erspüren. Je mehr Menschen dazu innerlich bereit und fähig sind, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit für Frieden auch im Außen und in politischen Krisensituationen.
Manchmal gibt es berührende, ganz konkrete Beispiele von Menschen, die mitten im Feuer von Gewalt und Krieg leben und friedvoll bleiben: Zum Beispiel der Palästinenser Ismael Khatib. Sein zwölfjähriger Sohn wurde im Flüchtlingslager Dschenin auf tragische Weise von israelischen Soldaten erschossen. Statt Racheimpulsen nachzugeben, erklärte sich Khatib dazu bereit, dass die Organe seines Sohnes auch an israelische Kinder als Organspenden weitergegeben werden durften. Damit löste er eine Welle von Erstaunen, Betroffenheit und Dankbarkeit bei den Israelis aus. Vier israelische Kinder leben heute mit den Organen seines getöteten Sohnes.
Befragt ob er glaube, dass seine Geste hilft, dem Frieden näher zu kommen, antwortet er: „Ich hoffe es. Die Organspende war für mich eine größere Tat, als wenn ich als Selbstmordattentäter nach Israel gegangen wäre.“ (Hier der Link zu einem Artikel und dem Dokumentarfilm über diese außergewöhnliche Handlung: http://derunertraeglichestandpunkt.de/?nodeID=361
)
Solche Taten machen deutlich was Mahatma Ghandi schon vor 70 Jahren sagte: „Es gibt keinen Weg zum Frieden. Frieden ist der Weg.“. Und mir fallen auch die Worte meiner Lehrerin Gangaji ein. Sie lädt im Angesicht des Leidens, dessen Zeuge wir in der Welt immer wieder werden, dazu ein, berührbar zu bleiben und immer wieder zum Kern friedvoller Liebe zurückzukommen. Sie sagt: „Wir können uns erlauben, unser Herz brechen zu lassen. Es kann immer weiter und weiter aufbrechen.“

Mögen alle Wesen ihre wahre Natur erkennen
Om Shanti

Torsten Brügge, Hamburg den 13.7.14

P.S.: mehr zu Gangaji: www.gangaji.org


 

 

 

 

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Posted by on in Wolf Schneider

Hallo Torsten,

nachdem ich gesehen hatte, dass du in deinem Blogeintrag vom 8. Mai Ken Jebsen aufgrund von Benjamin Krämers Einwand erst rausgenommen, ihn dann wieder reingenommen hast, fühlte ich mich angetickt, da doch mal selbst zu schauen, wer das ist. Ich kannte Jebsen bisher nicht. (In manchen Fällen funktioniert das Skandalisieren also, um bekannt zu werden).

(Aufgrund eines technischen Problems hatte ich Monate lang keinen Blogeintrag schreiben können und hatte auch keine Lust bzw. keine Zeit, mich dem Problem zu widmen. Nun habe ich es heute endlich mithilfe meines Webredakteurs lösen können. Dank also auch in der Hinsicht an Ken Jebsen ;-)

Ich hab mir dann den Youtube-Film angesehen, auf den du gelinkt hast, in dem er von einem Radio-Redakteur der Piraten interviewt wird und habe trotz der Länge dieses Films ihn bis zu Ende gesehen. Aus verschiedenen Gründen: wegen der m.E. tatsächlich existierenden Maulkörbe bzgl. Israel und Palästina, wegen der leidigen Frage was (politisch) braun und deshalb für Gutmenschen "untouchable" ist, und auch weil sein Ranting so nervt und doch so faszinierend leidenschaftlich ist, alles das hat mich dabei festgehalten.

Erstmal: Ich finde es gut, dass du Jebsens Namen in deinen Blog-Text wieder reingenommen hast. Er hat was zu sagen. Ausgrenzen ist (meist) keine gute Methode. Auch wenn Jebsen in manchem irrt (wie du und ich und wir alle) ist das kein Grund, ihn auf Verdacht als Braunen (Rechten) zu behandeln, nur um dadurch nicht selbst in Verruf zu kommen. Ausgrenzungsmethoden der politischen Korrektheit sind nicht nur nur Denkblockaden, innovationsfeindlich und einer Diskussionskultur unwürdig, sie sind auch menschlich unfein, können in Mobbing ausarten, haben schon 'Existenzen' (wirtschaftlich) vernichtet und Menschen in den Selbstmord getrieben. Obwohl es andererseits verständlich ist, dass man sich mit Menschen, die einen aufgrund einer Besessenheit, eines Ticks oder sonst einer Verirrung nerven, nicht beschäftigen will. Ich auch nicht. Ich möchte soweit ich kann der Souverän bleiben, der selbst entscheidet, welchem Thema er sich zuwendet.

Falls dieser Film über Jebsen ihn in seiner typischen Art zeigt, ist es eine arge Strapaze mit ihm einen Dialog führen zu wollen, denn er redet vor allem selbst gerne, viel, schnell und laut. Getrieben von seiner Wichtigkeit hat er keine Scheu, seinen Gesprächspartner zu unterbrechen überschüttet ihn dann wie ein Wasserfall. Oder eher – wegen der Wutladung seiner Rede – wie eine Maschinengewehrsalve. 

Jebsen findet Israel aggressiv. Da hat er recht. Israels Umgang mit den Palästinenern ist unmenschlich, und das wird nur nur von den USA so unterstützt und gut geheißen, sondern weitgehend auch von Deutschland, natürlich aufgrund des Schuldkomplexes Holocaust. Wer zu diesem Thema forscht und die Ergebnisse nicht für sich behält, greift in ein riesiges Wespennest voller Verdächtigungen, Maulkörbe, Missverständnisse und übler Nachrede. Da scheint mir – das hat Jebsen trotz seiner wütenden Art gut zur Sprache gebracht – ein Opferbewusstsein die Wurzel zu sein. Gewalttäter handeln oft im Opferbewusstsein. 

Der schlimmste Krieg aller Zeiten wurde am 1. September 1939 begonnen mit dem Angriff der deutschen Truppen auf Polen und Hitlers im Radio verkündeten Worten "Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen". Zurückgeschossen??? Es war doch ein Angriff und zudem auf einen viel schwächeren Gegner. Hitler selbst hatte ein Opferbewusstsein (das im 1. Weltkrieg unterlegene Deutschland, vom Versailler Vertrag gegängelt, das Gefühl von zu wenig Lebensraum usw.), und das verschmolz bei diesem Angriff mit dem aus verschiedenen Gründen ähnlichen Opferbewusstsein der Deutschen, kräftig unterstützt von raffinierter Propaganda. Man wollte den Eindruck erwecken sich zu verteidigen, während man angriff. 

Jeder Mensch hat ja eine gewisse Scheu vor Gewalt, aber wenn man in Not ist und sich verteidigen muss, gilt Gewalt als gerechtfertigt, deshalb versucht der Angreifer, insbesondere bei kriegführenden Mächten, sich als Opfer darzustellen, als selbst angegriffen und in Notwehr handelnd. So ja auch die Angriffe der USA auf Afghanistan und Irak nach 9/11, bei denen sich gemäß der Suggestionen ihrer Regierung der Großteil der US-Amerikaner als Opfer empfand, das sich gegen "die Terroristen" verteigen müsse.

Durch den Holocaust waren die Juden in eine maximale, kaum zu übertreffende Opfersituation geraten, was ja auch von fast jedem auf der Welt so gesehen und anerkannt wird. Und sie haben recht damit: Sie waren Opfer. Das gilt aber längst nicht mehr in dem Maße für den Staat Isreal, schon gar nicht seit dem Sechstagekrieg von 1967. Israel ist im Nahen Osten heute eine Großmacht. Die Opfer sind heute die Palästinenser. (Das alles sind natürlich Pauschalaussagen, im Einzelfall mag es auch mal anders aussehen. Sprache macht unvermeidlich immer Pauschalaussagen.) Die Israelis aber empfinden sich als Opfer, glauben sich in einer Notwehrsituation und deshalb berechtigt, Gewalt anzuwenden. Das prangert Jepsen zu recht an.

Nun ist Jepsens wütender Monolog aber selbst eine Art von Gewaltäußerung. Seine Wortkaskaden kommen mir vor wie Maschinengewehrsalven. Er redet seine Gegner nieder, sogar den ihm freundich gesonnen Radioredakteur redet er quasi über den Haufen. Wer Jebsen zuhört, kann nun leicht sich selbst als Opfer fühlen, niedergeredet, zugetextet, nicht gehört, nicht zu Wort gekommen – Jepsens Rede ist verbale Gewalt. Da muss man schon sehr viel Verständnis für Zusammenhänge haben, um nun nicht Jepsen zu attackieren, und so setzt sich die Gewalt unendlich fort.

Einwand: Jebsen wendet verbale Gewalt an, um Verhältnisse anzuprangen, die physische Gewalt anwenden. Verbale Gewalt – "Empörung" (Stephane Hessel) – gegen Verhältnisse übermächtiger physischer Gewalt, vielleicht ist das in manchen Situationen nicht nur verständlich, sondern gut. Anderseits traue ich einem Menschen, der wie ein Maschinengewehr redet auch physische Gewalt zu. Vielleicht lässt er so Dampf ab – Hunde, die bellen, beißen nicht. Vielleicht aber redet er sich dabei in Rage und ist danach noch wütender als voher. Ich weiß es nicht. Und ich habe wirklich nur diesen Film von ihm gesehen, sonst nichts, und habe auch keinen Text von ihm gelesen. 

Trotzdem: Danke für die Gelegenheit zu dieser Untersuchung des Gewaltpotenzials von Opferbewusstsein!

LG

Wolf

 

 

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Dieser Text beinhaltet:

…  eine Fürsprache für eine ganzheitliche Wahrnehmung in politischen Konflikten, einschließlich innerer Erlebensanteile

…  ein Einfühlungsversuch in die „russische Seele“ bezüglich des Ukraine-Konflikts

…  eine Anregungen zur Bildung von globalen integralen Mediatoren-Teams

Bei der Beschäftigung mit der politischen Krise in der Ukraine ist mir noch einmal bewusster geworden, was ich an politischen Diskussionen und Handlungsweisen oft als einseitig empfinde. Diese Einseitigkeit trägt zu unbefriedigenden Konfliktlösungen und manchmal sogar schlimmen Eskalationen bei. In diesem Beitrag erläutere ich, um welche Art von Einseitigkeit es sich handelt, wie sie durch erweiterte Sichtweisen ergänzt werden kann und welche hilfreiche Auswirkung dies hat.
Ich will in Kürze andeuten, was ich unten ausführlich und konkret beschreibe: Politische Betrachtungen fokussieren oft zu sehr auf äußere Sachverhalte und vernachlässigen das innere Erleben der beteiligten Menschen. Solch eingeengte Perspektive erschwert es, zu ganzheitlichen Betrachtungen und nachhaltigen Lösungen zu kommen. Was wir brauchen ist nicht nur politisches Denken und Handeln, sondern eine neue Art des politischen Fühlens und Einfühlens. Dies wird erst durch ein hohes Maß an psychologischer und spiritueller Bewusstheit möglich. Politische Einfühlung stellt eine große Herausforderung da. Gelingt es uns aber, auch das innere Erleben beteiligter Menschen aus einer wertfreien und liebevollen Haltung zu beleuchten, öffnet sich ein Raum für ungeahnte Potentiale. Fronten weichen auf. Spannungen lösen sich. Neuartige Lösungen tun sich auf. Frieden wird möglich. Und - wer weiß - vielleicht rückt sogar eine belächelte Utopie wie „der Weltfrieden“ in greifbarere Nähe.

Nur Außen - kein Innen

Für eine genaue Betrachtung dieses Themas ist ein philosophisches Konzept äußerst hilfreich: Das "Integrale Modell des Bewusstseins" von dem amerikanischen Gelehrten Ken Wilber. Es setzt sich aus fünf Grundelemente zusammen: Quadranten, Entwicklungsebenen, Bewusstseinszuständen, Entwicklungslinien, Typologien. In ihrer Kombination bilden sie – nach Wilber – eine "Theorie von Allem". Ob man dieser hochtrabenden Aussage zustimmt oder nicht, meiner Ansicht nach eröffnet uns dieses Modell viele sehr hilfreiche Sichtweisen.
Gerade eine Betrachtung der „Quadranten“ kann für politische Sichtweisen und den Bereich der Konfliktklärung eine große Bereicherung sein. (Natürlich sind auch die anderen Elemente, gerade die Bewusstseinsebenen, genauso bedeutend, doch in diesem Text möchte ich zunächst nur auf die Quadranten eingehen)
Wilbers "Quadranten-Modell " besagt, dass jedes Phänomen des Lebens sich immer in vier Anteilen entfaltet. Hier eine kleine Einführung in die Thematik:
(wer schon mit dem Konzept der vier Quadranten vertraut ist kann diese überspringen und ab der Überschritt „Bitte alles einbeziehen“ weiterlesen)

Quadranten nach Wilber

Von innen wahrnehmen

Es gibt einen subjektiven, individuellen Anteil (oberer linker Quadrant, siehe auch Grafik). Das sind alle Erfahrungen, die ein Ich innerlich erlebt: Empfindungen. Gefühle. Gedanken. Glaubensmuster. Bedürfnisse. Selbstidentitätsempfinden usw. Die Wissenschaft der Psychologie - unter anderen Wissenschaftsdisziplinen – richtet ihren Fokus auf Erkenntnisse dieses Quadranten.
Das innerliche Erleben eines Individuums ist zugleich eingebettet in ein innerliches Gruppenerleben. Kommen mehrere Individuen zusammen, ergeben sich Anteile der Wirklichkeit, die Wilber im linken unteren Quadranten verortet. Hier spielt Kommunikation eine wichtige Rolle. Mehrere Ichs tauschen sich nonverbal und verbal aus. Es entsteht eine  gemeinsame Sprache. Kollektive Glaubensmuster und Identitäten bilden sich. Das „Wir“ teilt Werte, Gruppengefühle und gemeinsame Bedürfnisse. All das sind Themen einer innerlich, kollektiven Sichtweise (linker, unterer Quadrant). Als wissenschaftliche Paradedisziplin könnte man unter anderem Soziologie und Aspekte der systemischen Psychologie nennen.
Wichtig: Die Welt der beiden innerlichen Quadranten kann nicht einfach von außen wahrgenommen werden. Gedanken, Gefühle und Werteinstellungen können wir nicht als distanzierter Wissenschaftler mit dem Auge oder einem Mikroskop beobachten. Dieser Anteil der Wirklichkeit muss durch Dialog und offenes Einfühlen erfragt und erspürt werden.

Von außen beobachten

Dann gibt es noch die beiden rechten Quadraten. Sie beschäftigen sich mit von außen sicht- und messbaren Phänomenen. Aus der Sicht des rechten, oberen Quadranten beobachtet man das Individuum von außen. Man macht Aussagen über seine Gestalt, seine physische Zusammensetzung und sein Verhalten. Körperzustände. Lebensvorgänge im Organismus. Hirnaktivitäten. Solche Wissensfelder spielen hier eine Rolle. Die klassische Schulmedizin mit ihren Wurzeln in den Naturwissenschaften von Physik, Chemie und Biologie wären hier als Forschungszweige zu nennen.
Bleibt noch der vierte Quadrant (unten, rechts): Er beschäftig sich mit äußeren kollektiven Erscheinungen: Hier geht es um die Außenbetrachtung der Vernetzung individueller Elemente. Um komplexe Wechselwirkungen zwischen Lebewesen in der Biosphäre unseres Planeten. Um Entstehung von kulturellen Institutionen und politischen Systemen im Miteinander von Menschen. Die Systemwissenschaften erforschen diesen Quadranten.

Bitte alles Einbeziehen

Ken Wilber leitet aus diesem Quadranten-System eine eindringliche Bitte - ja Forderung - ab: Um ein beliebiges Geschehen in der Welt klar betrachten und dann angemessen Handeln zu können sollten wir immer alle vier Perspektiven einbeziehen. Ansonsten bleiben unsere Betrachtungen unvollständig, einseitig und wirken sich schädlich aus. Aus einer weisen Geisteshaltung heraus geschieht eine solche Einbeziehung aller Perspektiven oft intuitiv. Zugleich hilft uns die bewusste Reflektion aller Quadranten, Einseitigkeiten zu vermeiden und eine umfassende Sichtweise zu eröffnen. Ich wünschte möglichst viele Journalisten und Politiker würden von dieser Möglichkeit hören und sie nutzen!

Wahrer Journalismus ade?

Schauen wir uns die öffentliche Diskussion in den deutschen Massenmedien in den ersten Wochen der Ukraine-Krise an. Worauf richten Politiker und Journalisten ihren Fokus? Welche Perspektiven werden eingenommen und dargestellt? Ganz oft reden Meinungsmacher über die äußeren Aspekte des politischen Geschehens - also über die beiden rechten Quadranten des Wilber-Modells: Es geht um das beobachtbare Verhalten von Machthabern und Bevölkerung. Journalisten berichten, was, wer, wann, wo getan oder gelassen hat. TalkshowmoderatorInnen palavern mit ihren Gästen darüber, welche politischen und wirtschaftlichen Systeme wie beeinflusst werden, welche Regionen und Volksgruppen betroffen sind, welche Gesetze oder Verträge gebrochen wurden.  Politiker beziehen sich auf Parallelen in der Geschichte. Staatsmänner - und Staatsfrauen - spekulieren über den Einsatz von diplomatischen, wirtschaftlichen oder militärischen Machtinstrumenten. Bei all diesen Themen handelt es sich um Rechte-Quadranten-Perspektiven.

Propaganda Mainstream

Hinzu kommt, dass aktuelle Reflektionen oft von einem oberflächlichen, trennenden Schwarz-Weiß-Denken durchzogen sind. Besonders in der ersten Zeit der Krim-Krise – und auch jetzt noch - erschreckte es mich, wie sehr ein Großteil der Politiker und auch der Journalisten quasi zwanghaft einer Blocklogik aufgesessenen sind. Die eigentliche Aufgabe seriöser journalistischer Tätigkeit besteht darin, als neutraler Beobachter alle Aspekte eines Geschehens zunächst wertfrei zu beleuchten. Aber viele Mitglieder dieser Zunft  schienen dies nahezu ins Gegenteil zu verkehren! Sie schlugen sich parteiisch auf eine Seite der Konfliktparteien – in den deutschen Medien auf die Seite der USA und EU. Bekannte Meinungsmacher ließen sich vollkommen unkritisch in den Mainstream einer Russland abwertenden Kampagne einreihen – fast als wären sie die fünfte Kolonne der USA. Gott sei Dank gibt es Ausnahmen. Manche Journalisten und Politiker vertreten eine sehr differenzierte, unparteiische, sich in alle Seiten – auch die russische - einfühlende Sicht. Dazu gehören – meiner Ansicht nach - die Journalisten Gabriele Krone-Schmalz, , der Linken-Politiker Gregor Gysi, der Moderator Ken Jebsen  und der CDU-Politiker Willy Wimmer und Andere. Ich werde später auf einige dieser Personen und ihre Beiträge zurückkommen. (*da es sich bei Ken Jebsen um eine politisch recht umstrittene Figur handelt, habe ich für Jebsen-Kritiker eine Fußnote in den Kommentaren dazu geschrieben)

Was allerdings in der Verblendung der Mainstream-Parteilichkeit hauptsächlich geschah könnte man in einem „Kurzhandbuch der Propaganda“ nachlesen: Die Machthaber der Gegenpartei sind „die Bösen“. Sie werden als undemokratisch, aggressiv und machtbesessen abgestempelt. Ihre Handlungen sind unberechenbar und eigennützig. Sie brechen Völkerrecht. Im extremen Fall werden sie gern mit dem - schon inflationär gebrauchten - Modewort „Terroristen“ abgestempelt und zum Abschuss frei gegeben.
Wer sind die „Guten“? Natürlich die eigene Seite. Die lobt sich dann als vernünftig, fair und friedliebend. Ihre Handlungen entspringen ausschließlich einer hehren Motivation, deshalb sind sie wohlmeinend und angemessen. Die „Guten“ versprechen Hilfe bei der Sicherung von demokratischer Freiheit, territorialer Integrität oder rechtmäßiger Selbstbestimmung. Die eigenen Verfehlungen und selbstbezogenen Beweggründe werden vollständig ausgeblendet und auf den Gegner projiziert.
Aus  solchen spaltenden Sichtweisen resultieren blitzschnell Rechte-Quadranten- Eingriffe: Staaten schränken ihre politischen und diplomatischen Beziehungen ein. Die „bösen Machthaber“ und „Schurken-Staaten “ werden von internationalen Zusammenkünften ausgeschlossen. Man fordert oder verhängt Wirtschaftssanktionen. Schaukelt sich die Stimmung weiter hoch, kommt es zu militärischen Drohgebärden oder gar realen, gewaltsamen Interventionen. Am Ende steht der „gerechte Krieg für den Frieden“.

Inneres Auge blind

Man beachte: Alles was in diesem Text bisher über politische Konflikte beschrieben wurde betrifft ausschließlich eine äußere Betrachtung. Eine differenzierte Betrachtung des inneren Erlebens der beteiligten Menschen ist in vielen politischen Reflektionen in radikaler Weise unterbelichtet, ja wird manchmal sogar gänzlich ausgeblendet. In der Sprache des Integralen Modells herrscht hier ein Quadranten-Absolutismus der beiden rechten Quadranten. Die linken Quadranten des inneren Erlebens werden unterdrückt. Es scheint fast so, als wäre die Welt der Politik auf einem ganzen Auge – nämlich dem inneren – blind.
Sicherlich stehen Entscheidungsträger in der heutigen Weltpolitik unter großem Handlungsdruck. Sie glauben vermutlich, sie müssten rasch die richtigen Entscheidungen treffen und schnell äußere Erfolge vorweisen. Doch worauf beruhen Entscheidungen und Handlungen, wenn wir die mitschwingenden inneren Aspekte einer politischen Situation in hohem Maße vernachlässigen?

Inneres beleuchten

Um die innerliche Dimension eines politischen Geschehens bewusst zu beleuchten, müssten wir im gleichen Maß, wie wir das Außen betrachten, nach dem Innen fragen. Das geht nur im Gespräch mit den Beteiligten: Wie geht es ihnen innerlich? Welche Bedürfnisse, Sehnsüchte und Hoffnungen haben sie? Was genau fühlen sie? Welche Motivation und welche Einstellungen treibt ihr Handeln an? Erleben sie Ängste, Sorgen oder Frustration? Gibt es emotionalen Schmerz oder Traumata, die einbezogen werden müssen? Worüber definieren sie ihr Selbstgefühl? Was brauchen sie, um Zufriedenheit und Glück zu erleben? Welche Strategien verfolgen sie dazu? Das alles sind Fragen des oberen linken Quadranten. Man spürt intuitiv, wie wichtig sie sind.
Und auch nach dem unteren linken Quadranten (dem inneren kollektiven Erleben) können wir fragen: Wie sehen die Weltsichten der Menschen aus? Welche Werte verbinden die Individuen? Welchen Ideen folgen sie? Wie entsteht ein Wir-Gefühl zwischen den Menschen? Wer gehört diesem Wir an, wer nicht und wieso? Wie wird miteinander kommuniziert und Verständnis hergestellt? Was trennt Individuen voneinander und was verbindet sie?
 
Auf solche Fragen finden wir keine Antworten, wenn wir das politische Geschehen nur distanziert von außen betrachten und über die Menschen reden. Nein, wir müssen in einen einfühlsamen Dialog treten. Erst durch eine offene und neugierige Haltung können wir ergründen, was in den Menschen – sowohl den Machthabern, als auch den „kleinen Leuten“ - unmittelbar vor sich geht.
Was ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen tut, ist untrennbar damit verbunden, was sie empfinden, fühlen und denken. Handlung isoliert von Einstellung, Emotion und Motivation zu betrachten reicht nicht aus. Es ist genauso wichtig, das innere Erleben zu kennen, wie das äußere Verhalten zu beobachten. Das ist wahrlich keine neue Erkenntnis, aber warum wird sie in der Politik so wenig umgesetzt?

Nachbarschaftskrieg mit Vorwurfssalven

Gerade in Konfliktsituation scheint es allerdings eine menschliche Grundneigung zu sein: Anstatt unser inneres Erleben zu erkunden, linsen wir lieber auf das Außen und suchen dort nach dem Schuldigen. Das zeigt sich schon in den kleinen Auseinandersetzungen des Alltags mit Beziehungspartner oder Nachbarn: „Du hast wieder diese Unordnung angestellt. Das hättest Du nicht tun sollen!“ „Naja, nur weil Du Dich auch immer in meine Sachen einmischst. Lass das!“ Bleiben wir im Streit bei Betrachtungen auf der Handlungsebene stecken, nützt das oft wenig. Im Gegenteil: Vorwürfe und Änderungsforderungen schaukeln sich nur gegenseitig hoch. „Du hast…“ – „Nein, Du bist…“ – „Ne Du…“ – „Quatsch, Du…“ – „Du!“ – „Du!“ – „Du!“ – „Du!“ … . Solche verbalen Schlagabtausche klingen schnell wie Salven aus einer Maschinenpistole. Der Streit eskaliert. Am Ende herrscht Beziehungs- oder Nachbarschaftskrieg.

Psycho-spirituelle Intelligenz

Menschen, die sich intensiv mit psychologischen und spirituellen Ansätzen beschäftigen, wissen sehr genau, was echte Hilfe in Zerwürfnisse bringt: Die Einbeziehung des inneren Erlebens. Sie ist unabdingbar, um auch im Außen Klarheit und heilsame Lösungen zu finden.
Dabei begegnen wir der Herausforderungen, unser inneres Ereleben sehr genau unter die Lupe nehmen und zunächst zu einer Haltung der Nicht-Reaktion finden zu müssen. Hier ist emotionale und spirituelle Intelligenz gefragt: Können wir auf schnelle Interpretationen, Wertungen und Verurteilungen verzichten und stattdessen offen für eine neutrale Sichtweise sein? Können wir von Projektionen und Vorwürfen zurück zu unserem eigenen innerem Erleben kommen? Ist es möglich, uns einzugestehen, dass wir zunächst überhaupt nicht wissen, was das „Richtige“ und „Falsche“ ist? Sind wir bereit, uns auch dem Aufwallen von unangenehmen Gefühlen in uns zu stellen, ohne uns in gewohnten Abwehrreaktionen gehen zu lassen? Können wir auch die Schattenbereiche unserer Psyche, wie Ängste, Zorn und Hilflosigkeit, achtsam einbeziehen, ihnen mit Annahme begegnen und Raum geben?

Fühlen verbindet

Sobald wir die Bereitwilligkeit aufbringen, unser inneres Erleben aufrichtig einzubeziehen und ohne Wertung zu erfahren, beruhigt sich ein Großteil unserer Erregung. Wir hören auf, unserem Gegenüber Vorwürfe in Du-Botschaft an den Kopf zu werfen. Wir fangen an, über unsere eigenen Erfahrungen aus einer Ich-Perspektive zu sprechen: „Ich war einfach enttäuscht, dass Du nicht gesehen hast, wie wichtig mir die Ordnung ist.“ Oft spürt unser Konfliktpartner dann schnell, dass wir ihm eigentlich nichts Böses wollen. Er erlaubt sich dann ebenfalls, über sich selbst sprechen. „Ach so. Ich wollte doch auch nur, dass Alles seinen Platz hat. Das sieht bei  mir nur manchmal anders aus. Dann habe ich einen Schreck bekommen, als Du so heftig reagiert hast und bin deshalb wohl wütend aufgetreten.“ Begegnen wir uns mit Verständnis auf dieser menschlichen Gefühlsebene, verändert sich die Stimmung rasch. Wir werden gelassener und friedvoller. Schließlich gelingt es uns sogar, uns in das Erleben unseres Gegenübers einzufühlen: „O.K. Ich glaube, ich weiß jetzt besser, was Du und ich eigentlich wollen. Lass uns doch noch mal neu schauen, ob wir eine Lösung finden können, die für uns beide stimmig ist.“
Durch Einfühlung entsteht ein Raum gegenseitigen Verständnisses und Wertschätzung für die hinter den Handlungen stehenden Gefühle und Bedürfnisse. Die ausgelösten Emotionen dürfen in der Weiträumigkeit echten Mitgefühls schwingen und lösen sich dann wie von alleine auf. Oft wollen beide Konfliktparteien etwas durchaus Achtenswertes, auch wenn die Strategien, es zu erreichen, gegenläufig sein mögen und sich ungut auswirken. Doch sobald die „positive Absicht“ – wie es in der Hypnotherapie so hilfreich genannt wird – gefunden ist, entspannt sich der Konflikt. Dann tauchen oft frische Ideen und Handlungsmöglichkeiten auf.

Wuchtige Aufgaben

Ein solch gelassenes und besonnenes Vorgehen ist bereits im alltäglichen Umfeld eine wuchtige Aufgabe. Schon bei belanglosen Auseinadersetzungen über das Herunterbringen des Mülls oder die Reinigung des Treppenhauses geht es manchmal hoch her: Eingeschliffene Gewohnheiten stoßen aufeinander. Emotionsvulkane brechen aus. Fronten verhärten. Um wieviel mehr brodelt es, wenn es in großen politischen Konflikten um viel gewichtigere Sachverhalte geht: Um Gewalt. Um Vertreibungen. Um Folterungen. Um Mord und Totschlag.
Vermutlich ist die Verlockung dort umso größer: Anstatt, dass sich die Konfliktparteien einem Prozess der Selbstreflektion stellen und sich Einfühlung für sich selbst und ihre Gegenüber zu erlauben, scheint es leichter auf den Anderen zu schauen. Dann werden mit Pauschalurteilen schnell die „Bösen“ ausfindig gemacht und auf der Handlungsebene mit Bestrafung gedroht oder Belohnung gelockt. Solches Vorgehen lässt die inneren Aspekte, die hinter dem Verhalten liegen, unberücksichtig. Deshalb bleiben Lösungen äußerlich verordnet und halbherzig. Konflikte schwelen meist untergründig weiter oder verschieben in andere politische Felder. Umso dringlicher werden Konfliktlösungen, die alle Dimensionen der Lebens und Erlebens einbeziehen!

Innehaltende Politiker?

Doch haben unsere heutigen Politiker und Machthaber überhaupt die Bereitwilligkeit und Fähigkeit, sich in das Innenleben einer politischen Krisensituation einzufühlen? Mir scheint es nicht gerade so. Sicher, es gibt immer wieder Gesprächsversuche auf diplomatischer Ebene mit dem Ziel, friedliche Lösungen zu finden - zuletzt in Bezug auf die Ukraine-Krise das Treffen der Außenminister in Genf. Tatsächlich würde ich dort gern mal Mäuschen spielen und lauschen, wie diese Gespräche ganz konkret ablaufen. Meine Vermutung ist, dass auch solche Verhandlung mit einem einseitigen Fokus auf äußere Faktoren und Lösungsmöglichkeiten ausgerichtet sind. Ich vermute die vielfältigen Aspekte inneren Erlebens werden kaum berücksichtig - geschweige denn einfühlsam erkundet.
Kann ein Frank Walter Steinmeier - ohne sofort Partei zu ergreifen - offen erfragen und sich emotional einschwingen, welche Bedürfnisse und Gefühle auf allen Seiten zu Tage treten? Kann eine Angela Merkel ihre eigenen Ängste wahrnehmen und sie erst einmal zulassen, ohne in vorauseilender Pflichttreue zu Bündnispartnern oder hinter dem Schutzschild einer „neuen deutschen Stärke“ Sicherheit zu suchen? Kann ein Wladimir Putin sich seines zornigen Machtdranges bewusst werden und das dahinterliegende Gefühl der Schwäche zulassen, ohne zwanghaft mit den Muskeln zu protzen? Ist ein Barack Obama fähig innezuhalten, seine eigene Hilflosigkeit zu spüren und sich einzugestehen, dass das Saubermann-Image der USA als „Supermacht des Völkerrechts“ längst der Vergangenheit angehört? Ich weiß es nicht. Doch ich vermute sie können es alle nicht! Oder sie haben es schlicht und einfach nicht gelernt, aufrichtig mit und achtsam für ihr eigenes inneres Erleben zu sein.
Ich spreche diesen Politikern keineswegs eine positive Absicht ab. Ich glaube sogar, sie meinen aus ganzem Herzen wirklich gut. Viele von ihnen verfügen sowohl über enormes historisches und politisches Wissen, als auch über Erfahrung mit den Tanzschritten auf dem politischen Parket. Doch offensichtlich reicht das nicht. Warum? Weil es nur die – äußere – Hälfte der Welt ist. Das innere Gefühl für den zwischenmenschlichen Tanz fehlt. Dann werden die eigenen Füße zu brandgefährlichen Stolperfallen.

Raum geben

Um der inneren Dimension in schweren politischen Krisen angemessenen Raum zu geben bräuchte es viel: Erfahrene Vermittler müssten um die Bedeutung der inneren Dimension wissen und fähig sein, dies den Konfliktparteien auf eine überzeugende Art zu vermitteln. Sie müssten die Fähigkeit haben, zu einem höchstmöglichen Maße neutral zu bleiben indem sie auf sämtliche trennenden und spaltenden Beiträge verzichten, bzw. sie als solche erkennen und entkräften. Zugleich bräuchte es Menschen, die auch emotional schwingungsfähig sind. Denn neben mentaler Neutralität ist auch eine Atmosphäre tiefgreifenden Mitgefühls erforderlich. Das Leid aller Beteiligten muss authentisch geachtet und gewürdigt werden, bevor es um Lösungen gehen kann! Erst durch das freien Zulassen auch des schlimmsten Schmerzes können sich die Parteien der Leid erzeugenden Auswirkungen ihres Handelns bewusst werden. Das ist bei Leibe keine Gefühlsduselei, sondern die unabdingbare Einbeziehung eines seelischen Verarbeitungs- und Heilungsprozesses.
Aus solch einem politischen Einfühlungsprozess könnten dann Lösungen hervorgehen, die nicht mehr nur Symptom verschiebendes Flickwerk darstellen, sondern nachhaltig den Bedürfnissen aller gerecht werden. Das würde wirksam Versöhnung und Frieden herstellen und wahren.

Experten für das Innen

Es scheint mir,  dass es für diese Art von Konfliktklärung Menschen braucht, die eine hohe psychologisch-spirituelle Reife gerade auf der Dimension inneren menschlichen Erlebens verwirklich haben. Als Beispiel fällt mir hier der vietnamesische Zen-Mönch Thicht Nath Than. Er ist auch auf der politischen Bühne kein Unbekannter. Immerhin hielt er 2003 in Washington eine Rede vor Mitgliedern des amerikanischen Kongresses und leitete sogar einen Workshop für sie. Viele waren sehr berührt von ihm und seiner Arbeit.
Oder wie wäre es mit dem Mediator Marshall Rosenberg, Begründer der Gewaltfreien Kommunikation. Er wandte seine einfühlsame Kommunikationsmethode selbst unter schwierigsten Umständen, wie bei der Vermittlung zwischen verfeindeten Volksgruppen in Israel, Palästina, Ruanda und Kroatien, erfolgreich an.
Auf jedenfalls braucht es Menschen mit tiefen spirituellen Erkenntnissen, die zunächst für sich selbst eine Ebene von innerer Ruhe und Erfüllung erfahren haben, die unabhängig von materiellem Wohlstand, sozialer oder territorialer Zugehörigkeit ist. Nur ein  Mensch, der zu einem großen Maß in der allumfassenden Liebe transzendenten Seins ruht, weiß: Es gibt eine Ebene des Seins, die alle Menschen miteinander verbindet, egal welcher Rasse, welchem Staat, welchen Religionsgruppe oder politischen Ausrichtung sie angehören. Erst so ein Mensch kann die erforderliche Gelassenheit aufbringen, inmitten von verfeindeten Stellungen ein Höchstmaß an geistiger Offenheit und Mitgefühl zu bewahren - und dies eventuell auch Anderen vermitteln.

Globale Integrale Mediatoren-Teams

Außerdem bräuchte es vermutlich „Überblicks-Experten“, die sich gut mit einer integralen Sichtweise (im Sinne Ken Wilbers) auskennen. Diese könnten den Konfliktparteien die Bedeutung des inneren Erlebens – und anderer integraler Aspekte - in einer größeren Gesamtschau plausibel darstellen und zu einem integralen Vorgehen motivieren. Kooperierende Teams aus Fachkundigen für das Außen (Politikern), das Innen (psychologisch-spirituell geschulten Mediatoren) und für ein Überblickswissen (integrale Gelehrte) wären vermutlich die wirksamste Krisenprävention und -intervention, die man sich vorstellen könnte.
Vermutlich müssten solche Teams in bereits bestehen internationalen und globale Institutionen eingebettet werden. Da scheint aktuell die OSZE (Organisation für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa) vielleicht die beste Wahl. Oder aber es bräuchte die Gründung neuer „globaler integraler Mediatorenteams“ zum Beispiel im Rahmen der UN.
(Tatsächlich weiß ich nicht, ob es solche Impulse nicht schon längst gibt. Nach meinen bisherigen Recherchen scheint es zwar – gerade im Rahmen der OSZE – durchaus einige Konfliktvermittlungs und -lösungsstrategien zu geben, die aber die in diesem Text erwähnten „inneren Perspektiven“ nahezu unberücksichtigt lassen. Ich lasse mich aber von sachkundigen Lesern gerne eines Besseren belehren. Bitte dafür die Kommentarfunktion nutzen)

Einfühlung in die „russische Seele“

Das Erkunden des inneren Erlebens führt auch in der Krim-Krise zu einem viel umfassenderem Verständnis, als wenn wir ausschließlich die äußeren Sachverhalte betrachten. Dazu müssen wir nach den linken Quadranten fragen: Welche inneren Regungen und Impulse bewegen den russischen Machthaber, so zu handeln, wie er es getan hat? Was fühlt er - und viele andere Russen, die seinen politischen Kurs unterstützen? Wie geht es der „russischen Seele“?  Was sind Russlands Interessen und Bedürfnisse, die zum Beispiel zu der „Annektierung“ der Krim geführt haben? Welche Bedürfnisse und Stimmungen haben die Menschen in den verschiedenen Regionen der Ukraine? Was bewegt sie? Worüber definieren sie sich? Was frustriert sie? Was macht ihnen Sorgen? usw.
Solche Fragen sollen keineswegs das Vorgehen und die Strategien Putins - und mit ihm sympathisierenden Menschen – rechtfertigen. Doch bei einer Erkundung des Inneren, ist das äußere Verhalten und Handeln zunächst sekundär. Wir wollen uns erst einfühlen und Verständnis aufbringen bevor wir bewerten und handeln. Die angesprochene Journalistin Gabrielle Krone-Schmalz erwähnt in einem Interview eine Indianerweisheit, die eine solche Einfühlung betont: "Großer Geist, gib, dass ich meinen Nachbarn nicht eher tadele, als dass ich eine Meile in seinen Mokasins gewandert bin". Krone-Schmalz meint: Guter Journalismus zeichnet sich dadurch aus, sich in „die Lebensrealität derjenigen zu versetzen, über die man berichtet“. Eine solche journalistische Haltung weist auf die große Bedeutung einer Linken-Quadranten-Perspektive hin. Dies ist ein wichtiger Bestandteil eines reifen, integralen Journalismus. (Interview mit Gabrielle Krone-Schmalz zur Kritik an der Berichterstattung der Medien bezüglich der Ukraine-Krise http://www.youtube.com/watch?v=22VfEe1RkH8)

Mut zur Weichheit

Das hier beschriebene politische Einfühlungsvermögen mag sich zunächst nach einer sehr weichen - ja geradezu schwächlichen - Haltung  anhören. Doch haben wir nicht schon oft genug erfahren, wie gerade eine Haltung der Härte und Stärke zerstörerischeren Streit und Gewalt immer weiter ankurbelt? Könnte es sich da nicht lohnen, Mut zu Weichheit und vermeintlicher Schwäche aufzubringen? Könnten wir nicht mal wagen, unserem Gegenüber mit einem Vertrauensvorschuss entgegenzukommen, statt gleich aus der Misstrauensknarre Schuldzuweisungen zu feuern? Ganz nebenbei: Eine kurze Erinnerung an das neue Testament und die Haltung Jesu könnte es übrigens den deutschen sogenannten „christlich-demokratischen“ Politkern erleichtern, zu einer offeneren Haltung zurückzufinden.
Tatsächlich ist Verständnis das beste Eingangstor zur Klärung von Zerwürfnissen. Fühlt sich ein Konfliktpartner erstmal auf einer inneren Erlebensebene verstanden und „abgeholt“, ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass auch er weicher wird. Die Spirale gegenseitiger Schuldvorwürfe entschraubt sich. Beide Parteien wagen mehr und mehr, sich auf eine kooperative Haltung einzulassen. In einer Atmosphäre gegenseitigen Verständnisses keimt wieder Vertrauen auf. Das Gegeneinander wird von einem Miteinander abgelöst. Ein gemeinsamer Raum für neue Möglichkeiten öffnet sich wieder.

Verständnis für Bedrohungsempfinden

An dieser Stelle möchte ich kurz inhaltlich konkreter werden und zumindest einen Teilaspekt einer Erläuterung des inneren Erlebens und des Verhaltens der russischen Regierung anbieten. Ich weiß sehr wohl, dass dies nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtbildes darstellen kann. Doch es ist wichtig, auch diesen Blickwinkel einzunehmen, gerade weil ein solcher in der einseitigen Berichterstattung westlicher Medien bisher viel zu kurz gekommen ist.
Gestützt werden die folgenden Darstellugen zum Beispiel auch von dem CDU-Politiker Willy Wimmer. Wimmer war Mitglied des deutschen Bundestages und viele Jahre Staatsekretär im Verteidigungsministerium. Er verfügt über handfeste politische und international vernetzte Erfahrung auf höchsten staatlichen Ebenen. Nach seinen Schilderungen (zum Beispiel in einem Online-Interview von KenFM: http://www.youtube.com/watch?v=faL4zRUdQTA) wird verständlich, dass sich das aktuelle russische Verhalten vor allem aus der Bedrohung russischer Sicherheits- und Schutzbedürfnisse erklären lässt. Gespeist wird das Empfinden der Bedrohung unter anderem durch einen Vertrauensbruch von Absprachen beim Zustandekommen des Zwei-plus-Vier-Vertrages im Jahr 1990. Hier ging es um die Einbindung des wiedervereinten Deutschlands in die NATO. Bei den Verhandlungen gaben höchste politische Funktionäre des Westens und des Nato-Militärs den Sowjets klare mündliche Zusicherungen: Aus Rücksicht auf das Sicherheitsempfinden der Sowjetunion - nach der Eingliederung der ehemaligen DDR-Gebiete in die NATO - versicherten die Westmächte den Sowjets, auf jede weitere Osterweiterung des westlichen Militärbündnisses zu verzichten. Solche Vereinbarungen wurden anscheinend nicht schriftlich in den Vertrag aufgenommen, bestanden aber als klare mündliche Übereinkommen und Zusicherungen. Wimmer meint, dass dieser Sachverhalt von vielen hochrangigen Zeugen bestätig werden könnte.

Konfrontation statt Kooperation?

Trotz diese Zusicherungen sah die reale politische Entwicklung sehr schnell ganz anders aus: Innerhalb der nächsten 20 Jahren gab es eine massive Osterweiterung der NATO – unter anderem durch die Aufnahme von Polen, Tschechien, Ungarn, die baltische Staaten und andere. Wir können uns vielleicht vorstellen, dass die russische Seite durch diesen Vertrauensbruch eine große Enttäuschung erlitt. Die Angst vor einer westlichen Übermacht verstärkte sich.
Hinzukommt der Ärger und die Frustration, die Russen – und wohl auch viele westlichen, politisch sensibilisierten Menschen - erfahren haben, wenn sie den Kurswandel der weltpolitischen Orientierung der Westmächte in den letzten 15 Jahren mitbekamen: Nach Ende des zweiten Weltkrieges wurden globale Organisationen wie die Vereinten Nation (UN) und später die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) gegründet. Diese sollten durch einen Kurs der offenen Kooperation zwischen den Nationen ein friedliches Zusammenwirken garantieren und damit Kriege verhindern. Die UN, als weltweite Gemeinschaft aller Staaten, sollte dabei idealer Weise ein globales Machtmonopol innehaben und dadurch militärische Übergriffe einzelner Staaten verhindern. Doch die USA haben sich im Laufe der letzten 15 Jahre immer mehr aus dem weltpolitischen Kurs der globalen partnerschaftlichen Zusammenarbeit verabschiedet. Anstelle der Kooperation trat die Strategie der Konfrontation. Die USA vertrat ihre eigenen Ansichten und Interessen zunehmend aggressiv ohne Rücksicht auf UN oder völkerrechtliche Sichtweisen. So kam es beispielsweise zu Militäroperationen der USA und teilweise auch der NATO-Bündnispartner in Jugoslawien und im Irak, welche ohne UN-Mandat ausgeführt wurden. CDU-Mann Wimmer bezeichnet beide Militäreinsätze als "ordinäre Angriffskriege". Solche Beispiele machen deutlich, wie sich der Charakter der NATO als ein vormalig „reines Verteidigungsbündnis“ hin zu einem wesentlich aggressiverem Machtfaktor entwickelt hat. Sicher sind hier auch die Russen keine zahmen Kätzchen. Sie haben auch Einiges an schlimmer militärischer Gewalt zu verantworten. Dennoch kann man sich vorstellen, wie das immer aggressivere Vorgehen der Westmächte ein Gefühl der Bedrängnis und Unsicherheit verstärkte.

Der letzte Tropfen

Ein weiteres einschüchterndes militärisches Element stellt sicherlich der geplante US-Raketenschirm da. Dieser würde ein erneutes militärisches Ungleichgewicht zu Ungunsten Russlands befeuern. Der Tropfen, der wohl das Fass des Bedrohungsempfindens von Russland schließlich zum Überlaufen brachte, war vermutlich die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU im März 2014, das auch eine militärische Zusammenarbeit einschließt.
Versetzten wir uns angesichts dieser äußeren politischen und strategischen Entwicklungen in die Lage russischer Machthaber und Bürger: Wird da nicht verständlich, dass dies in vielen Menschen Enttäuschung, Wut und vor allem Angst ausgelöst hat? Ich finde: Ja.
Noch einmal sei an dieser Stelle betont: Eine solche Einfühlung soll keineswegs die Strategien russischen Vorgehens in der Ukraine oder Verfehlungen in anderen politischen Bereichen rechtfertigen. Wir wollen uns einfach nur einfühlen, was die „russische Seite“ empfinden, fühlen und denken könnte.
Ich verzichte aus Platzgründen in diesem Text darauf, eine solche „einfühlende Analyse“ auch für die Gefühls- und Bedürfnislage auf Seiten der Westmächte und der unterschiedlichen Gruppierungen der Ukrainer zu durchzuführen. Dies wäre genauso erforderlich! (Schon deshalb, weil berechtigte Kritik an den USA oft in einen Topf mit  blindem Antiamerikanismus und verrückten Verschwörungstheorien geworfen wird. Dies ist hier überhaupt nicht meine Absicht!!!)

Mit-Gefühl an einem Tisch

Stellen wir uns zum Schluss nur noch mal kurz vor: Wie wäre es, wenn alle Beteiligten eines Konfliktes in einem hier beschriebenen Geist an einem Tisch sitzen würden. Wie wäre es, wenn diese – vielleicht angeleitet durch einen nicht-wertenden und mitfühlenden Mediator – nicht nur darüber sprechen, was, wer, wann, wo, wie getan hat und tun will, sondern auch erkunden, wie das innere Erleben aller Beteiligten ganz genau aussieht. Wo und wie wurde Enttäuschung und Schmerz erlebt? Wer ist wovon frustriert oder worauf ärgerlich? Welche Bedürfnisse und Sehnsüchte tauchen bei den Beteiligten auf? Dürfen Verwirrung, Angst, Wut, Scham, Betroffenheit und andere aufgeladenen Emotionen zunächst Raum haben und erlebt werden – ohne dass sie sofort bewertet werden? Was treibt das Handeln der Parteien Handeln an? Was sind die „guten Absichten“ der Beteiligten für sich selbst oder die Gruppen, die sie vertreten? Welche Auswirkungen haben ihre Handlungen auf das innere Erleben der Anderen? Gibt es eine Bereitwilligkeit zum Innehalten, zur Versöhnung und eventuell sogar zur Vergebung? Was wird dazu von wem gebraucht?  Was verbindet die Konfliktparteien? Wie könnten Lösungen aussehen, die sich für alle stimmig anfühlen?
Wäre es nicht viel lebendiger, interessanter und vermutlich wirksamer, alle diese Ebenen des menschlichen Erlebens in einen Klärungsprozess einzubeziehen? Ich bin der Überzeugung: Ja!


Frieden aufs Schlachtfeld


Es mag sich utopisch anhören, solche Ansätze der Konfliktlösung auf schwere Krisen der Weltpolitik anwenden zu wollen. Vielleicht müssen wir erst damit anfangen, uns mit einer neuen Kultur der Innerlichkeit in Fällen leichterer politischer Konflikte oder des politischen Umgangs überhaupt vertraut zu machen. Und es beginnt mit Sicherheit damit, dass wir uns selbst höchstpersönlich in der eigenen Familie, mit Freunden oder Nachbarn für Innehalten und Innerlichkeit öffnen.
Zugleich bete ich für die Möglichkeit, dass sich bald schon „Globale Integrale Mediatoren-Teams“ auf die Schlachtfelder von Mord- und Totschlag dieser Welt wagen und dort Gehör finden.

Mögen alle Wesen in Frieden und Harmonie leben.

Om Shanti

Torsten Brügge, Hamburg 6.5.2014

www.bodhisat.de

 

 

 

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Sitzen am heiligen Fluss

Naturkräfte und Landschaften sind wunderbare spirituelle Lehrer. Da Betrachtungen des Außen und des Innen verschiedene Perspektiven auf das eine ungetrennte Sein darstellen, zeigen sich oft faszinierende Parallelen beider Aspekte. In meinem Blog-Beitrag „Reglose Stille – ein Berg als höchster Lehrer“ habe ich beschrieben, wie die Gestalt eines Berges Ausdruck von und Zugang zu essentieller innerer Wahrheit sein kann. Heute schreibe ich ein  paar Worte dazu, auf welche Weise dies auch für einen Fluss gilt.

 

Wahrhaft göttlich

Gerade sitze ich hier auf der Dachterrasse des „Divine Ganga Cottage“ („Landhaus der göttlichen Ganga“). Dieses Hotel liegt in einem Dorf nahe dem berühmten Pilgerort Rishikesh im Norden Indiens. Die umliegenden Berge gehören zu den ersten Ausläufern des Himalayas. Grüne Hänge ragen steil hinauf, unten schlängelt sich türkisfarben der Ganges. Felbsbrocken in allen Größen liegen still an seinen Ufern. Manche groß wie Eisenbahnwagons, andere klein wie Spielzeugautos. Vom stetigen Strom des Wassers sind ihre Oberflächen glatt geschliffen und laden zum sanften streicheln ein. Weiße Sandstrände reichtert der Ganges mit silbern funkelndem Glitter an: Die stetigen Rinnsale des der Himalaya Gletscher haben Metalle aus dem Gestein gelöst, die nun als winzige Perlen im Sand glitzern.

Wasserstand und Strömungen des Ganges ändern sich stetig, jeden Frühling gestaltet er seine Strände neu. Mal schafft er kleine Nischen von Sandablagerungen, dann hundert Meter lange elegant geschwungene Buchten.

Der Fluss selbst wechselt ständig seine Farbe. An manchen Tagen leuchtet er türkis, dann wieder färben Regenfälle in den Bergen den Strom olivgrün oder braun. An den zahlreichen Stromschnellen peitscht die Strömung weiße Schaumkronen auf die Oberfläche. Wenige Meter weiter verwandelt sich Ganga – wie der Ganges von den Indern in weiblicher Form genannt wird in eine fast wellenlose Wassermasse, die genügsam sich selbst voranschiebt. An den ruhigen Stellen spiegelt sich das Grün der Berge, schimmert das Blau des Himmels.

 Das Wasser vom Vortag schimmer türkis in einem Becken, 
heute nach Regenfällen ist es braun

Das Grundrauschen des Flusses schallt dumpf bis hinauf zur Dachterrasse. Die sanften Stellen summen kaum hörbar, erzeugen die Ahnung eines Klanges stillen Fließens. In der Ferne donnern Stromschnellen auf harten Fels. Kleine Rinnsale plätschern zart flache Steinstufen hinab, stimmen gluckernd und glucksend in den Ganga-Gesang mit ein. Eine anmutige Melodie erklingt über dem heiligen Fluss.

 

 

 

Wilde Stromschnellen mit tösendem Rauschen

Vögel zwitschern in das Konzert Gangas hinein, Affen kreischen und von der Straße blökt das Hupen der Autorikshas herüber. Wenn dann aus den Tempeln noch hinduistische Mantren herüberwehen und ein hingebungsvolles „Om Shanti“ im Tal verklingt, darf man diesen feingewebten Klangteppich wohl als wahrhaft göttlich bezeichnen. Keine menschliche Symphonie, kein Himmelsgesang würde die Szene besser untermalen. Ich könnte Stunden lang diesem Naturschauspiel zuschauen und lauschen, ohne einen einzigen Gedanken zu denken. Und genau das geschieht.

 

Weisheitsspülung

Die Wassermassen des Ganges fließen hier mit so großer Geschwindigkeit vorbei, dass selbst geübte Schwimmer eindringlich davor gewarnt werden, zu versuchen, den Fluss schwimmend zu überqueren. Immer wieder ertrinken Menschen, weil sie sich beim Bad im Ganges nur wenige Meter zu weit in den Strom vorgewagt haben.

In jedem Augenblick ergießen sich unermessliche Mengen kühlen Nasses aus den Höhen des Himalayas in die Flachebene Nordindiens. Jeder Liter Wasser ist hier nur ein paar Sekunden im Blickfeld und schon wieder weiter Flussabwärts gespült.

Ob ich mich hier oben auf einer Anhöhe oder unten direkt am Gangesstrand aufhalte, es kommt mir so vor, als würde ich zu den Füßen eines uralten, weisen Lehrers sitzen. Höchste Lehrreden flüstert er mir in einfachster Form zu: „Sieh nur: Alles fließt. Alles kommt und geht. Nichts kannst Du fernhalten. Nichts kannst du festhalten. Lass kommen, was kommt. Lass gehen, was geht. Du hast sowieso keine Kontrolle. Überlass alles dem Fluss des Lebens. Verweile als Beobachter. Sei still.“

Natürlich sind dies uralte, schon oft ausgesprochene Weisheiten. Ob im alten Griechenland des Heraklit oder in Herman Hesses Siddartha – der Fluss wurde schon immer als Lehrer der Vergänglichkeit wertgeschätzt. Hier vor meinen Augen lehrt Ganga diese Weisheit mit einer wortlosen, überdeutlichen Kraft, der man sich nicht entziehen kann. Sie spült einem die Erkenntnis vom Leben als Fluss bis in die Körperzellen hinein.

 

Fluss oder Göttin?

Vielleicht ist diese spirituelle Vermittlung der Grund dafür, dass die Hindus Ganga als Göttin der Reinigung verehren. Der Legende nach sah Göttin Ganga eines Tages vom Himmel auf die Welt herab und war schockiert über die Verblendung und Ignoranz der Menschen. Blind angetrieben von der Angst vor dem Tod und der Gier nach Vergnügen, lebten sie ein egoistisches Leben ohne Liebe. Deshalb beschloss Ganga, die Welt von diesen Unreinheiten zu befreien. In einem Schwall reinigenden Wassers wollte sie auf die Erde herabströmen und alle Falschheiten hinweg waschen. Der Gott Shiva jedoch sah ihre Absicht. Mit der Macht der Zerstörung war er vertraut und sah voraus, dass Gangas Kraft nicht nur die Unreinheit der Menschen wegschwemmen, sondern die Menschheit vollständig vernichten würde. Mitgefühl für die Menschen bewegte sein Herz. Der indischen Mythologie zufolge ließ er deshalb die Wassermassen Gangas durch die Windungen seines hohen Haarknotens fließen. So blieb ihre klärende[T1]  Wirkung erhalten, während ihr Strom sanfter und weniger zerstörerisch wurde. Dieses Bild des Zusammenwirkens der beiden Gottgestalten scheint eine perfekte Metapher für die Naturkraft des Ganges zu sein. In zahllosen Windungen ergießt sich der Strom aus den Höhen des Himalayas zu den Menschen in der nordindischen Tiefebene. Das Land um den Gangeslauf, eines der dicht besiedelsten Flusseinzugsgebieten der Welt, versorgt ein Zwölftel der Erdbevölkerung mit Wasser.

 

 

Ganga fließt über den Kopf von Shiva

 

 

 

Radikale Vergänglichkeit

Für mich persönlich vertieft der Aufenthalt am Ganges immer wieder zwei wesentliche Aspekte spiritueller Selbsterkenntnis. Der eine besteht in der Bewusstwerdung radikaler Vergänglichkeit. Hier spiegelt mir der Ganges ein äußerliches Beispiel für eine innere Dynamik wieder: Auch der Fluss unseres inneren Erlebens ist von einer elementaren Unbeständigkeit gekennzeichnet. Ob wir Sinneseindrücke, Körperempfindungen, Gefühle oder Gedanken betrachten. Keines dieser Phänome hat Bestand. Wir können das genau jetzt während des Lesens dieses Textes überprüfen: Geräusche und Töne um uns herum wandeln sich ständig. Mal hören wir etwas aus der Ferne. Dann dringen nahe Geräusche an unser Ohr. Oder wir hören das Atmen unseres Körpers. Das Bild, das wir vor unseren Augen sehen, wandelt sich. Mal sind jene Buchstaben im Fokus, mal andere. Mal wendet sich unser Kopf ein wenig. Der Bildausschnitt verschiebt sich. Der Blick schweift in die Ferne. Dann sehen wir wieder den Text nah vor uns. Ganz zu schweigen von den inneren Bildern, die während des Lesens dieses Textes in unserem Bewusstsein als Assoziationsnetzwerke aufgetaucht und wieder verblasst sind. Die begleitenden Gedanken sind ebenso gekommen und gegangen. Vielleicht waren wir gedanklich wir ganz beim Inhalt des Geschriebenen. Oder schweifte unser Geist zwischendurch zu ganz andere Themen ab? Am Ende des Textes sind wir vielleicht froh, das Gelesene wieder ganz vergessen zu dürfen.

Wie hat sich der Fluss unserer Stimmungen während des Lesens angefühlt. Gab es Momente der Berührung, der Begeisterung, der Langeweile, des Widerstandes? Welche Empfindungen hatten wir während des Lesens. Waren wir uns unseres Atmens bewusst? Oder werden wir es gerade jetzt, weil der Text darauf hinweist? Haben wir während des Lesens das leichte Kribbeln in den Beinen oder im Gesäß gespürt? Oder waren wir so vom Text in den Bann gezogen, dass sämtliche Empfindungen aus dem Bewusstsein ausgeblendet wurden?

Lässt sich irgendein Element des Erlebens – seien es Empfindung, Gefühle oder Gedanken – für mehr als ein paar Sekunden festhalten? Und selbst in diesen Sekunden, würden sich Abwandlungen der Erfahrung auftun.

Tatsächlich ist es ganz natürlich, dass Alles dahin fließt, ohne dass wir etwas greifen können. Auch der Inhalt des letzen Satzes ist mit dem folgenden schon wieder unwichtig geworden. Und das ist gut so. Wer will schon unablässig an die Philosophie der Vergänglichkeit denken wollen?

 

Einfrieren unmöglich

Es mag sein, dass eine solche Untersuchung unseres fließenden inneren Erlebens banal erscheint. Doch tatsächlich ist es ein wesentlicher Aspekt von befreiender Selbsterkenntnis, der Vergänglichkeit aller Erfahrungen auf immer feineren Ebenen auf die Spur zu kommen. Denn wie oft und wie intensiv versucht unser kleines, leidendes Ich eben doch das Unmögliche: Es setzt sich in den Kopf Empfindungen festzuhalten, Gefühle sichern oder Gedanken bewahren zu wollen. „Ich will mich immer so wohl fühlen.“ „Ich will, dass diese Erfahrung bleibt.“ „So sollte ich immer denken.“ „Es sollte sich immer so spirituell anfühlen.“

Oder wir wenden uns gegen das, was ohne unser Zutun ins Bewusstsein tritt „Nein, das will ich nicht fühlen.“ „Dieser Schmerz hätte nicht auftreten sollen.“ „Derartige Gedanken darf ich nicht haben.“ Solche Vorstellungen versuchen den Fluss der Erfahrungen zu kontrollieren und ihn in einem vermeintlichen idealen Glückszustand einzufrieren. Doch was wäre, wenn das funktionieren würde? Dann hätten wir bloß einen kalten, harten Eisklumpen in unserer Hand. Tatsächlich können wir dankbar sein, dass es die Wirklichkeit nicht zulässt, den Fluss des Lebens zu stauen, ihn anzuhalten oder umzulenken. Je mehr wir bereitwillig sind, alles fließen zu lassen, desto freier und genussvoller erfahren wir das Wunder des Lebens.

 

Nichts sieht Alles

Der andere Aspekt spiritueller Selbsterkenntnis scheint bei der Beobachtung eines Flusses verborgener. Zugleich ist er genauso wesentlich, womöglich noch wichtiger. Er liegt in der Bewusstwerdung des Beobachtens und des Beobachters. Sitzen wir am Ufer eines Flusses und betrachten die stetige Bewegung des Wassers, bleibt etwas in uns unbewegt. Dasselbe gilt, wenn wir den Fluss unserer Empfindungen, Gefühle und Gedanken gewahren. Dann erlauben wir uns, in uns selbst zu ruhen. Und die vergänglichen Erfahrungen sich selbst zu überlassen. Das entspricht einer sanften Form der Neti-Neti-Erkenntnis, auf welche die Advaita-Tradition gerne hinweist. In Kurzform lautet sie „Ich bin nicht dies und nicht jenes.“ Konkreter kann man es so beschreiben: Ich bin nicht der vorbeiziehende Strom der Erfahrungen, die ich beobachte. Ich bin nicht meine Körperempfindungen. Ich bin nicht meine Gefühle. Ich bin nicht meine Gedanken. Denn all diese Erfahrungen kommen und gehen, doch das bezeugende Gewahrsein bleibt immer gegenwärtig. Es verharrt reglos und unberührt – hier und jetzt. Dieser beobachtenden Reglosigkeit in uns nachzuspüren, ist vielleicht die tiefste Art der Selbstergründung. Was bleibt unangetastet? Was ist immer hier, während der Fluss der Lebenserfahrungen an uns vorbeizieht? In diese Richtung forschend öffnen wir uns der Weiträumigkeit unseres wahren Wesens.

In manchen spirituellen Ausrichtungen wird dieser innerste Wesenskern auch DIE QUELLE genannt. Denn wenn wir uns ganz in die reine Leere absoluten Gewahrseins zurück sinken lassen, spüren wir, wie die relative Welt aller Erscheinungen aus eben diesem leeren Urgrund hervorsprudelt. Hier kommen die scheinbar getrennten Aspekte von bewegter Erscheinungswelt und regungslosem Urgrund zusammen, bzw. wir erkennen, dass sie niemals getrennt waren. Dann können wir erspüren, dass wir beides sind: Fluss und Ufer, Erfahrungsstrom und stilles Gewahrsein. Dem „Neti neti neti“ der Nicht-Identifikation (Ich bin nicht dies …nicht das …nicht jenes), müssen wir ein „Sarva Sarva Sarva“ des Wissens um die Identität mit Allem (Ich bin alles …alles …alles) hinzufügen.

Und so fühlt es sich dann auch für mich an: Ich sehe Ganga und bin Ganga. Ich spüre das reglose Zeugesein der Leere und vibriere als Lebendigkeit von Körper, Fluss und Landschaft. Beides gleichzeitig, keines von beiden, jenseits von Worten.

 

Om Namah Ganga Jai Jai

Torsten Brügge, Rishikesh – Laxman Jhoola, 21.3.2014

 

Wenn es interessiert: Für 2015 und/oder 2016 sind weitere Indien-Retreats am Arunachala und am Ganges mit meiner Partnerin Padma und mir in Planung. Mehr dazu unter diesem Link.

Ein Blogbeitrag zum Arunachala findet sich hier.

Ein kleiner Reisebericht über einen Ausflug auf unserem letzten Ganges-Retreat 2013 findet sich hier.

 

 

 

 

 

 

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Gewaltige Naturgestalt

Immer wieder beeindruckt mich die Begegnung mit dem Berg Arunachala im Süden Indiens, an dem wir mit unserer Retreat-Gruppe gerade vor ein paar Tagen angekommen sind.
Körper und Geist fühlen sich von der 24-stündigen Reise von Hamburg, über Frankfurt und Chennai, bis hin zum Tempelort Tiruvannamalai im Inland Südindiens  noch ein wenig müde an. Doch sobald ich mich auf der Dachterrasse des Ashrams, in dem wir wohnen, hinsetze, wird die Präsenz des Berges deutlich spürbar. Von hier aus zeigt sich  ein wunderbarer Ausblick. Der Berg, der in einer Flachebenen die einzige größerer Erhöhung ausmacht, liegt in seiner vollen Pracht dar. In eher sanften Schwüngen doch mit einem deutlich aufragenden Gipfel sehe ich das Steinmassiv vor mir. Man könnte auch den Eindruck haben, man blickt auf einen gigantischen, liegenden Elefanten aus Stein oder auf eine etwas abgeflachte, aber dafür um das tausendfache vergrößerte Pyramide. Mein Körper ruht als winziger Punkt auf der Dachterrasse eines Hauses, das nur wenige hundert Meter vom Fuß des Berges auf der sich absetzenden Flachebene platziert ist.

Wie bei einem Blick in den Sternenhimmel wird sofort klar, wie winzig und unbedeutend der eigene Körper, die eigene Person, das eigene Leben, im Angesicht solch gewaltiger Naturgestalt ist.

Erdkrusten aus heißer Vorzeit

Aus geologischer Perspektive soll das Gestein des Arunachalas mit zum ältesten Teil der Erdkruste gehören. Vielleicht erstarrte hier das Magma unseres glutheißen Planeten vor Milliarden von Jahren zuerst. Inseln von festem Fels bildeten sich. Nach und nach bedeckten sie die Steinschmelze des Erdmantels mit kühlem Geröll. So bereiteten sie den Boden für das kommende Leben auf unserem Planeten. Die Erhebung des Arunachalas war vielleicht ein erstes hohes Eiland im Urzeitmeer der Lava. Selbst das mächtige Himalayagebirge soll noch wesentlich jünger sein. Es ist quasi noch grün hinter den Ohren, wenn man sein Lebensalter mit dem seines Urgroßvaters Arunachala vergleicht.
Der Berg hat wohl den Lauf der gesamten Evolution mitangeschaut. Vielleicht ist es dieses Wissen um Beständigkeit im Anblick der Vergänglichkeit aller Lebensformen, das der Berg so machtvoll ausstrahlt. Er steht einfach da. In sich selbst ruhend. Unerschütterlich. Unbewegt. Reglos. Zugleich wirkt er wie ein Mahnmal der Gegenwärtigkeit. Denn während ganze Erdepochen an Zeiträumen an ihm vorbei brausten, war und ist er stets zugegen - und wird es auch weiterhin sein. Ein lebendiges Symbol für das ewige Jetzt, in dem alle Zeiten geschehen. 

Stille Botschaft

Es kommt einem fast so vor, als würde eine Botschaft vom Arunachala ausgehen: "ICH BIN IMMER HIER." Komme, was wolle: Generationen von Pflanzen, Tieren und Menschen wurden an seinem Fuß geboren, lebten ihr Leben und starben. Den Berg kümmert es nicht. Strahlende Sonnentage trocknen seine Bäche aus, Regenmassen des Monsuns lassen sie wieder anschwellen. Der Berg lässt es geschehen. Er bleibt immer der Gleiche. Einerseits unbeteiligt, andererseits vollkommen gegenwärtig für das, was im jetzige Moment in seiner Präsenz geschieht. Nichts wird abgelehnt oder weggeschoben. Nicht wird anders gewollt, als es sich gerade zeigt. Ob Schreie von Vögeln und Affen die Luft durchdringen, die Nachtruhe alle Geräusche dämpft oder der verrückt hupender, indischer Straßenlärm die Morgenstunden einläuten; ob Menschen auf ihm neue Bäume pflanzen oder ältere abholzen; ob sie an seinen Hängen Gras schneiden oder Wiesen mit Kuhmist düngen; ob Regenschauer in wilden Sturzbächen abfließen oder bei Trockenheit Brände Teile seiner Vegetation verbrennen. Der Berg selbst bleibt still. Kein Kommentar. Keine Bewertung. Keine  Zustimmung. Keine Ablehnung. Vollkommene Akzeptanz. Betrachtet man den Arunachala aus der Ferne, steckt einen diese unbeirrbare Präsenz magisch an. Und auch wenn der ganze Berg von Nebel und Regenwolken eingehüllt ist, so weiß man doch: Er ist immer noch dar und bleibt unangetastet von allen Umständen unbeirrt der, der er immer ist.

Shiva-Bewusstsein

Eine englische Freundin, die seit 20 Jahren am Arunachala lebt, verehrt den Berg als spirituelles Kraftfeld und physische Manifestation Shivas. Sie setzt sich sehr für das Bekanntwerden des Arunachalas ein (siehe ihre Website dazu in Englisch). In einem Gespräch gestern meinte sie: "Der Arunachala steht für die Shiva-Energie. Und „Shiva" ist nur ein anderes Wort für reines Bewusstsein." Ich würde ergänzen: Die Shiva-Symbolik spiegelt den regungslosen, das weltliche Leben transzendierenden Aspekt absoluten Bewusstsein wieder. Das klassische hinduistische Symbol für Shiva ist der Shiva-Lingam: Eine vertikal ausgerichtete phallusförmige Gestalt, die oft als eine Steinsäule für religiöse Rituale verwendet wird. Im Kontrast und als Ergänzung dazu gibt es auch einen eher weiblichen Aspekt reinen Bewusstseins: Die Shakti. Sie spiegelt einen sich ins Leben ergießenden Strom  fließenden Energie wieder. Man könnte sie somit auch als eine horizontale, integrierende Kraft der Immanenz betrachten. Oft wird der Shiva-Lingam dann auch zusammen mit dem eher weiblichen Symbol eines runden Sammelbeckens (Yoni) dargestellt und als Statue geformt. Der Shiva-Lingam ruht in der Mitte der Yoni. Die Figur in ihrer Gesamtheit symbolisiert die mystische Einheit von regloser Stille und bewegtem Bewusstsein, von Transzendenz und Immanenz, vom Aufstieg zum Göttlichen und Absteigen des Göttlichen in die Welt.

Shiva Lingam

Sammelort der Weisen

Die in einer sonst flachen Landschaft ungewöhnlich aufragende Erhöhung des Arunachalas wird von Hindus schon seit Jahrtausende als Manifestation Shivas verehrt. Um seine Erscheinung ranken sich eine Menge Mythen und Legenden mit unterschiedlichsten Bedeutungen. Sicher ist, dass der Berg seit jeher eine starke Anziehung auf spirituell orientierte Menschen ausübte. Hier lebten zahllose Philosophen, Heilige, Weise und ihre Anhänger. So wird zum Beispiel von Adi Shankara (788-820), dem berühmten Begründer der Advaita Philosophie, berichtet, er habe sich am Arunachala aufgehalten und ihn verehrt. In der Neuzeit ist der Berg vor allem durch den indischen Weisen Sri Ramana Maharhsi (1879 bis 1950) bekannt geworden. Ramana erfuhr im Alter von 16 Jahren ein spirituelles Erwachenserlebnis, während dessen er sein wahres Selbst erkannte. Kurz darauf vernahm er einen inneren Ruf, zum heiligen Berg zu kommen. Er brach die Schule ab, verließ seine Familie und machte sich auf eine für damalige Verhältnisse gewagte, abenteuerliche Reise zum Arunachala. Für den Rest seines Lebens sollte dieser Ort seine Heimat bleiben. Ramana verließ den Berg nie wieder. Im Laufe der Jahre wurden viele Menschen von seinem stillen Wesen, seiner friedvollen Ausstrahlung und seiner umfassenden Weisheit berührt, inspiriert und erleuchtet.

Ich lernte zunächst die Lehre und die Gestalt Ramanas Anfang der 90er Jahre kennen - vor allem durch die lebendige Vermittlung meiner Lehrer Sri Poonjaji und Gangaji. Später erfuhr ich, dass Ramana den Berg Arunachala als seinen Lehrer verehrte. Und erst bei meinem ersten Besuch Südindiens 1999 wurde für mich spürbar, welche spirituelle Kraft der Arunachala verkörpert.

Drei kosmische Funktionen

Natürlich unterliegt jede Art von "spiritueller Kraftzuschreibung" der Ausdeutung unseres Denkens. Was wir im Außen erleben ist untrennbar verquickt mit der inneren Haltung, mit der wir uns einem Ort oder Menschen nähern. Wir erleben sozusagen die Auswirkungen unser eigenen Perspektiven. Dennoch erstaunt es mich immer wieder, wie die allgemeine mythologische Bedeutung des Arunachala, einschließlich seiner Zuschreibung zur Shiva-Energie, mit dem direkten, mystischen Erleben an diesem Ort in Einklang schwingt. Shiva wird - neben der Bedeutung als "regloses Bewusstsein" - auch mit der Kraft von Zerstörung und Vernichtung verbunden. Auf einer äußeren, relativen Ebene wird damit die Ureigenschaft der Vergänglichkeit angesprochen, die allen Objekten der phänomenalen Welt eigen ist. Im hinduistischen Verständnis wird diese in den drei kosmischen Funktionen beschrieben, die sich als Verbildlichung in den drei großen Gottgestalten illustriert finden: Brahman ist die erschaffende Kraft. Vishnu ist die erhaltende Kraft. Shiva ist die Kraft der Zerstörung. Ob wir den äußeren Kosmos, also Materie und Lebewesen, oder den inneren Kosmos, also Empfindungen, Gefühle und Gedanken, betrachten: Jedes Phänomen entsteht, scheint sich eine Weile zu halten und vergeht dann wieder. 

Heil der Zerstörung

Auf einer tieferen Ebene können wir die Shiva-Energie dabei durchaus als eine befreiende Kraft verstehen. Besonders betont wird dies im Kontext der Advaita-Philosophie und –Erfahrungslehre. Hier besteht der Schwerpunkt darin, die scheinbare Wirklichkeit der phänomenalen Welt als bloße Illusion zu entlarven. Sinn und Zweck dieser Erkenntnis liegt darin, den darunter liegenden Urgrund des ewig unveränderlichen Bewusstseins aufzudecken und wieder erfahrbar zu machen. Dabei spielt die Wirkkraft der Zerstörung - also Shiva - eine wesentliche Rolle. Denn erst wenn uns bewusst wird, dass alle Phänomene ausnahmslos der Auslöschung und damit der Vergänglichkeit unterworfen sind, verändert sich unsere Sichtweise der Wirklichkeit. Dann können wir einer Erforschung nachgehen, die auch Sri Ramana Maharshi seinen Anhängern als einen Königsweg zur Selbsterkenntnis oft Nahe gelegt hat: "Was bleibt immer dasselbe, während alle Phänome entstehen und wieder vergehen?" "Was ist beständig da, auch wenn alles verschwindet?" Wenn Ramana spirituellen Suchern solche Fragen stellte, zielte er damit auf eine Erforschung ab, die bloßes intellektuelles Nachgrübeln übersteigt. Die Fragen dienten - und dienen auch heute noch - als Eingangstor zu einer intensiven inneren Einkehr. Mit ihnen lud er ein, nach "Innen zu  tauchen" und dem beständigen ICH-ICH nachzuspüren. So bezeichnete er das bezeugende Gewahrsein, das sich der Vergänglichkeit bewusst ist, ohne ihr selbst unterworfen zu sein. Für diejenigen die dieser Selbsterforschung spürend nachgehen, kann dies eine jähe - oder auch allmähliche - Offenbarung einer überweltlichen, inneren Stille eröffnen. Shiva kann in dieser Beziehung auch als jene Energie verstanden werden, die alle verhüllenden Glaubenskonzepte an die Wirklichkeit der Erscheinungswelt zerstört und so die Erkenntnis des absoluten Bewusstseins frei sprengt.

Resonanz mit dem Lehrer

Die unerschütterliche Gestalt des Berges Arunachala stellt in diesem Zusammenhang eine Widerspiegelung des ewigen Bewusstseins im Reich der Materie dar. Und genau das wird an diesem Ort für viele Menschen spürbar. Der Berg steckt diejenigen, die ihn als Meditationsobjekt und Lehrer achten, an, in Resonanz mit dem jedem innewohnenden, unveränderlichen Bewusstseinsgrund zu treten und sich als dieser zu erfahren.

Bahnt sich diese Erkenntnis ihren Weg, wird auch deutlich, dass auch der Berg der Vergänglichkeit unterworfen ist. In makrokosmischen Dimensionen wird auch der Arunachala, samt unserer Erde, unserem Sonnensystem und allen Galaxien des Universums der Vernichtung anheim fallen. In mikrokosmischen Dimensionen erkennen wir, dass auch die Moleküle und Atome seines festen Granits keineswegs unveränderliche Formen besitzen. Sie sind ständigen Veränderungen unterworfen  und auf der subatomaren Eben sogar nichts als fließende Naturkräfte und Energien. Aus einer absoluten Perspektive muss man sogar sagen, dass auch die Existenz des ältesten und härtesten Bergmassives pure Illusion darstellt. Doch genau das ist die Funktion eines spirituellen Lehrers: Er ist eine Erscheinung in der Welt der Illusion, die als Illusion über den illusorischen Charakter der Welt hinaus auf eine höhere, ungetrennte und beständige Wirklichkeit verweist. Damit macht sich der Lehrer selbst überflüssig - im wahrsten Sinne des Wortes. Die Grenzen zwischen äußerem, hinweisendem Lehrer und dem sich im inneren erforschendem Schüler erweist sich als nie wirklich existent gewesene Trennungslinien. Es handelt sich um eine eingebildete Täuschung, wie die rot eingezeichneten Nationalgrenzen auf einem  Kontinent in einem Atlas der Erde. In der Natur gibt es diese Grenzlinien nicht. In Wahrheit ist der Kontinent eins. In Wahrheit ist alles eins.

Es ist höchster Genuss und vielleicht die größte Freude des Kosmos, wenn ein scheinbares Subjekt (Schüler) so sehr in Resonanz mit dem innersten Wesenskern eines scheinbaren Objekts (Lehrer) tritt, dass das Alles seiende stille Gewahrsein offenbar wird. Wer diese Stille einmal bewusst erfahren hat, weiß um den wesentlichen Sinn seines Daseins. Danach geht es nur noch darum, sich genau DEM hinzugeben und seine volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Om Namah Shiva Arunachala Jai Jai

 

Wenn es interessiert: Für 2015 und/oder 2016 sind weitere Indien-Retreats am Arunachala und am Ganges mit meiner Partnerin Padma und mir in Planung. Mehr dazu unter diesem Link:http://www.bodhisat.de/index.php/retreat-indien.html

Ein kleiner Reisebericht über einen Ausflug auf unserem letzten Ganges-Retreat 2013 findet sich hier: http://www.bodhisat.de/index.php/artikel-connection-v.html

 Torsten Brügge, Tirvuvannamalai, Süd-Indien 27.2.2014

 

 

 

 

 

 

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Dankbar für Dankbarkeit

- ein Zugang zu bedingungsloser Liebe


Strom von Liebe

In einer der letzten Satsang-Veranstaltungen mit meiner Partnerin Padma und mir berichtete eine Teilnehmerin über ihre Erfahrung von Dankbarkeit. Sie schilderte, dass es ihr in den letzten Wochen sehr gut ging und wie oft Wellen von Dankbarkeit für alles Mögliche in ihr auftauchten. Dieses Gut-Gehen, so sagte sie weiter, würde  nicht bedeuten, dass sich immer alles schön anfühlen würde. Manchmal tauchten auch Angst oder anderes Unbehagen auf. Doch dadurch, dass sie auch mit solch unangenehmem Erleben in Frieden sein konnte, hatte es kaum Gewicht. Es löste sich schnell auf und gab eine tiefere, darunter liegende Schicht von Dankbarkeit frei. So konnte sie sogar für das emotionale Missbehagen dankbar sein. Diesen Bericht trug sie in schlichten, fast sachlich klingenden Sätzen vor. Die Dankbarkeit war dennoch deutlich im Raum spürbar.
Für mich fühlt sich die Resonanz mit Dankbarkeit nach einem Geschmack unseres spirituellen Wesenskernes an. Kosten wir die innere Ruhe jenseits unseres Denkens, dann begegnen wir den Erfahrungen unseres Lebens von Natur aus in einer nicht-wertenden, liebevollen Haltung. Dann nehmen wir wahr, wie ein Strom von Liebe von uns aus zu den Dingen fließt und von den Dingen zu uns zurückschwappt. Letztlich ist Liebe das gefühlte Wissen um die niemals getrennte Verbundenheit allen Seins. Und das zu spüren, erweckt natürlicherweise Dankbarkeit.

Dankbar strahlen

Wir erkundeten zusammen noch ein wenig, wie das Erleben von Dankbarkeit sowohl Ausdruck als auch Zugang zum Erleben von Tiefe sein kann. Getrauen wir uns nämlich, die ganze Intensität von Dankbarkeit für ein Objekt – sei es ein Mensch, ein anderes Wesen oder einem Geschehen – zuzulassen, kann uns dies zu formloser, sich in alle Richtung verströmende Liebe führen und uns darin aufgehen lassen. Hier sind wir nicht mehr „dankbar für etwas“, sondern strahlen als Dankbarkeit selbst – so wie die Sonne aus sich selbst heraus strahlt, ohne zu wissen wohin oder worauf sie strahlt. Dies lässt uns dann die Form gebundene, auf Konkretes ausgerichtete Dankbarkeit umso inniger erfahren. Und dies erleichtert es uns wiederum, noch mehr die transzendente Erfahrung formloser Dankbarkeit zu genießen. Das Strahlen formloser Liebe reflektiert sich in den Formen und verstärkt sich selbst. Was für ein Leuchtfeuer der Herzenergie!

Wofür bin ich dankbar?

Das Gespräch erinnerte mich auch an die Einladung, die ich den Teilnehmern vor ein paar Wochen am Ende eines Retreat-Tages mit spontan ans Herzen legte. Die Grundstimmung an diesem Tag war von inniger formloser Liebe getragen. Zum Abschied sagte ich: „Wenn Ihr mögt, könnt Ihr heute - oder wann immer Ihr wollt - mit einer kraftvollen Selbsterforschungsfrage experimentieren. Diese Frage kann das Erleben von transzendenter Liebe spontan eröffnen oder intensivieren. Sie lautet: ‚Wofür bin ich dankbar?’„
Dies lädt unseren Geist ein, mit den Momenten erlebter Dankbarkeit echte Berührung aufzunehmen. Gerade in solchen dankbaren Augenblicken leuchtet transzendente Liebe oft besonders deutlich hervor. Unser Verstand mag das zunächst mit einer Ursache-Wirkungs-Erklärung kommentieren: „Ich bin dankbar, weil…“ oder „Ich bin dankbar für…“ Doch erlauben wir uns, wirklich hinzuspüren: Was wird da wo gespürt? Wie fühlt sich diese Dankbarkeit in unserem Körper und unserem Herzen an? Welcher Energiefluss bewegt sich da in uns? Wie ist es, den Nektar süßer Dankbarkeit unmittelbar zu kosten? Solches Spüren bewirkt schnell einen Brückenschlag von an Bedingungen gebundener Dankbarkeit hin zum direkten Erleben transzendenter Liebe. Schließlich spüren wir das liebvolle Strahlen, das von einem ortlosen Ort in uns ausgeht, alle Dinge erleuchtet, durchdringt und verbindet.

Gift Dankbarkeitsdruck

Um einem Missverständnis vorzubeugen. Bei dieser Erforschung geht es keinesfalls darum, Dankbarkeit künstlich zu erzeugen. Das ist das wunderbar Unbestechliche an echter Dankbarkeit: Sie kann gar nicht willentlich hergestellt werden. Gedanken wie „Ich muss jetzt Dankbarkeit empfinden“ oder „Ich sollte dankbar sein“ sind ein jäh wirkendes, tödliches Gift für jedes natürliche Dankgefühl. Dankbarkeit kann allerdings entdeckt werden und zwar gerade in jenen Momenten, in denen jede willentliche Anstrengung unseres Ichs von uns abfällt. Und diese Entdeckung hat Kraft – immer wieder, immer neu, immer frisch!

Dankbarkeitskonzert

Gerade gestern Abend kurz vor dem Einschlafen erklang die Frage „Wofür bin ich dankbar?“ ein weiteres Mal in meinem Geist. Sofort ließ sie ein seelisches Konzert mit ganzen Chorgesängen von konkreten und formlosen Dankbarkeitsmelodien in mir tönen? Die Liedtexte lauteten in etwas so:

Wöfür bin ich dankbar?

Ich bin dankbar dafür, in einem warmen Bett einschlafen zu können.

Ich bin dankbar, im Moment in Deutschland zu leben, einer der Nationen der Welt mit den wohl günstigsten geopolitischen und gesellschaftlichen Verhältnissen auf diesem Planeten.

Ich bin dankbar eine nun schon über 15 Jahre dauernde Liebesbeziehung mit meiner Lebenspartnerin Padma zu erleben, in der wir soviel Innigkeit und Tiefe teilen dürfen.

Ich bin dankbar für all die Zuwendung und Liebe, die ich von meinen Eltern, Großeltern und meiner sonstigen Familie erhalten habe. Sie alle gaben ihr Bestes, um mich glücklich zu machen.  

Ich bin unendlich dankbar für meine spirituellen Lehrer -  vor Allem Gangaji und Eli Jaxon-Bear (aber auch viele Andere)-, die mich so rückhaltlos auf die Möglichkeit eines befreiten Lebens verwiesen haben.

Ich bin dankbar für die ungeheure spirituelle Kraft Namens Sri Ramana Maharshi, der so viel Frieden und Selbsterkenntnis in die Leben vieler Menschen gebracht hat.

Ich bin dankbar, dass sich in mir selbst die Erfahrung von Freiheit und Frieden so tiefgreifend offenbaren konnte und ins Leben verkörpert hat. (Das ist vermutlich die größte aller Dankbarkeiten)

Ich bin dankbar für all die Begegnungen und den Austausch mit „spirituellen Suchern und Findern“, die Ahnungen von Wahrheit oder selbst ein tiefgreifendes Erwachen erfahren haben.

Ich bin dankbar für die vielen Herausforderungen, Tests und spirituellen Fallen, die in meinem Vertiefungsprozess der Entdeckung von Freiheit aufgetaucht sind und mir so immer neue Chance zur Bereinigung und klarerem Sehen gegeben haben.

Ich bin dankbar für meinen „Schreiblehrer“ Dietmar Bittrich, der mich ermutigte, meine Erfahrungen von Freiheit auch einen schriftlichen Ausdruck finden zu lassen und mich geduldig dazu „coachte“ einen  - vielleicht? – klaren und verständlichen Schreibstil zu entwickeln.

Ich bin dankbar für Wolf Schneider (Connection-Verlag) und andere Verleger, die meine und andere spirituelle Texte wertschätzen und sich oft mit enorm viel Engagement und Arbeit dafür einsetzen, Spiritualität einen größeren öffentlichen Raum zu verschaffen.

Diese Liste könnte lange, lange weitergehen. Sie würde immer enden mit:

Ich bin dankbar für die Dankbarkeit dieses Momentes.

Ich bin die Dankbarkeit dieses Momentes.

Und jetzt Schluss mit Dankbarkeit

Und jetzt bin ich – und vielleicht auch Du als Leser – dafür dankbar, das Thema Dankbarkeit wieder im Nirwana des Vergessens aller Begrifflichkeiten verschwinden zu lassen – außer es will von selbst noch ein wenig nachschwingen.

Torsten Brügge, Hamburg 31.1.2013

 
 

    

 

 

 

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 Gefahrenzone ade, Vertrauensgebiet juche!
- eine hypnotherapeutische Betrachtung der hamburger Ereignisse

Sicherheit durch Gefahrenzone?

Seit knapp einer Woche sind Teile des Hamburger Stadtgebietes von der Polizei zur „Gefahrenzone“ erklärt worden. In großen Bereichen Altonas, St. Paulis und der Sternschanze stehen den Beamten polizeiliche Sonderbefugnisse zu. So soll wieder Recht und Ordnung hergestellt werden. Polizisten dürfen ohne konkreten Anlass Personen und "mitgeführte Sachen“ ohne Angaben von Gründen überprüfen, Platzverweise aussprechen und Menschen in Gewahrsam nehmen. Zeit-Online schreibt: „Grund für die Maßnahme seien wiederholte Angriffe gegen Polizisten, die teils schwer verletzt wurden. Allein im Dezember sind laut Polizei dreimal Kommissariate angegriffen worden. Auch vor, nach und während einer Demonstration seien Polizisten und Einrichtungen massiv angegriffen worden.“

Tatsächlich ist der genaue Hergang, wie es zu diesen Gewalttaten kam, umstritten. Wie so oft bei solchen Auseinandersetzungen, gibt es verschiedene Ansichten darüber, wer wann unangemessen gehandelt und Gewalt provoziert hast. Erschreckend ist es allemal, wenn Menschen brutaler Gewalt ausgesetzt sind und verletzt werden. Ob sich diese Menschen auf Seiten von staatlichen Beamten oder anderen Bürgern befinden ist dabei zweitrangig. Deshalb finde ich es auch nur allzu verständlich, dass die Polizei ihren Mitarbeitern ein höheres Maß an Sicherheit und Schutz gewährleisten will. Doch ist die Einrichtung einer „Gefahrenzone“ das richtige Mittel dazu? Oder könnte dies genau das Gegenteil bewirken?

Konstruierte Wirklichkeit

Dabei geht es mir gar nicht so sehr darum, welche Befugnisse Polizeibeamte dann konkret haben und wie sich dies weiter auswirkt, sondern es fängt schon damit an, was der Begriff „Gefahrenzone“ in den Köpfen und im Erleben vieler Menschen bewirken könnte.

Betrachten wir es einmal aus der Perspektive der Hypnotherapie, deren Ansätze mittlerweile durch viele Erkenntnisse im Bereich moderne Hirnforschung bestätigt werden. Hier wird davon ausgegangen, dass jedes menschliche Erleben nicht die Repräsentation einer wirklichen Welt darstellt, sondern durch komplexe Deutungsprozesse unseres Denkens und Wahrnehmens konstruiert wird. Wie wir etwas erleben und auch welche Auswirkungen das auf unser Verhalten hat, kann man dabei als ein Muster von vielen zusammenhängenden Wahrnehmungselementen verstehen. Ein solches Element stellt dabei die schlichte Benennung dar, die wir einer Erfahrung oder einem Geschehen geben. Es ist die simple Frage: Welchen Namen geben wir dem Kind? Auch wenn wir es bewusst vielleicht gar nicht wollen, für den ersten Eindruck macht es einen wesentlichen Unterschied, ob uns von einem kleinen Mädchen erzählt wird und es dabei mit dem Namen „Alexandra“, „Mia“, „Chantalle-Jasmin“, „Edeltraut“ oder „Kunigunde“ benannt wird. Mit jedem dieser Namen verbinden wir Assoziationen, die uns unser unwillkürlicher Denkprozess blitzschnell meist in Form von dunkel erahnten Bildern einschießt. Hirnphysiologisch betrachtet ist der abstrakte, sprachlich fassbare Name „Edeltraut“ eher ein Phänomen in unserem Neokortex (Großhirnrinde). Hier wird – vereinfachend beschrieben - eher das bewusste, willkürliche und rationale Denken lokalisiert. Das Erleben von Stimmungen und Gefühle werden eher dem Mittelhirn und limbischen System zugeordnet. Hier findet in erster Linie ein bildliches, auditives, sensorische und emotionales Assoziationsnetzwerk seinen Platz. Das „Denken“ des Mittelhirns geschieht eher als ein „Bildern, Erklingen und Erspüren“ und ist zu großen Teilen unwillkürlich und auch unbewusst. Dennoch hat das Mittelhirn enorme Auswirkungen auf die Gesamtheit unserer Wahrnehmung, unseres Erlebens und Verhaltes. Oft bestimmt gerade das unwillkürliche Erleben unserer inneren Bilderwelt unser Denken und Handeln viel stärker, schneller und wirksamer als das abstraktere, willkürliche Denken. Was hat das alles mit der „Gefahrenzone“ in Hamburg zu tun? Einiges!

Brandgeruch im Mittelhirn

Für viele Menschen wird nämlich die harmlose Bezeichnung „Gefahrenzone“ unwillkürlich und oft unbewusst eine Flut von inneren Bildern anregen. Spüre ich in meinem Organismus neugierig nach welche Bilder er mit „Gefahrenzone“ verbindet, geht es heiß her: Brennende Mülltonen. Angezündete qualmende Autoreifen. Zerbrochene Fensterscheiben. Barrikaden auf den Strassen. Umherfliegende Steine. Zischende Geschosse. Rauch. Brandgeruch. Eilige Bewegungen. Vermummte Gestalten. Flüchtenden oder kämpfende Menschengruppen. Aggressive Gesichtszüge. Grobe Drohgebärden. Lautes Brüllen. Waffen. Blutende Wunden. Vielleicht sogar Schwerverletzte oder Leichen. Wer gerne Action- und Kriegsschinken mag, wird solche inneren Filme vielleicht aufregend finden.
Natürlich überzeichne ich hier etwas und jeder mag andere Assoziationen haben. Dennoch sollten wir nicht unterschätzen, wie stark sich solche archaischen Bilder auf unser Verhalten auswirken können – ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Stellen wir uns vor, wir würden mit solchen Bildern im Kopf eine Gefahrenzone in Hamburg besuchen. Wie würden wir typischer Weise umherschauen? Wie würden wir gehen und stehen? Wie würden sich unser Nacken, unsere Schultern unser Bauch anfühlen? Wie würden wir atmen? Welche Körperhaltung würden wir einnehmen? Wie würden wir Menschen um uns herum einschätzen? Worauf würden wir lauschen? Welche Gedanken würden auftauchen? Was sonst noch?
So gesehen könnte uns allein die Benennung „Gefahrenzone“ zu einem sich bedroht fühlenden, angespannten, in  Abwehrhaltung verfestigten, kleinen Monster mutieren lassen, das sich in dunklen Ecken versteckt oder bei geringer Provokation anderen Menschen direkt an die Gurgel springt.
„Gefahrenzone“ würde so zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. In einer solchen Gefahrenzone würde ich als Polizist nicht so gerne auf Streife gehen. Die Gefahr, völlig unangemessen angegriffen zu werden, wäre um ein Vielfaches erhöht.

Im Angesicht dieser Betrachtungen kann man durchaus zum Schluss kommen, dass alleine das Ausrufen einer „Gefahrenzone“ zur Eskalation von Provokation, Misstrauen und Konflikt beiträgt. Da braucht es nicht einmal eine tatsächliche Ausübung willkürlicher Macht. Deshalb finde ich es sehr verständlich, dass es schon eine Petition gibt, mit denen Bürger sich für die Aufhebung der Gefahrenzone engagieren können.

Gefahrpanik oder Vertrauensvorschuss

Meine eigene Beschäftigung mit diesem Thema führte allerdings eher zu einem unterhaltsamen inneren Prozess der Umdeutung. Mein „innerer Hypnotherapeut“ fragte sich: Was würde ich anstelle einer bedrohlichen Gefahrenzone für mich und Andere lieber haben wollen? Was wäre eine Alternative zu der Bedrohungstrance, die im Unbewussten leicht angefacht werden kann? Sofort ersetzte sich in meinem Geist der Begriff „Gefahr“ durch „Vertrauen“ und „Zone“ durch „Gebiet“: VERTRAUENSGEBIET! Ja, das wäre es doch! Ich spürte nach, mit welchen Bildern dieser Begriff in mir assoziiert war: Ich sah ein grünes Stadtgebiet. Ich roch klare Luft. Hörte sanfte Stadtgeräusch. Freundliche offene Menschen gingen leicht bekleidet durch Parks und Straßen. Einige Hilfreiche wohlwollende Polizisten standen entspannt dabei. Friedliche Demonstranten befanden sich im ruhigen Gespräch mit hohen Stadtbeamten, um neue Lösungen zu finden.
Könnte ein solcher „Vertrauensvorschuss“ sowohl von der Polizei gegenüber den Bürgern, als auch von kritischen Bürgern gegenüber der Polizei nicht viel hilfreicher sein, als gegenseitiges Misstrauen. Wie wäre es, wenn wir mit solchen inneren Assoziationen das „Hamburger Vertrauensgebiet“ besuchen würden? Wie würden sich Polizisten dort im Dienst fühlen?

Am nächsten Tag geschah in mir immer wieder eine nette Transformation. Jedes Mal wenn ich in den Nachrichten „Gefahrenzone“ hörte oder das Wort las, wandelte sich der Begriff in meinem Geist mit ein paar Zwischenschritten um: „Gefahrenzone“ wurde zu „Verfahrensgetue“. „Verfahrensgetue“ wurde zu „Vetrauensgebot“. „Vetrauensgebot“ wurde zu „Vertrauensgebiet“ Und Schwups, freute ich mich auf einen spannend entspannenden Spaziergang in St. Pauli. Jetzt wäre es fast schade, wenn die die Gefahrenzone wieder aufgehoben wird. Danke an die Hamburger Polizei!

Für die Aufhebung – so das Sein es will - bin ich aber trotzdem.

Tosten Brügge aus dem hamburger Schanzenviertel,  11.1.2013

 

 

 

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Gesundheit – ein zerbrechliches Gut

Um die Weihnachtszeit erfuhr ich von einem jungen Mann, der gerade unter den Auswirkungen einer heftigen akuten körperlichen Krankheit litt. Dabei bleibt für ihn und seine Familie im Moment ungewiss, ob diese Erkrankung nur ein akutes, vorübergehendes Ereignis darstellt oder ob es die Gefahr von wiederkehrenden Krankheitsattacken gibt. In letzterem Fall könnte dies das Leben des jungen Mannes in manchen Bereichen stark einschränken.
Ganz nebenbei: Die Gefahr einer einschneidenden Erkrankung besteht natürlich für jeden von uns. Jederzeit könnte uns ein Unfall oder ein unerwartetes Gebrechen erwischen. Das würde unsere bisherigen Lebensgewohnheiten vielleicht massiv verändern. Gesundheit ist ein zerbrechliches Gut. Das ist uns oft nicht bewusst, solange wir uns eines relativ gesunden Körpers erfreuen. Der Kontakt mit konkreten Krankheitsfällen im persönlichen Umfeld macht uns diese Möglichkeit wieder bewusst. Und darin liegt ein Geschenk, uns auf das wesentliche Heilsein auszurichten.

Zuversicht im Angesicht von Krankheit

Nachdem ich die Information bezüglich des jungen Manns bekommen hatte, arbeitete es ein wenig in mir. Zunächst stieg ein wohlwollendes kleines Gebet auf. Auf einer ganz menschlichen Ebene wünschte ich ihm, dass sich seine körperliche Gesundheit stabilisieren würde. Es wäre doch erfreulich, wenn nie wieder ein solcher Krankheitsschub auftreten würde. Das ist bei dieser Symptomatik durchaus möglich.
Doch falls nicht, wie könnte ich diesem Menschen, für den Fall dass ich einmal in Kontakt mit ihm kommen würde, anschaulich erläutern, welche spirituelle Zuversicht es auch im Angesicht akuter und auch wiederkehrender körperlicher Erkrankung gibt. Ich bin mir sehr sicher, dass es möglich ist, unter jeden Lebensumständen und im Angesicht jedes Schicksalsschlages die Dimension tiefen Friedens zu erfahren. Dieser Frieden hatte sich mir bei meinem ersten Erwachenserlebnis 1991 offenbart und war seitdem zur Grundlage meines Lebens geworden ist – auch in Phasen körperlicher Krankheit oder seelischen Schmerzes. Ich persönlich habe das Glück – bis auf einige Ausnahmen – insgesamt einen recht gesunden Körper zu haben. Deshalb beruht meine Behauptung nur teilweise auf tatsächlicher Erfahrung. Allerdings gibt es auch Beispiele für die These eines von Krankheit unberührten Friedens. Eines davon spiegelt der indische Weise Sri Ramana Maharshi (http://de.wikipedia.org/wiki/Ramana_Maharshi) wieder. Er litt die letzten Jahre seines Lebens unter zahlreichen heftigen Krankheitssymptomen: Gelenkverschleiß der Knie, eine massive Wirbelsäulenverkrümmung und Krebs. Trotzdem wird berichtet, dass er unberührt von diesen körperlichen Belastungen und Einschränkungen in tiefem inneren Frieden verweilte und dies sehr kraftvoll ausstrahlte. Das weist darauf hin, dass es eine Ebene von Heilsein gibt, für die körperliche Gesundheit nur zweitrangig ist.

Behindert glücklich

Es gibt auch jetzt herausragende Menschen, die trotz einer starken körperlichen Behinderung ein erstaunlich glückliches Leben führen und viele andere Menschen inspirieren. Thomas Quasthoff wurde als schwer Contagan-Geschädigter geboren. Dennoch gelang ihm eine sehr erfolgreiche Karriere als begnadeter Bassbariton-Sänger. Er lehrt als Professor an der Hochschule für Musik in Berlin. (http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Quasthoff)
Der heute als  Motivationstrainer arbeitende Nick Vuhicic kam 1982 in Melbourne/USA ohne Arme und Beine nur mit einem Fuß ähnlichem Ansatz mit zwei Zehen auf die Welt. Das Leiden an seiner schweren Behinderung änderte sich nach seiner Aussage, als er als junger Mann seine Behinderung nicht mehr als Strafe, sondern als Herausforderung und Auftrag Gottes begriff. Heute motiviert er viele Menschen in schwierigen Situationen zu Zuversicht und Vertrauen ins Leben. Das verbindet  er mit einer göttlichen Instanz. 2011 antwortet er in einem Interview der Stuttgarter Zeitung auf die Frage, welche Bedeutung Gott für ihn hätte: „…Ich vertraue ihm voll und ganz. …Er hilft Dir in schwierigen Situationen, wenn du selbst nicht mehr weiterweißt. Natürlich ändern sich Dinge nicht. Du kannst Dir zum Beispiel keine Arme und Beine von ihm wünschen, aber sein Frieden und seine Liebe helfen mir, damit zurecht zu kommen.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Nick_Vujicic)
Solche Beispiele machen deutlich, dass auch mit extremen körperlichen Einschränkungen ein erfülltes und friedvolles Leben möglich ist. Dabei zeigt sich ein Paradox: Aus der hingebungsvollen Akzeptanz der eigenen Einschränkungen erwächst eine ungeheure Kraft und Entschlossenheit, sein Leben voll zu leben.

Lebensfluss mit Hindernissen

Ein Verständnis der Gleichzeitigkeit von Schicksalsschlägen und der Gewissheit innerer Zufriedenheit könnte man in der Metapher des Lebensflusses beschreiben. Stellen wir uns vor, jedes individuelle Leben wäre eine Reise eines Wassertropfen von der Quelle eines Flusses bis hin zu seiner Mündung ins Meer. Jeder Lebensfluss ist dabei einzigartig. Es gibt unzählige Arten von Bächen, Flüssen und Strömen. Manche fließen den ganzen Weg vom Ursprung bis zum Ziel in recht sanften Bahnen. Für sie gibt es kaum Hindernisse oder Brüche ihres Laufes. Andere Lebensflussreisen sind unberechenbar: Ein Tropfen treibt ruhig dahin. Dann stürzt er unvermittelt einen hohen Wasserfall herab. Dabei trifft er hart auf steinigen Untergrund. Für den Tropfen fühlt es sich an als würde er fast zerbrechen. Doch es schleudert ihn nur in eine seichte Bucht. Die Strömung beruhigt sich. Alles wird wieder ruhig und friedlich. An anderen Stellen trifft der Fluss auf Hindernisse. Hier staut sich das Wasser. Es scheint als würde der Tropfen nur langsam fortkommen. Vielleicht macht es sogar den Eindruck von totalem Stillstand. Dann baut sich Druck auf. Irgendwann fegt die Wucht des Wassers das Hindernis beiseite. Der Fluss ergießt sich mit neuer Kraft in Richtung Meer. Oder der angestaute Wasserdruck lässt den Fluss einen völlig neuen, vielleicht besseren Lauf finden. An manchem Abschnitt entstehen ungewöhnliche Wirbel und Strömungen. Sie schwemmen unseren Wassertropfen sogar wieder Flussaufwärts. Dann scheinen wir gegen den Strom schwimmen zu müssen. Die Umgebung leistet uns Widerstand. Schließlich wendet sich auch hier wieder die Strömung in Richtung Meer. Plötzlich werden wir leicht von den Wassermassen getragen und geleitet. Es fühlt sich an, als würden wir einfach dahin schweben. Wir überlassen uns dem Strom. Er bringt uns sicher ans Ziel.
Wir könnten uns noch viele andere Wege eines Wassertropfens von der Quelle bis ins Meer vorstellen. Es gibt unendlich viele. Doch ist es nicht erstaunlich? Irgendwie findet jeder Wassertropfen – früher oder später - seinen Weg in den Ozean.

Ewiges Wasser

Und es gibt noch Erstaunlicheres: Der immerwährende Kreislauf des Wassers. Die Atome aus denen unser Wasser besteht sind älter als die Erde selbst. Man vermutet, dass sie zwischen 5 und 10 Milliarden Jahre alt sind. Die Menge des Wassers auf der Erde ändert sich – außer bei Meteoriteneinschlägen – nicht. Das Wasser zirkuliert in einem ewigen Kreislauf: Von den Meeren und Seen des Planeten verdunstet es, steigt als Wasserdampf auf und hält sich ein paar Tage in der Atmosphäre. Dann regnet es ab und fließt wieder über die Flüsse in die Meere. Bis sich das gesamte Wasser in allen Weltmeeren vollständig erneuert hat vergehen im Mittel nur ca. 2600 Jahre. Die meisten Wassermoleküle haben also im Laufe der Erdgeschichte schon Millionen mal den Weg von einer Wasserquelle an Land zurück ins Meer gemacht.

Gelassen im Fluss

Der Metapher vom Lebensfluss eines Wassertropfen gibt das eine schöne Portion Gelassenheit: Wie wäre es, wenn sich der Tropfen auf seine ureigenste Natur des Wasserseins besinnen würde? Wenn er sich wieder mit dem Wissen verbindet, dass er aus der formlosen Wassermasse in Seen und Ozeanen hervorgegangen ist? Zu ihrem eigenen Vergnügen hat sie sich in die Formen von Wassertopfen aufgespalten, um auf diese Weise vielfältige Reisen anzutreten. Doch egal was einem Wassertropfen gerade zustößt, ob er gerade seicht dahin fließt, im brackigen Schlamm steckt oder hart auf die Steine in Stromschnellen geschlagen wird, er ist und bleibt das ewige Wasser des Lebens! Die Reisewege mögen manchmal gar nicht harmonisch erscheinen. Und es gehört auch dazu, dass der Tropfen seine ursprüngliche Natur vergisst. Deshalb ist es nur verständlich, dass er manchmal wütend darauf ist, umhergeschmissen zu werden. Vielleicht hat er zeitweise Angst vor der nächsten unberechenbaren Flussbiegung oder verzweifelt daran, dass der Fluss scheinbar ins Stocken gerät. Zugleich kann sich der Tropfen jederzeit seiner wahren Natur besinnen und in sich spüren, wie er das ewige ungetrübte Wasser ist. Ausgestattet mit dieser Gewissheit, wäre es nur noch zweitrangig, ob der Lebensfluss des Tropfens in sanften Schwüngen oder mit harten Brüchen strömt. Er könnte in Frieden mit Allem sein. Und wenn er es wäre, könnte das eine wunderbare Botschaft für Andere ausstrahlen: „Hey, ich bin das Wasser des Meeres - schon jetzt. Und Du bist es auch – schon jetzt. Egal wo und wie es uns gerade herumwirbelt.“ Allein diese Erkenntnis könnte das Leben des Tropfens zu einem vollkommen Sinn erfüllten Leben machen.
Vielleicht würde ich dem jungen Mann diese Geschichte von den Tropfen im Lebensfluss und vom ewigen Wasser erzählen. Und vielleicht würde er ahnen, dass es sich lohnt nach innen zu schauen und herauszufinden, was unseren wahren Wesenskern ausmacht. Dann wird es möglich, mit Allem in Frieden zu sein.

Torsten Brügge, Baden-Baden 2013

 

 

 

 

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